Sperrfrist für immer wegen Fahren trotz Entzug

Urteil 1C_372/2022: Es ist eigentlich gar nicht so gefährlich…

Der Beschwerdeführer wehrt sich im vorliegenden Fall gegen eine Sperrfrist für immer. Die Fahrerlaubnis wurde bereits vorher wegen Zweifeln an der verkehrsmedizinischen Fahreignung sicherheitshalber entzogen und ein 24-monatiger Entzug gestützt auf Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG wurde auch schon verfügt. Auslösend für die Sperrfrist für immer war, dass bei einer Zollkontrolle in Castasegna festgestellt wurde, dass der von Italien herkommende Beschwerdeführer trotz des Entzugs ein Fahrzeug lenkte. Dass bei einer Grenzabfertigung das SVG angewendet wird, wissen wir ja seit dem letzten Beitrag.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass der kaskadenbedingte Entzug für immer bei ihm unverhältnismässig sei, denn aus seiner Sicht hat er mit seiner Einfahrt beim Zoll niemand gefährdet. Er verweist dabei auch darauf, dass ein verkehrsmedizinisches Gutachten mittlerweile seine Fahreignung unter Auflagen bejahte. Zudem stelle das Fahren trotz Entzug aus seiner Sicht ein Verstoss gegen eine amtliche Anordnung dar und keine Verkehrsregelverletzung, durch welche andere gefährdet werden (E. 3.3).

Mit der Teilrevision des SVG vom 1. Januar 2005 wurden die Massnahmen bei wiederholten Widerhandlungen verschärft. Ziel war es natürlich, Personen aus dem Verkehr zu ziehen, die immer wieder gegen die Verkehrsregeln verstossen. Zudem gilt ab einer gewissen Delikts-Frequenz die gesetzliche Vermutung, dass die charakterliche Fahreignung der betroffenen Person angezweifelt werden muss (Art. 16c Abs. 2 lit. d und e und Art. 16b Abs. 2 lit e und f SVG). Fährt man trotz Sicherungsentzung, muss eine Sperrfrist angeordnet werden, die sich nach den Mindestentzugsdauern des Kaskadensystems bemisst (E. 3.1).

Die vom Strassenverkehrsamt Kt. ZH angeordnete Sperrfrist für immer ist aus diesen Gründen nicht zu beanstanden. In der Lehre wird zwar teilweise postuliert, dass das Fahren trotz Entzug nicht mit anderen Verkehrsregelverletzungen, die eine Gefährdung mit sich bringen, vergleichbar sei und deshalb die Kaskade nicht in jedem Fall angewendet soll. Das Bundesgericht lässt diesen Einwand aber nicht gelten, denn den Materialien kann klar entnommen werden, dass das Fahren trotz Entzug eine schwere Widerhandlung ist (Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG) und die betroffene Person damit nach Fahren trotz Entzug im Kaskadensystem unittelbar eine Stufe weiter nach unten fällt. An diese klare bundesgesetzliche Regelung ist das Bundesgericht gemäss Art. 190 BV gebunden. Das gilt auch für die Grundregel von Art. 16 Abs. 3 SVG, nach welcher die Mindestentzugsdauern grds. nicht unterschritten werden dürfen (E. 3.5).

Bonus:
Urteil 1C_579/2022: Eine Vortrittsmissachung bei der Einfahrt in eine vortrittsberechtigte Strasse mit Unfallfolge ist eine mittelschwere Widerhandlung. Mit entsprechenden Vorbelastungen führt diese zu einem Entzug für immer.

War das noch in der Schweiz?

Urteil 6B_1133/2021: Zollkontrolle und Überwachung im Flughafen

In diesem Urteil werden zwei interessante Fragen beantwortet, nämlich

1. Ist Fahren trotz Entzug beim Schweizer Zoll auf deutschem Staatsgebiet nach CH-Recht strafbar?
2. Dürfen Videos der Überwachungsanlage eines Flughafens als Beweise verwertet werden?

Dem Beschwerdeführer wird neben weiteren Straftaten zweimal Fahren trotz entzogener Fahrerlaubnis vorgeworfen. Im April 2017 wurde er am Grenzübergang Laufenburg bei der Einreise in die Schweiz dabei erwischt, ein Fahrzeug trotz entzogenem Führerausweis gelenkt zu haben. Im Juni 2017 fuhr der Beschwerdeführer mit demselben Auto zu einem Flughafen, wo er von den Überwachungskameras gefilmt wurde.

Zur Widerhandlung vom April 2017 bringt der Beschwerdeführer vor, dass sich die Zollanlage, wo er kontrolliert wurde, auf deutschem Staatsgebiet befindet und damit ausserhalb des Geltungsbereich des Strassenverkehrsgesetzes. Allfällige bilateralen Abkommen fänden hier aus seiner Sicht auch keine Anwendung.

