Überwachungsvideo als Beweis

BGE 6B_1288/2019: Beweisverwertung (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, in Basel bei der Synagoge den Vortritt einer Velofahrerin missachtet zu haben. Die Velofahrerin verletzte sich leicht bei ihrem Notbremsmanöver. Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Videoaufnahme der privaten Videoüberwachungsanlsage der Synagoge, mit welcher der Vorfall gefilmt wurde, nicht als Beweis zugelassen werden darf, solange dieser Beweis ihn belastet. Sofern die Aufnahme allerdings entlastend ist, sollte die Aufnahme verwertbar sein. Die Vorinstanz erachtete die Aufnahme als verwertbar, auch wenn für sie das nach kantonalem Recht notwendige Reglement nicht vorlag. Diese Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift sei jedoch nur marginal und die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers seien durch die Aufnahme nur wenig tangiert worden.

Beweise, die unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, dürfen nur für die Aufklärung schwerer Straftaten verwertet werden. Ansonsten ist die Verwertung solcher Beweise gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO illegal. Das gilt auch für die Folgebeweise. Je schwerer eine Straftat ist, desto höher ist auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung bzw. an der Verwertung eines illegal erhobenen Beweises. Die Schwere Straftat beurteilt sich dabei nicht am abstrakt angedrohten Strafmass, sondern am konkreten Einzelfall (E. 2.1).

Die israelitische Gemeinde Basel und Inhaberin der Videoanlage ist eine öffentliche-rechtliche Körperschaft und unter gewissen Umständen zur Rechtshilfe verpflichtet. Allerdings gilt auch hier, dass die Grundsätze des rechtstaatlichen Handelns eingehalten werden müssen, was bedeutet, dass die Strafbehörden die Beweiserhebung nicht einfach an andere staatliche Organe outsourcen darf (E. 2.2).

Videoüberwachung tangiert das Recht auf Privatssphäre der gefilmten Person (Art. 13 BV). Persönliche Daten sind vor Missbrauch geschützt. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Schutz der Privatsphäre erfasst auch Lebenssachverhalte die sich im öffentlichen Raum abspielen. Man muss sich nicht stets beobachtet fühlen. Alle Grundrechte können allerdings im Rahmen von Art. 36 BV in verhältnismässiger Weise eingeschränkt werden. „Es ist jedenfalls nicht angebracht mit dem Schlagwort der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unbeschränkte Überwachungen zu begründen, die in vielfältigsten Ausgestaltungen unterschiedlichen Zwecken dienen können“ (E. 2.3).

Nach kantonaler Gesetzgebung bedürfen Videoüberwachungsanlagen in Basel ein Reglement, das Zweck, Verantwortlichkeit und die Löschzyklen regelt. Ein solches Reglement bestand aber nicht. Die Videoaufnahme erfolgte in gesetzeswidriger Weise (E. 2.4f).

Zudem wird dem Beschwerdeführerkein schweres Delikt vorgeworfen. Zwar wird eine Vortrittsmissachtung vorgeworfen, eine Kollision gab es aber nicht. Einfache und grobe Verkehrsregelverletzungen sind nach der Rechtsprechung keine schweren Straftaten im Sinne der Strafprozessordnung. Die Videoaufnahme wurde zu Unrecht verwertet (E. 2.6).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Vorsicht Meinung: Die Strafhoheit liegt beim Staat und Verbotenes sollte grds. auch bestraft werden. Es ist deshalb besonders wichtig, dass der Staat die Regeln einhält. Würde man den Strafbehörden die Möglichkeit geben, jeden erdenklichen Beweis zu verwerten, dann wären bald nur noch Hobbypolizisten und Sheriffs unterwegs. Ausgerüstet mit Dashcams und Kameras würde sich die Zivilgesellschaft gegenseitig bespitzeln. Krumm und krümmer würden die Methoden, mit welchen der ungeliebte Nachbar bei den Strafbehörden angeschwärzt wird. Es ist deshalb gut, dass das Bundesgericht hier noch Augenmass beweist und sich Orwell noch nicht im Grab umdrehen muss.

Zeitpunkt der Schadenberechnung

BGE 4A_197/2020: Die vermaleidete Rückweisung (gutgh. Beschwerde)

Seltenerweise bringen wir hier auch haftpflichtrechtliche Entscheide, wenn uns danach ist. In diesem hochinteressanten, aber auch hochgradig technischen Entscheid stellt sich die Frage, wann die haftpflichtrechtlichen Schäden berechnet werden, insb. wenn sich das Bundesgericht bereits einmal mit dem Fall beschäftigt und einen Rückweisungsentscheid gefällt hat.

