Vom Halter zum Lenker

BGE 6B_243/2018: Geschlecht, Alter und Statur reichen aus

Dem Beschwerdeführer wird u.a. vorgeworfen, auf der Autobahn mit zu geringem Abstand gefahren zu sein und das vorfahrende Auto rechts überholt zu haben. Erstinstanzlich wurde er freigesprochen, das Obergericht hingegen hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch gut. Der Beschwerdeführer bestreitet seine Lenkerschaft. Es geht um die Beweiswürdigung.

Der Beschwerdeführer hat seine Vergehen zunächst an einer polizeilichen Einvernahme zugegeben. Da er allerdings über das Bestehen eines Beweisvideos getäuscht worden sei, erachtet er diese Einvernahme als nicht verwertbar (vgl. Art. 140 i.V.m. Art. 141 StPO). Die Vorinstanz war der Meinung, dass es auf die Einvernahme gar nicht ankommt, da der Beschwerdeführer Halter des Fahrzeuges ist und zwei Zeugen den Lenker als „40- bis 50- bzw. 40- bis 45-jährigen, leicht übergewichtigen bzw. stämmigen Mann“ beschrieben haben, der glatzköpfig gewesen sein soll (E. 1.1./2.).

Das BGer lässt offen, ob die Einvernahme verwertbar ist oder nicht, denn „nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die Haltereigenschaft bei einem Strassenverkehrsdelikt, das von einem nicht eindeutig identifizierbaren Fahrzeuglenker begangen worden ist, ein Indiz für die Täterschaft sein (BGE 6B_791/2011 E. 1.4.1 mit Hinweis; BGE 6B_812/2011 E. 1.5; BGE 6B_628/2010 E. 2.3). Das Gericht kann im Rahmen der Beweiswürdigung ohne Verletzung der Unschuldsvermutung zum Schluss gelangen, der Halter habe das Fahrzeug selber gelenkt, wenn dieser die Tat bestreitet und sich über den möglichen Lenker ausschweigt (BGE 6B_914/2015 E. 1.2; BGE 6B_812/2011 E. 1.5; BGE 6B_439/2010 E. 5.1; BGE 1P.641/2000 E. 4). Nichts anderes kann gelten, wenn der Halter zwar Angaben zum Lenker macht, diese aber unglaubhaft oder gar widerlegt sind (BGE 6B_748/2009 E. 2.2 e contrario; BGE 1P.428/2003 E. 4.6.2; BGE 1P.641/2000 E. 4 e contrario; E. 1.4.2).

Zwar gibt es im ordentlichen SVG-Strafverfahren keine Halterhaftung. Von der Haltereigenschaft als Indiz auf die Täterschaft zu schliessen ist indessen nicht willkürlich (E. 1.4.4.). Ebenso konnten Zeugen die Statur, das Alter und das Geschlecht des Lenkers beschreiben, die mit dem Beschwerdeführer übereinstimmen. Schliesslich war auch das Aussageverhalten des Beschwerdeführers nicht lupenrein. Die Beweiswürdigung der Vorinstanz war damit nicht willkürlich (E. 1.4.5.).

Das „in dubio“-Prinzip wird hier relativ stark aufgeweicht zu Gunsten einer einfacheren Strafverfolgung von Autofahrern. Ebenso scheint eine Art Beweislastumkehr stattzufinden, in welcher der Autofahrer die Beweise für seine Unschuld liefern muss und nicht die Strafbehörden den Beweis für die Schuld. Übergewichtige, mittelalterliche Männer gibt es in der Schweiz wohl einige…

 

Die rechtliche Würdigung im Administrativverfahren

BGE 1C_26/2018: Das StVA hat freie Hand (gutgh. Beschwerde des StVA)

Der Beschwerdegegner fuhr auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeit von ca. 100km/h mit einem Abstand von ca. 10m zum vorfahrenden Fahrzeug. Dafür wurde er zunächst wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, nach Einsprache erfolgte eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung. Die Kantonspolizei BS, zuständig für Administrativmassnahmen, verfügte einen Ausweisentzug von drei Monaten. Das Verwaltungsgericht hingegen ging von einer mittelschweren Widerhandlung aus und änderte den Ausweisentzug auf einen Monat. Die Kantonspolizei führt gegen dieses Urteil erfolgreich Beschwerde.

