Umtausch des ausl. Führerscheins

BGE 1C_1/2020: Überspitzter Formalismus (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer wollte seinen irakischen Führerschein in einen schweizerischen umtauschen. Da allerdings der Verdacht bestand, dass der Ausweis zumindest verfälscht sei, wurde ein Strafverfahren eröffnet. Der Beschwerdeführer gab im Strafverfahren an, dass er seinen Ausweis versehentlich gewaschen habe, aber dass die Behörden im Irak keinen zweiten Ausweis ausstellen wollten. Das Strafverfahren wurde daraufhin eingestellt. Das Strassenverkehrsamt verweigert dennoch den Umtausch, da es nach wie vor an der Echtheit der Urkunde zweifelt.

Die Modalitäten des Umtausches einer ausländischen Fahrerlaubnis ergeben sich aus Art. 44 VZV. Man muss dafür einen gültigen ausländischen Ausweis besitzen und eine Kontrollfahrt machen. Der Ausweis muss im Zeitpunkt des Umtausches noch gültig sein (E. 4.3).

Das Strassenverkehrsamt verweigerte den Umtausch des Ausweises, da es an dessen Echtheit zweifelte, die Vorinstanz liess diese Frage offen und verweigerte den Umtausch, weil der irakische Ausweis inzwischen abgelaufen war. Dies erachtet der Beschwerdeführer als überspitzt formalistisch.

Art. 29 Abs. 1 BV verbietet unter anderem überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Rechtsuchenden den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Der Beschwerdeführer ersuchte um Umtausch seines irakischen Ausweises zwei Monate vor dessen Ablauf. Um einen gültigen Ausweis liefern zu können, müsste er – als Asylsuchender – bei den irakischen Behörden einen neuen Ausweis beantragen, was aber nach Ansicht des Bundesgerichts lediglich einen prozessualen Leerlauf schaffen würde. Dass Ausländer*innen einen gültigen Ausweis vorweisen müssen für den Umtausch erfolgt zugunsten der Verkehrssicherheit. Verliert ein ausländischer Fahrausweis während dem Umtauschverfahren wegen Zeitablauf seine Gültigkeit, dann bringt es der Verkehrssicherheit nichts, wenn zunächst ein neuer Ausweis besorgt werden muss, der dann umgetauscht wird. In anderen Worten, ein solches Vorgehen wäre eine zu rigorose Anwendung von Art. 44 VZV und damit überspitzt formalistisch.

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Vorinstanz muss nun über die Echtheit des Ausweises entscheiden, wobei der Beschwerdeführer die Echtheit beweisen muss.

Rückweisung durch Berufungsinstanz

BGE 6B_1075/2019: Zusätzliche Beweiserhebung im Berufungsverfahren (gutgh. Beschw.)

Wegen Schnellfahren bzw. grober Verkehrsregelverletzung erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Beschwerdeführer. Das erstinstanzliche Gericht sprach den Beschwerdeführer frei, weil die Messung durch das Geschwindigkeitsmessgeräts nicht verwertbar sei und andere Beweise nicht vorlägen. Dagegen erhob die Staatsanwaltschaft Berufung. Die Berufungsinstanz wies die Sache an das erste Gericht zurück, weil es nicht Sache der Berufungsinstanz sei, Beweise zu erheben, die auch die Vorinstanz hätte erheben können (E. 2).

Der Beschwerdeführer gelangt an das Bundesgericht mit der Begründung, dass ihm vor der Vorinstanz kein rechtl. Gehör gewährt wurde. Die Rückweisung verstosse gegen Art. 409 Abs. 1 StPO und gegen das Beschleunigungsgebot. Zudem habe die Berufungsinstanz volle Kognition und hätte die notwendigen Beweise von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei selber erheben können gemäss Art. 389 Abs. 3 StPO. Ebenso habe sich die Staatsanwaltschaft treuwidrig verhalten (E. 3).

Das Bundesgericht pflichtet den Vorbringen des Beschwerdeführers bei. Straf- und insofern auch Berufungsverfahren müssen in den gesetzlich vorgesehenen Formen durchgeführt werden. Auch bei einem kassatorischen Entscheid im Berufungsverfahren ist dieses in mündlicher oder schriftlicher Form durchzuführen, damit so auch das rechtliche Gehör gewahrt werden kann. Erforderliche zusätzliche Beweiserhebungen im Berufungsverfahren stellen grundsätzlich keinen schwerwiegenden Mangel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO dar, der eine Rückweisung an die erste Instanz rechtfertigt, sondern sind aufgrund des reformatorischen Charakters der Berufung und des Beschleunigungsgebots vom Berufungsgericht selbst abzunehmen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Berufungsverfahren muss durchgeführt werden.

Der selbstständige Camioneur

BGE 6B_1391/2019: Selbstständigkeit i.S.d. ARV 1 (gutgh. Beschw.)

