Entlastungsbeweis bei Tierhalterhaftung

BGE 4A_25/2021: Die herrenlose Kutsche (gutgh. Beschwerde)

Dieser Entscheid befasst sich mit dem Unfall zwischen einer Kutsche und einem Veloanhänger. Die Beschwerdegegnerin ist eine Bierbrauerei, die ihr Bier teils mit Pferdegespannen ausliefert. Der Fuhrmann der Bierbrauerei war mit einem Einspänner unterwegs. In einer Pause wurde er von der Mutter der Beschwerdeführerin im Velo überholt. Die fünf Monate alte Beschwerdeführerin befand sich im Veloanhänger. Nachdem der Fuhrmann der Mutter den Weg gezeigt hatte, setzte er seine Fahrt fort und überholte das Fahrrad wieder. Etwas später scheute das Pferd plötzlich. Der Fuhrmann vollzog eine Linkswende, woraufhin das Pferd durchging und der Fuhrmann von der Kutsche fiel. Das Pferd galoppierte mitsamt der Kutsche den Weg zurück. Die Mutter sah das kommende Pferd und ging ganz an die rechte Strassenseite. Das Pferd rannte am Velogespann vorbei, die schlingernde Kutsche aber rammte den Veloanhänger, der auf eine Wiese geschleudert wurde und sich mehrmals überschlug. Die Beschwerdeführerin erlitt ein schweres Schädelhirntrauma. Es waren mehrere neurochirgurgische Eingriffe nötig. Eine erste Teilklage von CHF 45’913.70 wurde erstinstanzlich gegen die Bierbrauerei gutgeheissen, gegen den Fuhrmann aber wurde die Klage abgewiesen. Das Obergericht hiess die Berufung der Brauerei gut und wies auch diese Teilklage ab. Die Beschwerdeführerin verlangt mit Beschwerde, dass die Teilklage gegen die Brauerei gutzuheissen sei.

Nach Art. 56 Abs. 1 OR haftet der Halter eines Tieres, für den durch dieses angerichteten Schaden. Der Halter kann aber den Entlastungebeweis führern, also dass er all nach den Umständen gebotene Sorgfalt in der Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres angewendet hat oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Vorausgesetzt wird die Verletzung einer objektiven Sorgfaltspflicht. An den Entlastungsbeweis sind strenge Anforderungen zu stellen. Es reicht nicht nachzuweisen, dass man als Tierhalter die übliche Sorgfalt angewendet hat. Er muss nachweisen, dass er sämtliche objektiv notwendigen und durch die Umstände gebotenen Massnahmen getroffen hat.

Über das Manöver des Fuhrmanns wurde ein Gutachten erstellt. Das Scheuen des Pferdes könne nicht auf eine Unaufmerksamkeit des Fuhrmanns zurückgeführt werden. Auch die Kehrtwende sei aufgrund des Scheuen des Pferdes angebracht gewesen. Ob der Fuhrmann allerdings beim Durchgehen des Pferdes korrekt gehandelt habe, konnte der Gutachter aufgrund der Unterlagen nicht beurteilen. Er liess insb. die Frage offen, ob der Fuhrmann die Leinen richtig gehalten habe (E. 2.4).

Die Vorinstanz war der Meinung, dass der Bierbrauerei als Tierhalterin der Entlastungsbeweis nicht gelungen sei, weil sie bzgl. dem Durchgehen des Pferdes keine Ergänzungsbeweise beantragt hat, wodurch der Entlastungsbeweis misslungen sei. Auch ein rechtmässiges Alternativverhalten wurde nicht bewiesen. Die Vorinstanz hingegen hiess die Berufung dagegen gut, weil keine der Parteien Ergänzungsfragen gestellt haben, insb. zur Frage, ob die Leinenhaltung des Fuhrmanns korrekt war.

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 56 Abs. 1 OR und Art. 8 ZGB, denn nach ihrer Ansicht habe die Vorinstanz ihr die Beweislast für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Fuhrmanns auferlegt. Der Entlastungsbeweis obliegt aber dem Tierhalter. Insb. wenn der Gutachter die Frage nach der Leinenhaltung aufwirft, hätte die Beschwerdegegnerin darüber Beweis führen müssen (E. 2.6).

