Nur noch Raser auf Schweizer Strassen?

BGE 6B_1399/2016: Nicht jeder Crasher ist ein Raser (gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer fuhr am 19. November 2013 gegen 7:15 Uhr auf der A8 in Richtung Interlaken. Um einen vor ihm auf der einspurigen und richtungsgetrennten Autostrasse fahrenden Personenwagen zu überholen, fuhr er auf den Rastplatz Därligen. Bei der Ausfahrt des Rastplatzes verlor er die Kontrolle über sein Fahrzeug und schleuderte quer über die Autostrasse. Dabei durchbrach er die Mittelleitplanke und kam auf der Gegenfahrbahn zum Stillstand, wo er mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidierte. Die obere kantonale Instanz (Obergericht BE) verurteilt den Beschwerdeführer wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung. Das BGer heisst die Beschwerde dagegen gut.

E. 1.3. zum Rasertatbestand: „Nach Art. 90 Abs. 3 SVG wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren bestraft, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen.“ „Die Vorinstanz erwägt, das Verhalten des Beschwerdeführers enthalte Elemente aller drei Regelbeispiele von Art. 90 Abs. 3 SVG.“

E. 1.3.1./2. zur Geschwindigkeit: Grds. sind die Limiten in Art. 90 Abs. 4 SVG zur Beurteilung heranzuziehen. Eine krasse Geschwindigkeitsüberschreitung kann allerdings auch vorliegen, „wenn eine knapp unterhalb der Grenzwerte liegende Geschwindigkeitsüberschreitung im Vergleich mit anderen Missachtungen der Höchstgeschwindigkeit als besonders gefährlich erscheint, etwa aufgrund besonders schwieriger Strassen- und Verkehrsverhältnisse (vgl. BGE 6B_148/2016). Die Höchstgeschwindigkeit vor Ort war sowohl auf der Autostrasse, als auch auf dem Rastplatz 80kmk/h, die der Beschwerdeführer leicht überschritt. Den Grenzwert von 140km/h erreicht er bei weitem nicht. Er erfüllt dieses Tatbestandsmerkmal nicht.

E. 1.3.3. zum waghalsigen Überholen: „Damit ein Überholen waghalsig im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG ist, muss es nicht nur gewagt, sondern unsinnig sein (BUSSY/RUSCONI/JEANNERET/KUHN/MIZEL/MÜLLER, Code suisse de la circulation routière commenté, 4. Aufl. 2015, N. 5.2 zu Art. 90 SVG). Bei Überholmanövern wird typischerweise und in erster Linie der Verkehr auf der Gegenfahrbahn gefährdet. Bei der vom Beschwerdeführer vorgenommenen Fahrt über den Rastplatz fehlt es – unabhängig davon, ob er das vor ihm fahrende Auto überholen wollte – an einer derartigen Gefährdung des Gegenverkehrs. Demnach liegt auch kein waghalsiges Überholen im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG vor.“

E. 1.3.4. zum Rennen: „Eine Teilnahme an einem unbewilligten Rennen setzt voraus, dass mindestens zwei Verkehrsteilnehmer ausdrücklich oder konkludent einen Geschwindigkeitswettstreit vereinbaren (GERHARD FIOLKA, Grobe oder „krasse“ Verkehrsregelverletzung? Zur Auslegung und Abgrenzung von Art. 90 Abs. 3-4 SVG, Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2013, S. 346 ff., S. 366; WOHLERS/COHEN, a.a.O., S. 12). Eine derartige Abrede zwischen dem Beschwerdeführer und dem Lenker des überholten Fahrzeugs liegt nicht vor. Von der Teilnahme an einem Rennen kann daher keine Rede sein.“

E. 1.3.6: „Ein blindes Befahren des Rastplatzes mit relativ hoher Geschwindigkeit wäre prinzipiell geeignet, den Tatbestand der in Art. 90 Abs. 3 SVG enthaltenen Generalklausel zu erfüllen.“ Dies war aber vorliegend nicht erstellt.

Dieses Urteil widerspiegelt die generelle Tendenz der Strafbehörden, Autofahrer härter anzupacken. Die Verschärfung des Geschwindigkeitsschematismus auf Autobahnen ist ein weiteres Beispiel. Nur das Bundesgericht steht (noch) für eine zurückhaltende Anwendung des Rasertatbestandes (vgl. auch BGE 6B_876/2016).