Die Beklagte wurde bei einem Autounfall im September 1993 aus dem Fahrzeug geschleudert, weil sie nicht angeschnallt war. Seither ist sie querschnittsgelähmt. Der Streit betrifft ihre haftpflichtrechtlichen Ansprüche von ca. zwei Mio. Franken, welche ihr vom Handelsgericht ZH zugesprochen wurden. Dagegen erhob die Versicherung erfolgreich Beschwerde, womit die Sache zur neuen Beurteilung einiger Schäden zurückgewiesen wurde. Das HGer urteilte erneut und die Versicherung erhob wieder Beschwerde. Die beschwerdeführende Versicherung rügt, dass das HGer erneut den Haushaltsschaden berechnete, obwohl dieser mit der ersten Beschwerde nicht beanstandet wurde.

An einen Rückweisungsentscheid sind sowohl Gerichte, als auch die Parteien gebunden. Abgesehen von zulässigen Noven, können keine Argumente mehr vorgebracht werden, die vom Bundesgericht bereits in Erwägung gezogen wurden (E. 3.2.1). Durch die Rückweisung wird der Prozess in die Lage zurückversetzt, in welcher er sich vor dem aufgehobenen Urteil befand (E. 3.2.2).

Mit der ersten Beschwerde hat die Versicherung den u.a. den Haushaltsschaden nicht angefochten (E. 3.4). In seinem neuen Entscheid hat das Handelsgericht den Berechnungstag für den Haushaltsschaden auf das Datum des neuen Urteils gelegt und diesen neu berechnet(E. 3.6).

Für die Schadenberechnung ist der Zeitpunkt massgebend, bis zu dem die letzte kantonale Instanz noch neue Tatsachen berücksichtigen kann. Lägen zulässige Noven vor, könne dies auch ein neues Datum für die Schadenberechnung zur Folge haben. Grds. wird der Prozess aber nur hinsichtlich des von der Rückweisung betroffenen Streitpunktes in die Lage vor dem vorinstanzlichen Urteil zurückgesetzt (zum Ganzen E. 3.7).

Der Haushaltsschaden (und weitere Schäden) war nicht Streitgegenstand des Rückweisungsverfahrens. Trotzdem führte das Handelsgericht eine Neuberechnung durch. Dazu war es nicht befugt, weil diese Forderungen nicht Gegenstand der ersten Beschwerde waren. Es wurde also vom falschen Zeitpunkt für die Berechnung des Schadenersatzes ausgegangen bzw. es durfte gar keine neue Berechnung durchführen.

Die Beschwerdeführerin rügt auch erfolgreich eine falsche Kosten- und Entschädigungsfolge (zum Ganzen E. 4, für jene die sich mit altem Recht des Kt. ZH auseinandersetzen wollen).

Charakterliche Fahreigung

BGE 1C_405/2020: „Mensch, beherrsche Dich!“

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Anordnung einer verkehrspsychologischen Fahreignungsuntersuchung. Ein vorsorglicher Entzug wurde aber nicht angeordnet. Grund für die Anordnung sind verschiedene verkehrsrechtliche Vorkommnisse, bei welchen der Beschwerdeführer ein fragwürdiges Verhalten an den Tag gelegt hat.

Im September 2018 lieferte sich der Beschwerdeführer mit einem Rollerfahrer ein Wortgefecht auf offener Strasse, nachdem dieser ihn überholt hat. Dabei sei er auch absichtlich in den abgestellten Roller gefahren und habe die Unfallstelle ohne Angaben seiner Personalien verlassen.

Schon am nächsten Tag überholte der Beschwerdeführer auf dem Mont Vully eine Joggerin und verursachte mutmasslich einen Verkehrsunfall. Im Anschluss verhielt er sich gegenüber der Joggerin und den anderen Beteiligten aggressiv und mit feindlichem Grundton.

Im Februar 2019 missachtete er den Vortritt eines Fussgängers, indem er zunächst vor dem Streifen anhielt, dann aber rückartig wiederholt auf den Streifen zufuhr. Der Fussgänger fühlte sich dadurch genötigt bzw. musste sich in Sicherheit bringen.