Zwischen der Schweiz und Deutschland gibt es ein Rahmenabkommen, welches die Grenzabfertigung zwischen den Ländern regelt. Im Rahmen der Grenzabfertigung dürfen Zollbeamte das Recht des eigenen Staates anwenden, auch wenn sich der eigentliche Kontrollort im Gebiet des anderen Staates befindet. Begeht eine Person im Rahmen der Grenzabfertigung also beim Schweizer Zoll, der auf deutschem Boden liegt, eine Straftat, so ist Schweizer Recht anwendbar (Art. 4 des Rahmenabkommens). Der Begriff der Grenzabfertigung wird dabei weit ausgelegt. Er umfasst nicht nur zollrechtliche Themen. Es sind auch verkehrspolizeiliche KOntrollen möglich, zu welchen Grenzbeamte gemäss Art. 4 SKV ausdrücklich ermächtigt sind. Entscheidend ist letztlich der Zusammenhang des strafbaren Verhaltens mit dem Grenzübertritt (zum Ganzen E. 1.3). Die verkehrspolizeiliche Kontrolle fand vorliegend auf deutschem Staatsgebiet statt. Die Grenzbeamten durften eine Verkehrskontrolle durchführen und ein Strafverfahren gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG einleiten.

Zum zweiten Vorwurf bringt der Beschwerdeführer vor, dass die Verurteilung seiner Straftaten vom Juni 2017 aufgrund einer privaten Videoüberwachung eines Flughafens erfolgte. Diese Aufnahmen und damit auch alle Folgebeweise sind aus seiner Sicht gemäss Art. 141 Abs. 2 und 4 StPO nicht verwertbar. Insbesondere stört sich der Beschwerdeführer daran, dass die Videoüberwachung nirgends gekennzeichnet ist und er damit nicht (konludent) in das Aufnehmen seiner Personendaten bzw. seines Kontrollschildes einwilligen konnte (E. 2.1).

Von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel sind nur verwertbar, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht. Die Beweismittel müssen zur Aufklärung von schweren Straftaten dienen, wobei darunter nicht nur Verbrechen, sondern auch Vergehen fallen können. Wer Kontrollschilder filmt, bearbeitet Personendaten im Sinne von Art. 3 DSG. Es gelten dabei die Grundsätze von Art. 4 DSG, z.B. dass eine Videoaufnahme erkennbar sein muss, wobei die Verletzung der vorgenannten Grundsätze gemäss Art. 12 DSG zu einer widerrechtlichen Persönlichkeitsverletzung führt. Die Persönlichkeitsverletzung kann allerdings gemäss Art. 13 DSG gerechtfertigt sein. Dann sind die privaten Beweise uneingeschränkt verwertbar (E. 2.3).

Um es kurz zu machen: Ob im Flughafenparking aufgrund der Umstände erkennbar war, ob man gefilmt wird, kann aus Sicht des Bundesgerichts offenbleiben. Für die meisten Leute wäre dies wohl sowieso offensichtlich. Der Flughafen hat ein überwiegendes und damit rechtfertigendes Interesse an der Überwachung seiner Parkhäuser, denn er kann damit für Sicherheit sorgen und allenfalls sogar Straftaten verhindern. Die Datenbearbeitung des Flughafens erweist sich damit im Sinne von Art. 13 DSG gerechtfertigt, womit die belastenden Videoaufnahmen gegen den Beschwerdeführer verwendet werden konnten.

Kleiner Wochenrückblick

Diese Woche sind einige Urteile gefallen, wobei aber keine Blockbuster darunter sind. Deshalb fassen wir diese Urteile summarisch zusammen:

Urteil 6B_1430/2021: Rechtliches Gehör im Berufungsverfahren (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird eine einfache Verkehrsregelverletzung vorgeworfen, weil er im November 2017 mit einem Sattelschlepper einen Selbstunfall verursachte. Nachdem er bereits im Urteil 6B_1177/2019 wegen willkürlicher Beweiswürdigung vor Bundesgericht reüssierte, gelangt er in dieser Sache ein weiteres Mal vor Bundesgericht. Er rügt dabei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die kantonale Berufungsinstanz zunächst eine mündliche Berufungsverhandlung ansetzte und dann doch plötzlich das schriftliche Verfahren anordnete.

Die Berufungsverhandlung ist grds. mündlich durchzuführen. Das schriftliche Verfahren kann nur in den Fällen von Art. 406 StPO angeordnet werden, z.B. wenn Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils bilden und keine reformation in peius droht (Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO). Die schriftliche Durchführung des Verfahrens muss mit Art. 6 EMRK zu vereinbaren sein, d.h. sich auf Fragen beschränken, die eine Anhörung der beschuldigten Person unnötig erscheinen lassen. Das Gericht muss dies von Amtes wegen prüfen (zum Ganzen E. 1.2.1). Das schriftliche Verfahren richtet sich nach Art. 406 Abs. 3 StPO, d.h. die appellierende Person muss die Gelegenheit haben, ihre Berufung schriftlich zu begründen. Es ist offensichtlich, dass die Gerichte im Rahmen des rechtlichen Gehörs die beschuldigte Person anhören müssen. Ist ein kantonales Urteil mangelhaft begründet, weist das Bundesgericht diesen zurück (Art. 112 Abs. 3 BGG).