Im vorliegenden Fall geht es hauptsächlich um die Bindung der Administrativbehörde an das Strafurteil. An den Sachverhalt ist die Administrativbehörde grds. gebunden. „In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts – namentlich auch des Verschuldens – ist die Verwaltungsbehörde hingegen frei, ausser die rechtliche Qualifikation hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat. Auch in diesem Zusammenhang hat sie jedoch den eingangs genannten Grundsatz, widersprüchliche Urteile zu vermeiden, gebührend zu berücksichtigen. Insbesondere hat sich die Verwaltungsbehörde bezüglich der Würdigung des Verschuldens grundsätzlich einer vertretbaren Ermessensausübung des Strafrichters anzuschliessen“ (E. 2.4.).

Zum Abstand auf Autobahnen bei regem Verkehrsaufkommen sagt das BGer, dass „der Nachfolgende die vor ihm liegende Verkehrssituation ohne Schwierigkeiten überblicken [kann], womit er es in der Hand hat, seine Geschwindigkeit den Umständen anzupassen und dadurch einen situationsgerechten Abstand herzustellen oder einzuhalten und eine Behinderung oder Gefährdung der Verkehrsteilnehmer, insbesondere des Vorausfahrenden selber, zu vermeiden“ (E. 5.1.). Grds. gilt dabei die „Zwei-Sekunden-Regel“, grob bzw. schwer wird es ab einem Abstand von weniger als 0.6s (E. 5.2.). Das BGer stellt allerdings fest, dass „es sei bei starkem Verkehrsaufkommen nicht immer einfach [sei], diese Abstände stets zu wahren, weil sie von anderen Verkehrsteilnehmern für Spurwechsel ge- bzw. missbraucht und dadurch verkleinert würden.“ In Abweichung der obigen Faustregeln hat es deshalb Abstandsunterschreitungen auch schon als leicht oder mittelschwer beurteilt (vgl. BGE 1C_183/2013 E. 4; Verwarnung in BGE 1C_413/2014). Allerdings hat es auch schon schwere Widerhandlungen bestätigt, obwohl im Strafverfahren eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung erfolgte (z.B. BGE 1C_250/2017; zum Ganzen E. 5.3.).

Da im vorliegenden Fall die Abstandsunterschreitung nicht nur kurzzeitig war und mit einem Lieferwagen erfolgte, bestätigt das BGer die Annahme einer schweren Widerhandlung (E. 5.4.).

E. 6. zum Grundsatz „ne bis in idem“.

Staatshaftung nach Unfall bei Führerprüfung?

BGE 2C_94/2018: Haftet der Staat für einen Unfall bei der Führerprüfung?

Das BGer musste in diesem Entscheid die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung beantworten, ob der Staat haftet, wenn an während der Führerprüfung, bei welcher ein Prüfungsexperte mitfährt, ein Unfall geschieht.

Im vorliegenden Fall konnte der Prüfungsexperte trotz Betätigung der Doppelbremspedale die Kollision des Probanden mit einem Verkehrsschild nicht mehr verhindern. Am Prüfungswagen der Fahrschule und Beschwerdeführerin und dem Verkehrsschild entstand ein Sachschaden von CHF 1’946.75, welchen die Fahrschule vom Staat zurückfordert.

E. 3. zur kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzgebung: Das BGer stimmt der kantonalen Instanz zu, dass dem Prüfungsexperten kein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden kann, womit die Voraussetzungen des Haftungsgesetzes bzw. §75 der Kantonsverfassung nicht erfüllt sind. Die Vorinstanz hat den Sachverhalt nicht willkürlich gewürdigt. Diese ging letztlich davon aus, dass ein Fehler des Fahrlehrers nicht beweisbar war.

E. 4. zur Rechtsfrage: Die Beschwerdeführerin moniert, dass bei Führerprüfungen regelmässig ein Beweisnotstand zu Lasten der Fahrschulen herrsche, weil kaum je eine Drittperson bei der Führerprüfung dabei ist. Damit werde die Staatshaftung ausgehebelt und Fahrschulen müssen die entstandenen Schäden zumeist selber tragen.  Die Beschwerdeführerin fordert analog zu Art. 71 SVG eine Erweiterung des Halterbegriffes auf den Staat während Führerprüfungen, damit sich der Staat mangels Beweisen nicht von der Haftung drücken kann.