Gemäss Art. 14 SVG müssen Motorfahrzeugführer über Fahreignung und -kompetenz verfügen. Fahrgeeignet ist u.a. wer nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr biete, als Motorfahrzeugführer die Vorschriften zu beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht zu nehmen. Bestehen Zweifel an der Fahreignung einer Person, wird gemäss Art. 15d SVG eine Fahreignungsuntersuchung angeordnet. Zweifel bestehen gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. c SVG namentlich, wenn sich eine Person rücksichtslos verhält. In den Beispielfällen von Art. 15d Abs. 1 SVG ist ohne Weiteres eine Fahreignungserklärung anzuordnen. Diese Tatbestände begründen einen Anfangsverdacht, wobei konkrete Beweise nicht vorliegen müssen. Ansonsten müsste wohl gleich ein Sicherungsentzug angeordnet werden. Bei Sicherungsmassnahmen spielt sodann die Unschuldsvermutung keine Rolle und ein Administrativmassnahmenverfahren muss auch nicht bis zum Abschluss des Strafverfahrens sistiert werden (E. 2.2).

Das Verhalten des Beschwerdeführers vermag zwar noch keine ernstlichen Zweifel i.S.v. Art 30 VZV und somit einen vorsoglichen Ausweisentzug begründen. Das mutmassliche Verhalten des Beschwerdeführers deute aber auf eine geringe Frustrationstoleranz. Es ist insofern zweifelhaft, ob der Beschwerdeführer über die für die Teilnahme am Strassenverkehr nötige Selbstbeherrschung verfügt. Ebenso fehle es dem Beschwerdeführer anlässlicher seiner Fehler an Selbstreflexion und Einsichtsfähigkeit. Generell stellt sich die Frage, ob der Beschwerdeführer genug verantwortungsbewusst ist für die Teilnahme am Strassenverkehr (E. 2.5).

Die Einwände des Beschwerdeführers zu den nicht abgeschlossenen Strafverfahren bzw. der Unschuldsvermutung stehen der Anordnung von Sicherungsmassnahmen nicht entgegen. Die Beschwerde wird zu Recht abgewiesen.

Parteientschädigung

BGE 6B_950/2020: Entschädigung vom Anwalt (guth. Beschwerde)

Das gegen den Beschwerdeführer eröffnete Strafverfahren wegen mangelnder Aufmerksamkeit wurde auf Einsprache hin eingestellt. Vorgeworfen wurde ein Blick auf ein Blatt Papier. Die Staatsanwaltschaft sprach keine Parteientschädigung zu. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde gutgeheissen. Allerdings erachtete sie für das Beschwerdeverfahren eine Entschädigung von CHF 750.00 als ausreichend und kürzte damit die Honorarnote von CHF 1’061.50. Im Beschwerdeverfahren selber wurde eine Parteientschädigung von CHF 200.00 gesprochen. Vor Bundesgericht verlangt der Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von CHF 900.00 für das Beschwerdeverfahren.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 436. Abs. 1 i.V.m. Art. 429 Abs. 1 StPO. Obwohl er im Rechtsmittelverfahren überwiegend obsiegte, sei die Parteientschädigung von CHF 200.00 unangemessen tief. Gemäss kantonaler Gesetzgebung betrage der Entschädigungsrahmen CHF 250.00 bis 6’000.00. Die Beschwerde hatte fünf Seiten. Selbst ein erfahrener Strafverteidiger könne eine solche Eingabe nicht in weniger als einer Stunde verfassen. Die Entschädigungsfrage folgt zudem grds. dem Kostenentscheid. Die Verfahrenskosten wurde auf die Staatskosten genommen, weshalb von einem überwiegenden Obsiegen auszugehen ist. Zudem war die Verteidigung geboten (E. 2.1).

Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass es nur um eine Übertretung ging und der Sachverhalt nicht komplex war. Auch hätten sich keine rechtlich komplexen Fragen gestellt. Trotzdem erachtete sie den Beizug des Anwaltes als gerechtfertigt. Die tiefe Parteientschädigung im Rechtsmittelverfahren rechtfertigt die Vorinstanz mit einer Milchbüchlirechnung. Für das Einspracheverfahren wurden CHF 750.00 anstatt CHF 1’061.50 zugesprochen, also habe der Beschwerdeführer etwa zu 71% gesiegt, also überwiegend aber nicht vollumfänglich E. 2.2).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts besteht auch bei blossen Übertretungen ein Anspruch auf Entschädigung für Anwaltskosten, wenn der Rechtsanwalt erst nach Ergehen eines Strafbefehls beigezogen wurde und die Übertretung von der Staatsanwaltschaft daher mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt wurde. Der Aufwand für eine angemessene Verteidigung richtet sich nach jenem, den ein erfahrener Strafverteidiger bei effizienter Arbeitserledigung benötigt (E. 2.3.1).

Das Bundesgericht schreitet nur ein, wenn der Ermessensspielraum klarerweise überschritten wurde und die Festsetzung des Honorars ausserhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zu den vom Anwalt geleisteten Diensten steht und in krasser Weise gegen das Gerechtigkeitsgefühl verstösst (E. 2.3.2). Bei schuldhaftem Einleiten eines Strafverfahren (z.B. Selbstanzeige) kann die Entschädigung oder Genugtuung herabgesetzt oder verweigert werden. Der Kostenentscheid präjudiziert die Entschädigungsfrage. Bei Auferlegung der Kosten ist grundsätzlich keine Entschädigung auszurichten. Umgekehrt hat die beschuldigte Person Anspruch auf Entschädigung, soweit die Kosten von der Staatskasse übernommen werden (E. 2.3.3).

Im folgenden prüft das BGer, ob das kantonale Recht durch die Vorinstanz willkürlich angewendet wurde. Dies ist der Fall, wenn wenn das angefochtene Urteil offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (E. 2.3.6).

Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht und verfällt in Willkür. Das Strafverfahren wurde eingestellt und die Kosten auf die Staatskasse genommen. Die Zusprechung einer vollen Parteientschädigung wäre sachgerecht gewesen. Obwohl die Vorinstanz die Parteientschädigung des Einspracheverfahrens kürzte, erkannte sie selber, dass der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren überwiegend reüssierte, denn die Frage drehte sich hauptsächlich darum, ob eine anwaltliche Vertretung geboten war. Die Entschädigung im Beschwerdeverfahren bezeichnet das Bundesgericht als unhaltbar tief. Zudem hat die Vorinstanz ihre Begründungspflicht verletzt, weil sie eher pauschal auf die kantonale Gesetzgebung verweist (E. 2.4).

Ne bis in idem

BGE: 6B_514/2020: Doppelte Beurteilung eines Lebenssachverhaltes

Der Grundsatz „ne bis in idem“ ist wesentlich für den Strafprozess. Der Sachverhalt hat zwar nichts mit Autofahren zu tun, aber man könnte sich ein solche Auseinandersetzung durchaus auch im Feierabendverkehr an einem heissen Sommerabend vorstellen, bei welchem jemandem die Sicherung durchgehen.

Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen Tätlichkeit und Gefährdung des Lebens, weil er gegen seine ehemalige Gattin Gewalt ausübte. Zunächst hielt er sie an den Oberarmen und stiess sie gegen einen Schrank, was als Tätlichkeit gewertet wurde. Sodann packte der Beschwerderführer die Geschädigte von hinten und nahm sie in einen Würgegriff bis sie ohnmächtig wurde. Dies wurde als Gefährdung des Lebens gewertet.

Das erstinstanzliche Gericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Tätlichkeiten, vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens aber wurde er freigesprochen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung. Die Berufungsinstanz stellte fest, dass der Freispruch wegen dem Würgen bzw. der Gefährdung des Lebens in Rechtskraft erwachsen ist. Zugleich sprach es ihn wegen den Tätlichkeiten bzgl. dem Stossen frei, verurteilte ihn aber für das Würgen wiederum wegen einer Tätlichkeit.

Der Beschwerdeführer macht in seiner Beschwerde geltend, dass die Vorinstanz den zweiten Sachverhaltsteil, also das Würgen, nicht nochmals habe beurteilen dürfen, denn der Freispruch diesbzgl. erwuchs bereits in Rechtskraft. Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass das Gericht erster Instanz das Würgen nicht nur als Gefährdung des Lebens, sondern auch als Tätlichkeit würdigte (E. 1.1/2).

