Keine Fahreignungsabklärung bei 1.58%

Urteil 1C_500/2021: Knapp unter dem Grenzwert (gutgh. Beschwerde)

Bei der Beschwerdeführerin wurde bei einer Polizeikontrolle ein Atemalkoholwert von 0.79 mg/L bzw. 1.58 Promille festgestellt. Gegenüber den Beamten gab sie an, dass sie zwar nicht süchtig sei, aber ein Alkoholproblem „auf der Kippe zum Alkoholismus“ habe. Der vorläufig abgenommene Führerschein gab das Strassenverkehrsamt wieder zurück. Nach Abschluss des Strafverfahrens sanktionierte das Strassenverkehrsamt die Beschwerdeführerin mit einem Führerscheinentzug von vier Monaten. Kurz vor Ablauf des Vollzugs des Führerscheinentzugs ordnete das Strassenverkehrsamt eine verkehrsmedizinische Fahreignungsabklärung an, da ein Verdacht auf eine Alkoholproblematik bestand.

Führerscheine müssen entzogen werden, wenn die Voraussetzungen zur Erteilung nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Leidet jemand an einer (Alkohol)Sucht, muss der Führerschein sicherheitshalber auf unbestimmte Zeit entzogen werden (Art. 16d Abs. 1 lit. b SVG). Bestehen lediglich Zweifel an der Fahreignung, muss eine Fahreignungsuntersuchung angeordnet werden. Fährt jemand mit 0.8 mg/L bzw. 1.6 Promille oder mehr, besteht eine gesetzliche Vermutung, dass ebensolche Zweifel bestehen (Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG). Mit der Fahreignungsabklärung wird i.d.R. auch ein vorsorglicher Entzug der Fahrerlaubnis nach Art. 30 VZV angeordnet. Da die Voraussetzungen der Fahreignungsabklärung und des vorsorglichen Entzugs aber nicht deckungsgleich sind, kann in Ausnahmefällen vom vorsorglichen Entzug abgesehen werden. Die Ausnahme muss von der Behörde nachvollziehbar begründet werden. Das automobilistische Verhalten der betroffenen Person während des Verfahrens muss bei der Sachverhaltsabklärung mitberücksichtigt werden (zum Ganzen E. 3).

Die Atemalkoholprobe der Beschwerdeführerin lag knapp unter dem magischen Wert von 0.8 mg/L bzw. 1.6%, womit eine Fahreignungsabklärung nicht zwingend, aber auch nicht unmöglich ist. Die Beschwerdeführerin wirft den Vorinstanzen vor, den „Leitfaden Fahreignung“ nicht eingehalten zu haben. Dieser stellt jedoch nur eine Orientierungshilfe für Behörden dar. Er ist kein verbindlicher Erlass. Dreh- und Angelpunkt in dieser Sache ist die „Selbstbelastung“ der Beschwerdeführerin, indem sie sich selber ein Alkoholproblem attestierte.

Die Vorinstanzen sahen in dieser Äusserung sowie dem Fiaz von 1.58% genug Zweifel für die Anordnung der Abklärung. Das Bundesgericht widerspricht aber den kantonalen Instanzen. Zunächst weist es darauf hin, dass die Gefahrenlage offenbar keinen vorsorglichen Entzug nötig machte. Zu Gunsten der Beschwerdeführerin wirken sich auch ihr unbescholtener Leumund aus und ebenso favorable Drittauskünfte (Arzt, Arbeitgeber). Während des Verfahrens hat sich die Beschwerdeführerin zudem bewährt. Schliesslich bringt das Bundesgericht vor, dass nicht nachvollziehbar begründet wurde, weshalb die Fahreignungsabklärung ohne vorsorglichen Entzug angeordnet wurde. Die Beschwerde wird gutgeheissen und das kantonale Urteil aufgehoben.

Vorsicht Meinung: Je länger ich darüber nachdenke, desto seltsamer finde ich den Entscheid. Zunächst sagt das Bundesgericht in E. 3.2., dass eine Fahreignungsabklärung nur angeordnet werden darf, wenn ernsthafte Zweifel an der Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Das Gesetz fordert aber „nur“ Zweifel. Die ernsthaften Zweifel werden eigentlich für den vorsorglichen Entzug vorausgesetzt. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit den beiden Sicherungsmassnahmen nahm das Bundesgericht z.B. in Urteil 1C_184/2019 E. 2.1. vor. Zudem kreiert das Bundesgericht vorliegend eine Art Meta-Voraussetzung für die zuständigen Behörden, nämlich dass sie begründen müssen, wieso kein vorsorglicher Entzug angeordnet wurde mit der Fahreignungsabklärung. Aus meiner Sicht aber müssen die Behörden einfach dartun, ob „normale“ Zweifel für die Fahreignungsabklärung oder eben ernsthafte Zweifel für den vorsorglichen Entzug bestehen. Der Entscheid liefert sicher eine gute Basis für den nächsten Stammtisch nach der SVG-Tagung…

2 Gedanken zu „Keine Fahreignungsabklärung bei 1.58%“

  1. Guten Tag,

    Ich schätze Ihren Blog sehr und freue mich immer, wenn Sie einen neuen Beitrag verfassen.

    Betr. Alkohol am Steuer ist es tatsächlich so, dass man ab mehr als 0.8‰ streng und ab 1,6‰ schon wie ein Schwerverbrecher behandelt wird. Insbesondere die admin. Massnahmen, welche meist teurer sind als die Strafe an sich, haben es mehr als in sich.

    Mich würde interessieren, wieso die Schweiz bei jedem „Gugus“ die EU-Richtlinien übernimmt, bei Strafen jedoch viel härter sanktioniert als eben diese. Zu schnelles Fahren in DE ist meist ein relativ günstiges Vergehen im Gegensatz zur CH.

    Weiter würde mich auch interessieren, wie die StVAs mit der Tatsache umgehen werden, dass THC-haltiges Cannabis vom Staat abgegeben wird. Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen? Erhalten die StVAs eine Liste der Konsumenten und verhängen einen Sicherungsentzug, auch wenn nicht motorisiert am Strassenverkehr teilgenommen wird? Werden die aktiv THC/passiv COOH Werte angepasst?

    Fände super, wenn Sie per Blogeintrag auf die verschiedenen Fragen meinerseits eingehen könnten.

    Vielen Dank für Ihre Arbeit und weiterhin gutes Gelingen!

    1. Hi Kaspar
      Das sind tatsächlich alles äusserst interessante Fragen. Geschwindigkeitsüberschreitungen werden in Deutschland tatsächlich etwas milder sanktioniert. Das mag wohl an der Autolobby liegen. Allerdings wurden in naher Vergangenheit auch dort die Strafen erhöht (vgl. den Artikel vom ADAC vom 9.11.2021). Ein Rechtsvergleich zwischen der CH und unseren Nachbarländern bzgl. Alkohol und Betäubungsmittel wäre tatsächlich interessant.

      Auch die zweite (rechtspolitische) Frage, die Sie aufwerfen, ist interessant. Auch wenn Cannabis irgendwann legalisiert werden sollte, dürfte sich bzgl. Strassenverkehr nichts ändern, denn die Verkehrssicherheit muss so oder so gewährleistet sein. Momentan gibt es aus wissenschaftlicher Sicht auch keine bessere Methode als die in der VSKV-ASTRA stipulierten Grenzwerte zur Feststellung, ob jemand wegen Cannabis fahrunfähig war oder eben nicht (vgl. dazu Urteil 6B_282/2021 E. 3.3.3).

      Ob es zu diesen Themen mal einen Beitrag gibt, wird die Zukunft zeigen… =)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert