Willkürliches Gutachten: Round 2

BGE 1C_174/2021: Die spezifische Alkoholanamnese (teilw. gutgh. Beschwerde)

Aufgrund einer ärztlichen Meldung wurde beim Beschwerdeführer ein verkehrsmedizinisches Gutachten angeordnet. Dieses kam zum Schluss, dass beim Beschwerdefüherer ein Alkoholmissbrauch vorliege und dass die Fahreignungs zu verneinen sei. Darauf verfügte die Kantonspolizei Basel-Stadt einen Sicherungsentzug. Auch wenn die toxikologischen Analysen zum Schluss kamen, dass der Beschwerdeführer einen nicht mehr sozialverträglichen Alkoholkonsum betrieb (EtG-Wert im Haar über 100pg/mg), brachte er erfolgreich vor, dass er einen unbelasteten Leumund hatte und damit keine Sucht in verkehrsrechtlichem Sinne vorliege, denn er vermag zwischen Autofahren und Trinken zu trennen. Das Bundesgericht hiess seine Beschwerde gut und wies die Sache an die Vorinstanz zurück für weitere Abklärungen zu seinem Konsumverhalten, denn die Vorinstanz habe die Einwände des Beschwerdeführers nicht ernsthaft geprüft (zum Ganzen BGE 1C_128/2020).

Das Appelationgericht ersuchte nach erfolgter Rückweisung das IRM BS um Abklärung, ob der Beschwerdeführer bei dem «erwiesenen, regelmässigen und übermässigen Alkoholkonsum» in der Lage ist, zwischen diesem und der Teilnahme am Verkehr strikt zu trennen. Nach Erhalt des verkehrsmedizinischen Berichts wies die kantonale Instanz den Rekurs wiederum ab. Erneut gelangt der Beschwerdeführer in dieser Sache an das Bundesgericht.

Der Beschwerdeführer bringt hervor, dass das Ergebnis des ganzen Gutachtensprozesses wiederum willkürlich sei. Denn die mit der ergänzenden Abklärung beauftragte Verkehrsmedizinerin begründete die fehlende Fahreignung damit, dass das Aussageverhalten des Beschwerdeführers auf einen Kontrollverlust und damit eine fehlende Trennungsfähigkeit zwischen Genuss und Strassenverkehr schiessen lasse. Die Explorationsgespräche zum Beginn der ganzen Sache wurden aber von einer anderen Verkehrsmedizinerin durchgeführt. Insofern könne die mit der ergänzenden Abklärung beauftragte Ärztin seine Aussagen gar nicht richtig beurteilen.

Ein Sicherungsentzug ist ein schwerwiegender Grundrechtseingriff, weshalb i.d.R. eine spezifische Alkoholanamnese Erfolgen muss. Das Abstützen auf toxikologischen Werten alleine reicht für das Absprechen der Fahreignung nicht aus (E. 2.4). Die zweite Gutachterin argumentiert schwergewichtig mit dem angeblich mangelhaften Mitwirkungs- und Antwortverhalten des Beschwerdeführers bei der Erstbegutachtung (E. 2.6). Bei der ersten Begutachtung wiederum wurde das Antwortverhalten des Beschwerdeführers allerdings als nicht problematisch bewertet. Diese widersprüchlichen Erwägungen der Gutachterinnen bemängelt der Beschwerdeführer und verlangte vor der Vorinstanz ein Obergutachten. Letztere hat dies aber abgelehnt und damit das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Bonus: Eine Auffahrkollision ist eine mittelschwere Widerhandlung (BGE 1C_263/2021)

Von Schematismen…

Die meisten Leser:innen hier dürften mit den Schematismen im Strassenverkehrsrecht so vertraut sein, wie mit ihrer linken hinteren Hosentasche. Die Schematismen gehören seit je her zur gefestigten SVG-Rechtsprechung. Auch wenn hier keine bahnbrechenden Entwicklungen zu erwarten sind, ist es doch immer wieder interessant zu sehen, mit welchen Argumenten Prozessierende vor Bundesgericht scheitern. Wir fassen hier gleich an paar Entscheide der letzten Monate zusammen mit Fokus auf das jeweilige Hauptargument:

BGE 6B_1037/2020: Abstand bei geringer Geschwindigkeit

Die meisten hier kennen den Schematismus beim Hintereinanderfahren auf der Autobahn. Wer weniger als 0.6s zum vorfahrenden Fahrzeug hat, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung. Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer mit einem Abstand von 0.55s, dies allerdings bei nur 65-69km/h. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er nicht viel schneller gefahren sei, als man das auch in der Stadt tue, womit sein Handeln nicht rücksichtslos war.