Ein Urteil muss die Anklage durch die Staatsanwaltschaft erschöpfend erledigen. Das beurteilt sich anhand einem Vergleich von Anklage und Urteilsdispositiv. Wird diese durch die Verurteilung nicht ausgeschöpft, hat eine Einstellung oder ein Freispruch zu ergehen. Kein Freispruch hat zu erfolgen, wenn im Falle von  Tateinheit (in der Anklage) nicht wegen aller Delikte eine Verurteilung erfolgt. Das Urteil kann bei ein und derselben Tat nur einheitlich auf Verurteilung oder Freispruch lauten. Würdigt das Gericht den Anklagesachverhalt lediglich rechtlich anders als die Anklagebehörde und behandelt diesen vollständig, erfolgt kein Freispruch. Hingegen hat bei  Tatmehrheit (in der Anklage) ein Freispruch zu erfolgen, soweit es nicht zur Verurteilung oder Einstellung kommt (E. 1.3.2).

Der in Art. 11 StPO stipulierte Grundsatz „ne bis in idem“ verbietet die doppelte Bestrafung bzw. Verfolgung derselben Straftat. Tatidentität liegt vor, wenn dem ersten und dem zweiten Strafverfahren identische oder im Wesentlichen gleiche Tatsachen zugrunde liegen (E. 1.3.3).

Wird die beschuldigte Person teilweise freigesprochen, obwohl hier wegen Tateinheit kein Raum besteht und erwächst dieser Freispruch in Rechtskraft, lässt dessen Sperrwirkung eine Verurteilung wegen des gleichen Lebenssachverhalts nicht zu (E. 1.3.4).

Nach Ansicht des Bundesgerichts liegt es zwar nahe, dass das Gericht erster Instanz sowohl das Stossen, als auch das Packen und Würgen als Tätlichkeit würdigte. Der Vorwurf in der Anklage des „von hinten Packen und Würgen“ umschreibt allerdings einen einzelnen Lebensvorgang. Es war insofern nicht möglich, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer wegen derselben Tat einerseits freispricht (Gefährdung des Lebens) und andererseits zugleich bestraft (Tätlichkeit). Hätte das erstinstanzliche Gericht das Würgen abweichend von der Staatsanwaltschaft rechltich als Tätlichkeit würdigen wollen, hätte sie den Beschwerdeführer nicht freisprechen dürfen. Indem die Berufungsinstanz das Würgen trotz rechtskräftigem Freispruch als Tätlichkeit bestraft verletzt sie den Grundsatz „ne bis in idem“ (E. 1.4).

Rechtswidrige Signalisation

BGE 6B_1439/2019: Stufenweise Herabsetzung von Tempolimiten

Der Beschwerdeführer überschritt auf einer Autostrasse die Höchstgeschwindigkeit von 60km/h um 36km/h und wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er bemängelt die vor Bundesgericht, dass die Signalisation rechtskonform sei und schliesst daraus, dass er nicht rücksichtslos gehandelt habe.

Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die dafür vorauszusetzende Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen. Nach ständiger Rechtsprechung sind die objektiven und grundsätzlich auch die subjektiven Voraussetzungen einer groben Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG ungeachtet der konkreten Umstände zu bejahen, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Autostrassen um 30 km⁠/⁠h oder mehr resp. auf Autobahnen um 35 km⁠/⁠h oder mehr überschritten wird. Diese Vermutung ist anhand aussergewöhnlicher Umstände widerlegbar (E. 1.1).

Das Hauptargument des Beschwerdeführers beruht darauf, dass die Geschwindigkeitslimite auf der von ihm befahrenen Strecke von 100km/h abrupt auf 60km/h reduziert wird. Dies widerspreche aus seiner Sicht Art. 22 Abs. 2 SSV i.V.m. Art. 108 Abs. 5 lit. b SSV. Diese Bestimmungen stipulieren, dass die Höchstgeschwindigkeit grds. stufenweise zu reduzieren ist und dass die Abstufungen 10km/h zu betragen haben. Im Bereich von Baustellen auf Autobahnen z.B. wird das Tempolimit in der Praxis i.d.R. von 120km/h auf 100km/h und dann auf 80km/h redziert. Dies dient der Verkehrssicherheit und soll insb. Auffahrunfälle verhindern. Nach Ansicht der Vorinstanz stellt die fehlende Abstufung allerdings keinen so grossen Mangel dar, als dass die Signalisation nicht beachtet werden müsse. Das Bundesgericht lässt die Frage nach der Rechtmässigkeit der Temporeduktion offen, denn angesichts der Verkehrssituation hätte der Beschwerdeführer sein Tempo sowieso anpassen müssen, was er aber unterliess. Es erachtet den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG als erfüllt (E. 1.5). Da der Beschwerdeführer in den Einvernahmen aussagte, dass er von der Geschwindigkeitstafel wusste, erachtet das Bundesgericht auch den subjektiven Tatbestand als erfüllt, auch wenn der Beschwerdeführer der Ansicht war, dass die Tafel für ihn nicht gelte (E. 1.6).