Das Bundesgericht stimmt der Beschwerdeführerin zu, denn an den Entlastungsbeweis sind strenge Anforderungen zu stellen. Nachdem der Gutachter die Frage nach der Leinenhaltung aufgeworfen hatte, hätte die Beschwerdegegnerin die Beweislosigkeit diesbzgl. beseitigen müssen. Wenn nun die Vorinstanz der Beschwerdeführerin vorwirft, keine Sorgfaltspflichtverletzung bzgl. der Leinenführung bewiesen zu haben, verletzt sie die Beweislastregeln. Die Folgen der Beweislosigkeit hat die Beschwerdegegnerin als Tierhalterin zu tragen. Die Teilklage wird im Ergebnis gutgeheissen.

Notstand wegen Notdurft?

BGE 1C_67/2021: Sicherungsentzug wegen Schnellfahren im Ausland

Dem Beschwerdeführer wurde der Führerschein mit einem Kaskadensicherungsentzug wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 43km/h ausserorts in Deutschland auf unbestimmte Zeit entzogen. Die Wiedererteilung in frühestens zwei Jahren wurde von einer verkehrspsychologischen Begutachtung abhängig gemacht.

Wer im Ausland ein Fahrverbot erhält, muss gemäss Art. 16c SVG auch in der Schweiz mit einem Führerscheinentzug rechnen, wenn die Widerhandlung als mittelschwer oder schwer zu qualifizieren ist. Nach dem gefestigten Schematismus bzgl. Geschwindigkeitsüberschreitungen ist von einer schweren Widerhandlung auszugehen. Die Administrativbehörde ist an die Sachverhaltsfeststellungen des Strafverfahren grds. gebunden. Der deutsche Bussgeldbescheid wurde dem Beschwerdeführer auch korrekt zugestellt. Die direkte Zustellung ohne den Weg über die Rechtshilfe ist in div. internationalen Abkommen geregelt. Der Beschwerdeführer teilte sodann der deutschen Bussgeldstelle auch mit, dass er gegen den Bescheid vorgehen wird. Insgesamt ist also von einer schweren Widerhandlung auszugehen (zum Ganzen ausführlich E. 3).

Der Beschwerdeführer beruft sich auf eine Notstandssituation, denn er musste wegen akuten Magenbeschwerde unbedingt auf die Toilette. Wegen Bauarbeiten sei aber kein Pannenstreifen und auch keine Tankstellenausfahrten zur Verfügung gestanden. Deshalb sei er zu schnell zur nächsten Ausfahrt gefahren. Dass der Beschwerdeführer in einer Baustelle geblitzt wurde, ist anerkannt. Auf einen Notstand gemäss Art. 17 StGB kann sich berufen, wer in Rechtsgüter unbeteiligter Dritter eingreift, um so ein eigenes oder ein fremndes Rechtsgut aus einer drohenden Gefahr zu retten. Nach der Rechtsprechung ist bei einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung wie hier Notstand nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen. Nur wenn hochwertige Rechtsgüter wie Leib, Leben und Gesundheit von Menscchen in Frage stehen, kann ein Notstand vorliegen, so z.B. auf einer Fahrt ins Spital, um jemandem zu helfen. Die „unangenehme Situation“ des Beschwerdeführers war aber kein solcher Fall. Der Beschwerdeführer machte schwerwiegende Krankheitssymptome geltend, suchte aber erst ein paar Tage später einen Arzt auf. Zudem hätte der Beschwerdeführer ohne weiteres ausserhalb des Baustellenbereichs anhalten können. Und schliesslich machte der Beschwerdeführer bei einer früheren Geschweindigkeitsüberschreitung bereits erfolglos geltend, dass seine damalige Freundin wegen Periodenbeschwerden schnellstmöglich eine Toilette aufsuchen musste.

Es ist offensichtlich, dass Magenbeschwerden kein Grund sein können, die Rechtsgüter Dritter mit einer hohen Geschwindigkeitsüberschreitung zu gefährden, zumal Geschwindigkeitsüberschreitungen mit einem hohen Unfallrisiko verbunden sind.