 

Die Dashcam-Odysee geht weiter…

BGE 6B_758/2017: Die Dashcam-Odyssee geht weiter

Der Beschwerdeführer wurde aufgrund von Indizienbeweisen wegen zu geringem Abstand und dem Überfahren einer doppelten Sicherheitslinie auf kantonaler Ebene Verurteilt. Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Feststellung des Sachverhaltes. Zu seinen Ungunsten wirken sich hauptsächlich die Aussage des vorfahrenden Lenkers aus, dass er das Fahrzeug zu ca. 90% selber lenkt und Dashcam-Aufnahmen, die im erstinstanzlichen Verfahren noch berücksichtigt wurden, vor der Rechtsmittelinstanz jedoch nicht mehr. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 1.2. zu den Ausführungen der Vorinstanz: Zunächst wird festgehalten, dass die Aussagen des anderen Fahrers glaubhaft seien und eine Verwechslung ausgeschlossen werden könne. Auch wenn theoretisch andere Personen mit dem Auto des Beschwerdeführers fahren können, so fahre er nach eigenen Angaben doch zu 90-95% das Auto selbst. Auch ein schlüssiges Alibi konnte der Beschwerdeführer nicht liefern. „Zu den Dashcamaufzeichnungen hält die Vorinstanz fest, es erscheine zumindest problematisch, das Geschehen auf der Strasse ständig zu filmen. Der Anzeigeerstatter sei aber berechtigt gewesen, die Dashcam in Betrieb zu nehmen bzw. laufen zu lassen, nachdem ihn der Beschwerdeführer mit seinem Fahrzeug bedrängt habe. Mit anderen Worten habe die Aufzeichnung des Überfahrens der doppelten Sicherheitslinie durch den ersten deutlich gewichtigeren Verstoss einen Anlassbezug erhalten, sodass keine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung und damit auch kein Beweisverwertungsverbot für den zweiten Verstoss vorliege (vgl. angefochtenes Urteil, E. 4.5.4 S. 8 f.).“

E. 1.3. zum Willkürverbot

E. 1.4.1f. zur vorinstanzlichen Beweiswürdigung: “ Ausschlaggebend war, dass er der Hauptlenker des Tatfahrzeugs war, die Täterbeschreibung des Anzeigeerstatters auf ihn zutrifft, Ersterer ihn auch als Täter identifizierte und er nichts vorbrachte, was für seine Abwesenheit am Tatort zur Tatzeit sprechen könnte.“ „Kommt die Vorinstanz anhand von Indizien zum Schluss, der Beschwerdeführer sei der Lenker des Fahrzeugs gewesen, ist auch dessen Vorwurf unbegründet, der Grundsatz „in dubio pro reo“ sei verletzt.“

E. 1.4.3 zur Dashcam: „Die Dashcamaufzeichnungen des Anzeigeerstatters erachtet die Vorinstanz lediglich für den Zeitraum nach der groben Verletzung der Verkehrsregeln durch Missachtung von Art. 34 Abs. 4 SVG bzw. für den Schuldspruch der im Nachhinein erfolgten einfachen Verletzung der Verkehrsregeln durch Überfahren der doppelten Sicherheitslinie als verwertbar. Die Frage der Verwertbarkeit der Aufzeichnungen für den Zeitraum vor dem Bedrängen durch den Beschwerdeführer lässt sie entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers offen und stellt im Sinne seiner vor den Vorinstanzen noch vertretenen Auffassung nicht darauf ab (vgl. angefochtenes Urteil, E. 4.5.4 S. 8 f.). Konsequenterweise würdigt die Vorinstanz die Aufzeichnungen für diesen Zeitraum nicht. Darin liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, da die Vorinstanz begründet, weshalb sie auf die Aufzeichnungen insoweit nicht abstellt. Die Frage der Verwertbarkeit der Dashcamaufzeichnungen kann auch vor Bundesgericht offenbleiben. Entscheidend wäre von vornherein nicht die Reaktion bzw. Einschätzung der Situation durch den Anzeigeerstatter, sondern die durch den ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren geschaffene erhöhte abstrakte Gefahr.