Mündliches Berufungsverfahren

BGE 6B_973/2019: Die zerkratzten Autos

Strassenverkehrsreicht heisst auch immer Straf(prozess)recht, weshalb hier auch manchmal StPO-Entscheide gefeatured werden. Zudem dreht sich der Sachverhalt um das zerkratzen von Autos mit einem Schlüssel oder sog. „keying“, weshalb das thematisch ganz gut passt.

Der Beschwerdeführerin wird vorgeworfen, in einer Tiefgarage mit einem Schlüssel zwei Autos zerkratzt zu haben. Die Anklage stützt sich auf die Aufnahme einer privaten Videoüberwachungsanlage. Vom erstinstanzlichen Gericht wurde die Beschwerdeführerin vom Vorwurf der Sachbeschädigung freigesprochen, vom Obergericht allerdings wiederum verurteilt. Die Beschwerdeführerin moniert vor Bundesgericht, dass keine mündliche Berufungsverhandlung durchgeführt wurde.

Im Berufungsverfahren setzte das Obergericht AG den Parteien Frist zur Mitteilung, ob diese mit einem schriftlichen Verfahren gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO einverstanden seinen, wobei keine Äusserung als verzicht gewertet werde. Während die Staatsanwaltschaft explizit auf ein mündliches Verfahren verzichtete, äusserte sich die Beschwerdeführerin nicht (E. 2.1).

Die Berufung ist das primäre Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile und als mündliches, kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet. Grundsätzlich ist also die Anwesenheit der Parteien erforderlich, sofern kein einfaches Verfahren gemäss Art. 405 Abs. 2 StPO vorliegt (E. 2.1). Schriftliche Berufungsverfahren bilden nach dem gesetzgeberischen Willen die Ausnahme. Unabhängig vom Willen der Parteien kann ein schriftliches Berufungsverfahren in den in Art. 406 Abs. 1 StPO stipulierten Fällen durchgeführt werden. In den Fällen von Art. 406 Abs. 2 StPO kann ein schriftliches Verfahren mit dem Einverständnis der Parteien durchgeführt werden, also wenn die Anwesenheit der beschuldigten Person nicht erforderlich ist (lit. a) und wenn Urteile eines Einzelgerichts Gegenstand der Berufung sind (lit. b). Die beiden Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (E. 2.2.2). Die Zustimmung zum schriftlichen Verfahren tritt als weitere Voraussetzung hinzu. Ob die Voraussetzungen für das schriftliche Verfahren vorliegen, muss die Berufungsinstanz von Amtes wegen prüfen (E. 2.2.3). Zudem muss das Gericht über alle für den Schuld- und Strafpunkt erforderlichen Informationen und Nachweise verfügen (E. 2.2.4).

Art. 406 StPO ist als „Kann-Vorschrift“ ausgestaltet. Das Berufungsgericht muss deshalb auch prüfen, ob der Verzicht auch eine öffentliche Verhandlung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. In einem fairen Strafverfahren hat man grds. Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (E. 2.3.1). Gemäss der Rechtsprechung des EGMR muss nicht in jedem Fall ein mündliches Verfahren stattfinden. Lässt sich – kurz gesagt – ein Fall anhand der Akten beurteilen, ist eine mündliche Verhandlung nicht nötig. Hebt die Berufungsinstanz allerdings das erstinstanzliche Urteil auf, so ist die beschuldigte Person zu hören. Diese ist grds. von jenem Gericht anzuhören, welches sie verurteilt (zum Ganzen E. 2.3.2).