Das Bundesgericht aber pflichtet der Vorinstanz bei, dass hier nicht von der geltenden „1/6-Tacho-Regel“ abgewichen werden muss. Auch allfällige Assistenzsysteme des Autos befreien den Beschwerdeführer nicht davon, einen ausreichenden Abstand einzuhalten. Es mag zwar sein, dass insb. innerorts von der generellen 2-Sekunden-Regel abgewichen werden kann (vgl. BGE 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das ändert aber nichts zu den Regeln für die Autobahn. Das Bundesgericht weist denn auch das Argument zurück, dass die Zwei-Sekunden-Regel aufgrund der Verkehrsdichte gar nicht mehr realisierbar sei.

BGE 6B_884/2021: Fragliche Messmethoden

Der Beschwerdeführer wurde ausserorts mit 30km/h geblitzt, eine grobe Verkehrsregelverletzung. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die Messung mit dem Lasermessgerät nicht gesetzeskonform durchgeführt wurde. Ob die Messung korrekt war, wurde im kantonalen Verfahren gutachterlich geprüft. Der Gutachter konnte aufgrund des Videos die gefahrene Geschwindigkeit nicht zweifelsfrei ermitteln. Es konnte ebenfalls nicht genau erstellt werden, ob das Lasermessgerät die gemessene Geschwindigkeit auf- oder abrundet. Gemäss Art. 8 der VSKV-ASTRA muss der Geschwindigkeitsmesswert auf die nächste ganze Zahl abgerundet werden und danach der Sicherheitsabzug vorgenommen werden. Deshalb, so der Beschwerdeführer, hätte man den vom Messgerät angezeigte Wert von 114 km/h auf 113 km/h abrunden müssen, womit er nach Sicherheitsabzug „nur“ 109 km/h gefahren wäre und damit eine einfach Verkehrsregelverletzung begangen hätte.

Das Bundesgericht bestätigt hier die Meinung der Vorinstanz, dass die Geschwindigkeitsmessung korrekt durchgeführt wurde. Die Vorinstanz war der Ansicht, dass mit der Eichung des Messgeräts bereits erstellt sei, dass dieses die gemessene Geschwindigkeit abrunde. Zudem stellt sich die Vorinstanz auf den Standpunkt, dass die grundsätzlich die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit massgeblich sei. Minimale technische Abweichungen würden bereits vom Sicherheitsabzug nach der ASTRA-Verordnung umfasst. Zwar bezeichnet das Bundesgericht die Ansicht der Vorinstanz, dass die gesetzlich geforderte Abrundung bereits im Sicherheitsabzug enthalten sei als „zweifelhaft“, führt danach aber trotzdem aus, dass die Vorinstanz willkürfrei davon ausgehen dürfte, dass die Messung korrekt war. Dies, obwohl der Rundungsalgorithmus des Messgeräts bis zum Schluss nicht bekannt war (E. 2.6.4.).

BGE 6B_1066/2021: Radarfoto und Halterindiz

Der Beschwerdeführer wurde innerorts mit mit 66 km/h geblitzt. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die kantonalen Instanzen den Sachverhalt willkürlich festgestellt haben, indem sie von seiner Lenkerschaft ausgegangen seien. Aus seiner Sicht sei nämlich das Radarfoto von geringer Qualität und er habe die Fahrt stets bestritten. Die Vorinstanz hingegen stellt sich aufgrund einer Mehrzahl von Indizien auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer gefahren sei, nämlich weil der Beschwerdeführer Halter des Autos ist, wegen seinen Aussagen, dem Radarfoto sowie weiteren Radarfotos von anderen mit dem gleichen Auto begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die Haltereigenschaft bei einem Strassenverkehrsdelikt, das von einem nicht eindeutig identifizierbaren Fahrzeuglenker begangen worden ist, ein Indiz für die Täterschaft sein. Das Gericht kann im Rahmen der Beweiswürdigung ohne Verletzung der Unschuldsvermutung zum Schluss gelangen, der Halter habe das Fahrzeug selber gelenkt, wenn dieser die Tat bestreitet und sich über den möglichen Lenker ausschweigt. Nichts anderes kann gelten, wenn der Halter zwar Angaben zum Lenker macht, diese aber unglaubhaft oder gar widerlegt sind. Sich auf das Aussageverweigerungsrecht zu berufen oder die Möglichkeit ins Spiel zu bringen, nicht gefahren zu sein, hindert das Gericht nicht daran, eine Täterschaft anzunehmen.

Der Beschwerdeführer hat sich darauf beschränkt, seine Täterschaft zu bestreiten, ohne plausible Angaben zu einem anderen Lenker zu machen. Deshalb durfte die Vorinstanz aufgrund des Radarfotos und seiner Haltereingeschaft willkürfrei davon ausgehen, dass er auch gefahren ist.