Der Entscheid befasst sich mit der Frage, wann LKW-Fahrer als selbstständig gelten und damit gewisse Verpflichtungen aus der ARV 1 auf sie nicht zutreffen, z.B. Pausen nach Art. 8 Abs. 3 ARV, das Führen eines Arbeitsbuches nach Art. 15 ARV sowie die Überwachung durch den Arbeitgeber nach Art. 16 ARV.

Die Beschwerdeführer stellen sich auf den Standpunkt, dass sie selbstständig sind i.S.v. Art. 2 lit. b ARV. Nach der Legaldefinition ist selbstständig, wer nicht in einem Anstellungsverhältnis steht und alleine über den Einsatz des Fahrzeuges entscheiden kann. Das gilt nach dem Wortlaut der Bestimmung dann auch für den Ehegatten sowie die Verwandten in auf- und absteigender Linie sowie für die Stiefkinder.

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass die GmbH der Beschwerdeführer Halterin der Fahrzeuge sei und damit alleine die juristische Person über deren Einsatz entscheiden könne i.S.v. Art. 2 lit. b ARV, auch wenn zwei der drei Beschwerdeführer zur Einzelunterschrift berechtigt seien. Als Geschäftsführer würden diese als Vertreter ihrer GmbH stellvertretend entscheiden und nicht für sich selber. Die Beschwerdeführer gelten insofern nicht als Betriebsinhaber (E. 1.3).

Kurz und prägnant widerspricht das Bundesgericht dieser vorinstanzlichen Ansicht. Es hat die Rechtsverhältnisse zwischen einer juristischen Person und ihren Organen wiederholt beurteilt. Tendenziell sind Direktoren Arbeitnehmer, Verwaltungsräte eher Beauftragte. Für die Annahme eines Arbeitsvertrages ist entscheidend, ob ein Organ Weisungen erhält, z.B. vom Verwaltungsrat, und insofern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Ein solches liegt nicht vor, zwischen einer juristischen Person und dem diese in wirtschaftlicher Hinsicht beherrschenden Organ, z.B. beim Mehrheitsaktionär. Nicht ausschlaggebend für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses sind formelle Kriterien wie das Erbringen von sozialversicherungsrechtlichen Leistungen als Arbeitnehmer. Die Vorinstanz stellte fest, dass einer der Beschwerdeführer der Geschäftsführer der GmbH ist. Dass er in dieser Position Weisungen erhalte, wurde aber nicht festgestellt. Er hat deshalb als selbstständigerwerbend zu gelten i.S.v. Art. 2 lit. b ARV. Dasselbe gilt nach dem Wortlaut des vorgenannten Artikels auch für die anderen Beschwerdeführer, die Ehegattin und den Sohn des Geschäftsführers (E. 1.4).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Der Belastungszeuge

BGE 6B_1177/2019: Begründungspflicht, Unmittelbarkeitsprinzip (guthgh. Beschw.)

Diese Entscheid fusioniert ansehnlich Strassenverkehrs- und Strafprozessrecht. Er setzt sich damit auseinander, wie die Strafbehörden vorzugehen haben, wenn eine mutmassliche SVG-Widerhandlung nur von einem Belastungszeugen gesehen wurde.

Der Beschwerdeführer kam mit seinem Sattelschlepper in einer leichten Linkskurve rechts von der Strasse ab, woraufhin der Zugkombination kippte. Er stellte sich nachher auf den Standpunkt, dass er einem entgegenkommenden Auto ausweichen musste. Etwa 500m weiter hinten war ein anderer Autofahrer am rechtsabbiegen. Dieser habe den Unfall gesehen, aber kein entgegenkommendes Fahrzeug.

Bilden Übertretungen Bestand des Berufungsverfahrens, ist die Kognition der Berufungsinstanz gemäss Art. 398 Abs. 4 StPO eingeschränkt. Überprüft werden Rechtsverletzungen und eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung. Die Berufungsinstanz schützte die Meinungung des ersten Gerichts, wonach der Unfall wegen mangelnder Aufmerksamkeit verursacht wurde. Die erste Instanz wertete die Aussage des Zeugen als glaubhaft, weil dieser als Betreibssanitäter quasi eine Art geschultes Auge für solche Dinge habe. Das Vorbringen des Beschwerdeführers wertete sie als Schutzbehauptung. Die Verteidigung bestritt im Berufungsverfahren dezidiert die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage.

Das rechtliche Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV umfasst die Begründungspflicht, nach welchem sich ein Gericht mit den Vorbringen einer Partei auseinandersetzen muss. Zwar muss die Behörde sich nicht mit allen Parteivorbingen auseinandersetzen, aber dennoch müssen die Überlegungen für die Entscheidfindung ersichtlich sein. Vorliegend hat sich die Vorinstanz mit den Ausführungen der Verteidigung zur Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage nicht rechtsgenüglich auseinandergesetzt, weshalb das Abstützen auf die Zeugeaussage eine willkürliche Sachverhaltsermittlung zu begründen vermag (E. 2.2-4).