Bund und Kantone unterstehen als Halter von Motorfahrzeugen den Haftpflichtbestimmungen des SVG (vgl. Art. 73 SVG). Grds. haftet der Halter eines Fahrzeuges für Personen- oder Sachschaden (vgl. Art. 58 SVG). Die Halterhaftung ist allerdings ausgeschlossen bzw. das Obligationenrecht anwendbar bei der Haftungsfrage im Verhälntis zwischen Halter und dem Eigentümer eines Fahrzeuges für Schaden an diesem Fahrzeug (vgl. Art 59 Abs. 4 lit. a SVG). Insofern bestünde keine Haftung des Staates gemäss Art. 58 SVG für den Schaden am Prüfungsfahrzeug, auch wenn der Staat als Halter gelten würde (E. 4.1. und 4.2.).

Der Staat müsste als Halter aber für das beschädigte Strassenschild haften. Grds. gilt im SVG der materielle Halterbegriff, d.h. Halter ist nicht derjenige, der im Fahrzeugausweis eingetragen ist (also der formelle Halter), „sondern derjenige, auf dessen eigene Rechnung und Gefahr der Betrieb des Fahrzeugs erfolgt und der zugleich über dieses und allenfalls über die zum Betrieb erforderlichen Personen die tatsächliche, unmittelbare Verfügung besitzt. Nach dem Interessen- oder Utilitätsprinzip soll die kausale Haftung aus einer Gefährdung insbesondere tragen, wer den besonderen, unmittelbaren Nutzen aus dem gefährlichen Betrieb hat.“ „Hingegen ist jemand, dem ein Fahrzeug freiwillig nur zum gelegentlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt wird, ohne dass er Betriebskosten zu tragen hätte, nicht Halter.“

Auch wenn der Prüfungsexperte nach Art. 15 Abs. 2 SVG für eine gefahrlose Lernfahrt zu sorgen hat, erfolgt die Prüfungsfahrt hauptsächlich im Interesse des Probanden bzw. im kommerziellen Interesse der Fahrschule. Die (mind.) 60-minütige Prüfungsfahrt begründet beim Staat im Lichte der Rechtsprechung keine Haltereigenschaft (E. 4.3.2.).

Auch Art. 71 SVG ist nicht auf die Prüfungssituation anwendbar, da der Staat kein Unternehmer im Mororfahrzeuggewerbe ist und auch keine Arbeiten am Fahrzeug selbst durchführt (E. 4.4.).

E. 4.5. Gesetzeslücke: Zum Schluss stellt sich das BGer die Frage, ob hier eine Gesetzeslücke besteht, die gefüllt werden muss. „Eine echte Gesetzeslücke liegt vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann“ (E. 4.5.1.).

Nur weil das Ergebnis einer Haftungsfrage ungewöhnlich ist, besteht noch keine Lücke im Gesetz. Nach dem Grundsatz „casum sentit dominus“ trägt der Eigentümer grds. die Schäden an seiner Sache. Es gibt keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass für jeden eingetretenen Schaden irgend jemand haften muss. Es ist rechtsstaatlich nicht unhaltbar, dass in der vorliegenden Konstellation die Fahrschule den Schaden selber tragen muss. Es besteht kein Anlass für eine Staatshaftung via Lückenfüllung (E. 4.5.2.).

 

 

 

Exkurs Versicherungsrecht

Autofahrer müssen sich auch immer mit Versicherungen herumschlagen. Das Gesetz schreibt eine obligatorische Haftpflichtversicherung vor (vgl. Art. 63 SVG). Aus dem Versicherungsvertragsverhältnis ergeben sich teilweise weitreichende Folgen für die Autofahrer, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen.

BGE 4A_104/2018: Anzeigepflichtsverletzung, Frist nach Art. 6 Abs. 2 VVG

Um eine Motorfahrzeugversicherung abzuschliessen, stellt der Autofahrer einen Antrag bei der Versicherung, in welchem er div. Fragen beantworten muss, z.B. „Waren Sie schon einmal versichert?“ oder „Hatten Sie bereits frühere Schadenfälle?“. Eine falsche Antragsdeklaration wird oft als „Kavaliersdelikt“ betrachtet oder erfolgt gar aus Unachtsamkeit. Doch kann sie insb. im Schadenfall ungünstige Konsequenzen haben, wenn die Versicherung aufgrund falscher Antragsdeklaration vom Vertrag zurücktritt und allfällige Leistungen verweigert oder vom Autofahrer zurückfordert. Die Versicherung kann innert vier Wochen vom Vertrag zurücktreten, nachdem Sie von der Verletzung der Anzeigepflicht Wind bekommen hat. Das BGer beantwortet im obigen Entscheid, wann diese vier Wochen beginnen.