Zwar lässt das Bundesgericht die Frage der Dashcamaufnahmen als Beweis offen, es scheint aber in die Richtung zu gehen, dass wenn die Aufnahme ab einem Anfangsverdacht beginnt, diese Verwertbar sein soll, zumindest nach der Meinung der Vorinstanz. Die Frage nach der Verhältnismässigkeit wird nicht beantwortet. Auch wenn dies im Rahmen der Beweisverwertung sinnvoll sein mag, besteht hier immer noch ein grosses Missbrauchspotential. Wer garantiert, dass die Aufnahme einer dauernd laufenden Dashcam nicht nachträglich am Computer zurecht geschnitten wird mit der nachträglichen Behauptung, dass mit der Videoaufnahme erst mit dem Anfangsverdacht begonnen wurde…

Klassisches Rechtsüberholen bleibt SVG 90 II

BGE 6B_558/2017: Klassisches Rechtsüberholen ist SVG 90 II (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer überholt auf der Autobahn einen Autofahrer rechts, indem er ausschwenkt, rechts vorbeifährt und wiedereinbiegt auf die Überholspur. Das BGer bestätigt die Verurteilung wegen SVG 90 II.

E. 1.2. zu den obj. und sub. Voraussetzungen von SVG 90 II u.a.: „Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen (Urteil 6B_1004/2016 vom 14. März 2017 E. 3.2 mit Hinweis).“

E. 1.3. zum Rechtsüberholverbot

E. 1.5. zur Subsumption: „Wie dargelegt, ist grundsätzlich von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Vorliegend sind keine Gründe ersichtlich, die das Verhalten des Beschwerdeführers subjektiv weniger schwer erscheinen liessen.“

 

Die Bindung der Behörden

BGE 1C_250/2017: Bindung an Strafurteil durch die Verwaltungsbehörde (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer schweren Widerhandlung und den Warnentzug von drei Monaten. Er wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er auf einem Autobahnzubringer nur einen Abstand von 0.56 Sekunden eingehalten hatte. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 2.1. zur Widerhandlungsschwere: „Leichte und mittelschwere Widerhandlungen werden von Art. 90 Ziff. 1 SVG als einfache Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II 138 E. 2.4 S. 143). Gemäss Art. 16c SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren Widerhandlung, welche einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG entspricht (BGE 132 II 234 E. 3 S. 237), wird der Führerausweis für mindestens drei Monate entzogen (Abs. 2 lit. a).“

E. 2.3. zur Bindung: „Ein Strafurteil vermag die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu binden. Allerdings gebietet der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden, weshalb die Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahme von den tatsächlichen Feststellungen des Strafrichters nur abweichen darf, wenn sie Tatsachen feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn der Strafrichter bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt, namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat. In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts – namentlich auch des Verschuldens – ist die Verwaltungsbehörde demgegenüber frei, ausser die rechtliche Qualifikation hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II 447 E. 3.1; 127 II 302 nicht publ. E. 3a; 124 II 103 E. 1c/aa und bb). Auch in diesem Zusammenhang hat er jedoch den eingangs genannten Grundsatz (Vermeiden widersprüchlicher Urteile) gebührend zu berücksichtigen (Urteil 1C_424/2012 vom 14. Januar 2013 E 2.3).“

E. 3.2. zur Subsumption: „Es gibt keine Hinweise dafür, dass andere Fahrzeuge knapp vor ihm in seine Spur eingeschwenkt wären und ihm dadurch jedenfalls zeitweilig die Einhaltung des Sicherheitsabstands verunmöglicht hätten.“

Die in E. 2.1. aufgestellte Zuordnung ist nur dann anwendbar, wenn die Strafbehörden keinen Fehler gemacht haben. Andernfalls sind die Strassenverkehrsämter frei, den Sachverhalt anders zu würdigen.

 

BGE 6B_937/2017: Mitteilung eines Urteils an das Strassenverkehrsamt (Repetitorium)

Der Beschwerdeführer wehrt sich mit Beschwerde gegen die Mitteilung eines Strafurteils an das StVA LU. Er will damit logischerweise das Administrativmassnahmenverfahren verhindern.

Das BGer erinnert in E. 2: Der Beschwerdeführer verkennt, dass die Strafbehörden (also die Strafverfolgungs- und Strafgerichtsbehörden) der für den Strassenverkehr zuständigen Behörde des Kantons, in dem der Täter wohnt, Verzeigungen wegen Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften und auf Verlangen im Einzelfall Urteile wegen Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften melden müssen (Art. 123 Abs. 1 lit. a und b der Verkehrszulassungsverordnung [VZV; SR 742.51] i.V.m. Art. 104 SVG).