Hinzukommt, dass der Zeuge nur im Vorverfahren und nie gerichtlich befragt wurde. Art. 343 Abs. 3 StPO enthält ein beschränktes Unmittelbarkeitsprinzip. Sofern es für die Entscheidfindung nötig erscheint, müssen im Vorverfahren erhobene Beweise vor Gericht nochmals erhoben werden. Die Wiederholung einer Zeugenaussage drängt sich insb. dann auf, wenn die Aussage der einzige direkte Belastungsbeweis ist (E. 3.1). Die Vorinstanz hat verkannt, dass die erste Instanz ihr Ermessen unterschritten hat, als sie den Belastungszeugen nicht selber befragt hat. Dadurch wurde Art. 343 Abs. 3 StPO verletzt.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Einstellung Strafverfahren

BGE 6B_782/2019: Fahrlässige Tötung im Strassenverkehr

Im Mai 2015 ereignete sich in Basel ein tödlicher Verkehrsunfall, wobei ein Velofahrer von einem Personenwagen überfahren wurde. Das Strafverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft mangels Pflichtwidrigkeit eingestellt, wogegen Witwe und Tochter des Velofahrers Beschwerde erheben.

Die kantonalen Instanzen stellten sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdegegner nicht mit dem Fahrradfahrer rechnen musste und stellten das Strafverfahren aufgrund des Vertrauensprinzips ein. Die Beschwerdeführerinnen bringen hingegen vor, dass der Beschwerdegegner seinerseits nicht mit angepasster Geschwindigkeit unterwegs war. Die Staatsanwaltschaft habe nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ geurteilt und somit dem Strafgericht vorgegriffen (E2.1). Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Fahrradfahrer (rechts)vortrittsbelastet war und der Beschwerdegegner nicht habe damit rechnen müssen, dass der Verstorbene ihm den Weg abschneidet (E. 2.).

Ein Strafverfahren wird nach den Modalitäten von Art. 319 StPO eingestellt, wobei sich die Staatsanwaltschaft nach dem Grundsatz „in dubio pro duriore“ richten muss. Eine Einstellung darf nur bei klarer Straflosigkeit oder fehlenden Prozessvoraussetzungen erfolgen. Anklage ist zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher ist, als ein Freispruch. Ist ein Freispurch etwa gleich wahrscheinlich wie eine Verurteilung, drängt sich insb. bei schweren Delikten eine Anklageerhebung auf. Eine zweifelhafte Sach- oder Rechtslage spricht ebenfalls für eine Anklage. Sind die Tatsachen aber klar, muss eine Einstellung auch „in dubio pro duriore“ möglich sein (zum Ganzen E. 2.3.1).

Im Folgenden äussert sich das BGer exemplarisch zur Fahrlässigkeit und deren Voraussetzungen (E. 2.3.2). Fahrlässig handelt, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt. Diese ergeben sich im Strassenverkehr aus dem SVG. Der Vortrittsbelastete darf die Fahrt des -berechtigten nicht behindern. Er muss vor Kreuzungen seine Geschwindigkeit mässigen. Schlimmstenfalls muss er sich in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche „hineintasten“. Der Vortrittsberechtigte muss sich aber vergewissern, dass kein Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer vorliegt, diese ihm den Vortritt nicht gewähren können oder wollen. Verkehrsteilnehmer müssen sodann ihre Aufmerksamkeit dorthin richten, woher die grösste Gefahr droht, wobei ihnen logischerweise für andere Stellen eine geringere Aufmerksamkeit zugebilligt werdne kann (zum Ganzen ausführlich E. 2.3.3).

Die Vorinstanz war der Meinung, dass das Fehlverhalten des Velofahrers den adäquaten Kausalvelauf unterbrach zu Gunsten des Autofahrers. Dem widerspricht das Bundesgericht. Der adäquate Kausalverlauf wird nur unterbrochen, wenn die unterbrechende Zusatzursache dermassen absurd war, dass damit schlichtweg nicht gerechnet werden musste. Da aber insb. in Wohnquartieren der Vortrittsberechtige auch auf ein Fehlverhalten der -belasteten Rücksicht nehmen muss, wurde der adäquate Kausalverlauf nicht unterbrochen (E. 2.4.2).

Es ist sodann unklar, ob der Beschwerdegegner den geforderten Kontrollblick nach links gemacht hat, auch wenn ihm für diese Stelle geringere Aufmerksamkeit zugebilligt werden kann. Er muss ja auch auf den Vortritt von rechts achten. Zudem setzte sich die Vorinstanz nicht genügend mit Gutachten auseinander. Der Sachverhalt ist unklar. Es Bedarf einer klassischen Beweiswürdigung, die so nicht stattgefunden hat (E. 2.4.3). Das Bundesgericht folgt auch den Ausführungen zur Vermeidbarkeit des Unfalles nicht der Vorinstanz. Kurz gesagt ist die Vorinstanz von der für den Beschwerde günstigsten Variante ausgegangen, was aber dem Prinzip „in dubio pro reo“ entspricht und vom Sachgericht zu beurteilen ist.

Die Voraussetzungen für eine Einstellung sind nicht erfüllt, da die Beweis- und Rechtslage zur Sorgfaltspflichtsverletzung und Vermeidbarkeit nicht eindeutig erscheinen.