E. 2.1.: Die Frist beginnt erst zu laufen, wenn der Versicherer zuverlässige Kunde von den Tatsachen erhält, aus denen sich der sichere Schluss auf eine Verletzung der Anzeigepflicht ziehen lässt; blosse Vermutungen, die zu grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit drängen, dass die Anzeigepflicht verletzt ist, genügen nicht. Der Versicherer muss vollständig über alle Punkte orientiert sein, welche die Verletzung der Anzeigepflicht betreffen, d.h. er muss darüber sichere, zweifelsfreie Kenntnis erlangt haben. Grds. müssen Urkunden vorliegen.

Im vorliegenden Fall hat die Versicherung zunächst telefonisch von der früheren Versicherung der Beschwerdeführerin Details erhalten, welche auf eine falsche Antragsdeklaration hindeuteten. Später erfolgte die schriftliche Bestätigung der früheren Versicherung. Erst mit dieser verfügte die aktuelle Versicherung über sichere und zuverlässige Kenntnis der Anzeigepflichtsverletzung. Ab dem Erhalt dieser schriftlichen Bestätigung lief demnach die vierwöchige Frist und nicht schon ab der telefonischen Kenntnisnahme.

 

BGE 4A_20/2018: Der betrügerische Versicherungsanspruch, Art. 40 VVG

Mal kurz ein Streichholz in den Tank der alten Karre und schon hat man Fersengeld fürs neue Leasingfahrzeug. Versicherungsbetrug ist in Mode, doch wann darf eine Versicherung ihre Leistungen verweigern bzw. wann liegt ein betrügerischer Versicherungsanspruch vor?

E. 2.5. zum Verhältnis zum StGB: Die Tatbestände von Art. 40 VVG und Art. 146 StGB sind nicht deckungsgleich. „Einerseits gelten für den strafrechtlichen Betrug gemäss Art. 146 StGB andere Voraussetzungen als für die betrügerische Begründung des Versicherungsanspruchs im Sinne von Art. 40 VVG. Trotz des Ausdrucks „betrügerisch“ im Marginale ist Art. 40 VVG ausschliesslich nach zivilrechtlichen Kriterien zu beurteilen (Urteil 4A_382/2014 vom 3. März 2015 E. 5.4 mit Hinweisen). So fällt insbesondere das Element der Arglist weg und es gilt das wesentlich weniger strikte Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. dazu E. 3.1).“

E. 3. zum Tatbestand von Art. 40 VVG: Liegt ein betrügerischer Anspruch vor, kann die Versicherung die Leistung verweigern und vom Vertrag zurücktreten. „In objektiver Hinsicht liegt eine betrügerische Begründung des Versicherungsanspruchs im Sinne von Art. 40 VVG vor, wenn die Anspruchsstellerin Tatsachen wahrheitswidrig darstellt, die für den Versicherungsanspruch Bedeutung haben. Es genügt dabei ein Verhalten, welches objektiv eine Irreführung der Versicherung bewirken kann. Unter Art. 40 VVG fällt u.a. das Ausnützen eines Versicherungsfalls durch Vortäuschen eines grösseren Schadens.“ Subjektiv ist eine Täuschungsabsicht gefordert. Die anspruchstellende Person muss mit Wissen und Willen falsche Angaben machen, um einen Vermögensvorteil zu erlangen. Dies kann auch im Ausnützen eines Irrtums der Versicherung bestehen, wenn der wahre Sachverhalt verschwiegen oder absichtlich zu spät informiert wird (vgl. E. 3.2.2.). Die Beweislast liegt dabei bei der Versicherung. Es gilt das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.

E. 4.1. zur Rückabwicklung des Vertrages: Fällt der Vertrag dahin, weil die Versicherung von diesem zurücktritt, schuldet die anspruchsstellende Person das negative Vertragsinteresse. Die Versicherung ist so zu stellen, als hätte es den Vertrag nie gegeben. Deshalb kann die Versicherung sämtliche Kosten, die zur Abklärung des betrügerischen Anspruches nötig waren, zurückfordern.

Versicherungen sind ausserordentlich gut im Aufdecken von Betrugsfällen, haben dieser Aufgabe gar ganze Abteilungen gewidmet. Insofern lässt man die Streichhölzer lieber im Hosensack und kurvt halt noch mit der alten Schwarte rum.