Vorliegend waren die Voraussetzungen für ein schriftliches Verfahren nicht erfüllt. Zwar darf die Berufungsinstanz davon ausgehen, dass die beschuldigte Person mit dem schriftlichen Verfahren einverstanden ist, wenn sie nicht ausdrücklich eine mündliche Verhandlung wünscht. Allerdings war die Anwesenheit der beschuldigten Person erforderlich. Die Beschwerdeführerin bestritt den Vorwurf der Sachbeschädigung von Beginn weg und wurde von der ersten Instanz in dubio freigesprochen. Das erstinstanzliche Gericht erachtete die Videoaufnahmen als zu schlecht. Die Berufungsinstanz allerdings würdigte die Beweise anders und erachtete den Sachverhalt anhand des Videos als erstellt, ohne die beschuldigte Person je angehört zu haben. Damit hat sie die Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise auf ein blosses Objekt staatlichen Handens reduziert. Die Berufungsinstanz hätte die beschuldigte Person zu den Vorwürfen befragen müssen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Edit vom 11.4.2021: BGE 6B_1349/2020: Mündliches Berufungsverfahren

Auch in dieser gutgeheissenen Beschwerde ging es um die Frage, ob von der Vorinstanz zu Recht ein schriftliches Berufungsverfahren angeordnet wurde. Das schriftliche Verfahren kommt v.a. dann in Frage, wenn Rechtsfragen beurteilt werden oder wenn Tatfragen einfach anhand der Akten beurteilt werden können. Geht es aber um die Würdigung des Sachverhalts, dann sollte eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden. In diesem Urteil stimmte die beschuldigte Person zwar dem schriftlichen Verfahren zu, da aber der Sachverhalt umstritten war, hätte die Vorinstanz von Amtes wegen eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, was sie aber nicht tat.

Parkinson und Autofahren

BGE 1C_441/2020: Begutachtung der Fahreigung

Aufgrund einer ärztlichen Meldung ordnete das Strassenverkehrsamt Kt. ZH an, dass ein medizinischer Verlaufsbericht vom Beschwerdeführer zu seiner Erkraunkung einzureichen sei. Der Beschwerdeführer reichte darauf ein Attest ein, laut welchem die Krankheit gut eingestellt sei und keine weiteren Abklärungen nötig seien. Das Strassenverkehrsamt legte das Attest danach dem IRM ZH vor, welches das Attest als unvollständig und eine Fahreignungsabklärung als nötig erachtete. Die Abklärung fiel negativ aus. Die Fahrerlaubnis wurde sicherheitshalber entzogen.

Der Beschwerdeführer erachtet die Begutachtung als willkürlich. Einerseits äusserte sich das eingereichte Attest grds. positiv zu seiner Fahreignung, andererseits sei die Fahreignungsabklärung aus Sicht des Beschwerdeführers nicht vollständig gewesen. Er bemängelt insb., dass keine Kontrollfahrt angeordnet wurde, bei welcher er seine kognitiven Fähigkeiten hätte beweisen können (E. 2.1).

Gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG wird der Lernfahr- oder Führerausweis einer Person auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr ausreicht, ein Motorfahrzeug sicher zu führen. Der Entzug des Führerausweises wegen fehlender Fahreignung ist ein Entzug zu Sicherungszwecken (sog. Sicherungsentzug). Dieser wird angeordnet, um die zu befürchtende Gefährdung der Verkehrssicherheit durch einen ungeeigneten Fahrzeugführer in der Zukunft zu verhindern, nicht um den Betroffenen wegen einer begangenen Verkehrsregelverletzung zu bestrafen. Er setzt keine schuldhafte Widerhandlung im Strassenverkehr voraus (E. 2.3).

Bei der Fahreingungsabklärung wurden erhebliche kognitive Beeinträchtigungen festgestellt. Diese betrafen Aufmerksamtkeit, Konzentration sowie das schnelle Erfassen und Verarbeiten von Sinneseindrücken. Der Beschwerdeführer schien von den entsprechenden Tests überfordert. Sicherheitshalber wurde daraufhin von der sachverständigen Person auf eine Kontrollfahrt verzichtet. Aus Sicht des Bundesgerichts ist es dabei nicht zu beanstanden, dass keine Kontrollfahrt mehr durchgeführt wurde. Für diese bzw. die Teilnahme am Strassenverkehr ist nämlich bereits eine uneingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit nötig (E. 2.4.1).

Das Urteil macht nach m.E. Sinn, denn man hat nicht in jedem Fall den Anspruch auf eine Kontrollfahrt. Diese wird gemäss Art. 5j VZV bei „nicht schlüssigen“ Untersuchungsergebnissen angeordnet. Vorliegend schien die Sache allerdings klar gewesen zu sein.