Im vorliegenden Fall ordnete die Vorinstanz zunächst eine mündliche Verhandlung an, verlangte vom Beschwerdeführer eine schriftliche Berufungsbegründung, wobei sie darauf hinwies, dass dieser an der Verhandlung noch Ergänzungen anbringen könne. Der Beschwerdeführer reichte daraufhin eine „summarische“ Berufungsbegründung ein. Darauf wechselte die Vorinstanz in schriftliche Verfahren, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, sich zu äussern oder seine Berufungsbegründung zu ergänzen. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Urteil 6B_26/2022: Kein milderes Recht für Personenwagen mit Anhänger

Seit Januar 2021 dürfen Personenwagen mit Anhänger auf der Autobahn 100 km/h schnell fahren (Art. 5 Abs. 2 lit. c VRV). Der Beschwerdeführer überschritt im März 2019 auf der Autobahn mit einem Anhänger die damals für diese Fahrzeugkombination geltende Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 36 km/h, wofür er zunächst wegen grober, dann im Rechtsmittelverfahren wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse von CHF 600.00 bestraft wurde. Da mittlerweile die Bestimmungen für Personenwagen mit Anhänger änderten, verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer Ordnungsbusse von CHF 180.00. Da man mit Anhängern bis 3.5 t heute 100 km/h fahren darf, überschritt er die Geschwindigkeit nach heutigem und milderem Recht nur noch um 16km/h, womit aus seiner Sicht eine Ordnungsbusse fällig würde (Ziffer 303.3.d).

Die Anwendung des milderen Rechts nach Art. 2 Abs. 2 StGB gilt nicht uneingeschränkt. Damit die lex mitior angewendet wird, muss die Gesetzesänderung aufgrund einer ethischen Neubewertung des verbotenen Verhaltens erfolgt sein (zum Ganzen E. 1.2.2; s. auch der Beitrag vom August 2022). Auch wenn das Bundesgericht der Begründung der Vorinstanz nicht folgt (E. 1.3), weist es die Beschwerde dennoch ab, denn aus seiner Sicht erfolgte die Änderung der Höchstgeschwindigkeit für Anhänger nicht wegen einer „ethischen Neubewertung“. Es verweist auch auf einen älteren Entscheid, nach welchem die Änderung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn nicht bedeutet, dass Widerhandlungen vor der Änderung nicht trotzdem bestraft werden müssen (BGE 123 IV 84 E. 3b).

Urteil 6B_1201/2021: Die Havarie des modernen Autos

Der Beschwerdeführer überschritt innerorts die Geschwindigkeit um 27 km/h, wofür er wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch, subsidiär die Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, weil sein Fahrzeug einer „Havarie“ unterlegen sei. Das Bundesgericht verweist natürlich zunächst auf den bei Geschwindigkeitsüberschreitungen geltenden Schematismus, wonach die vorliegende Schnellfahrt grds. den objektiven und subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfüllt. Liegen allerdings aussergewöhnliche Umstände vor, ist es möglich, dass der Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt ist.

Der Beschwerdeführer behauptete, dass die „automatische Geschwindigkeitserkennung“ seines Autos, auf welche er sich bis jetzt immer verlassen konnte, nicht funktionierte und er, weil er so total von der „Havarie“ seines Autos überrascht war, erst einige Sekunden später reagieren konnte. Sein Verhalten war insofern nicht rücksichtslos, womit der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht erfüllt sei. Einen Beweis für die „Havarie“ brachte der Beschwerdeführer allerdings nicht bei. Ebensowenig wandte er sich nachher an einen Garagisten. Auch wenn sein Fahrzeug eine Fehlfunktion erlitt, hätte der Beschwerdeführer viel schneller reagieren müssen, denn man muss trotz Assistenzsysteme stets aufmerksam sein und Signale beachten.

Rechtsüberholen: Voll im Trend

Urteil 1C_105/2022: Keine Massnahme ohne qualifizierende Merkmale beim Rechtsüberholen (gutgh. Laienbeschwerde)

Rechtsüberholen ist voll im Trend, zumindest in der Jurisprudenz. Nach dem strafrechtlichen Urteil 6B_231/2022, wo der neue Ordnungsbussentatbestand zum Rechtsübeholen nicht angewendet wurde (zum Ganzen der Beitrag vom 22. Juni 2022) und dem Leitentscheid 1C_626/2021, wo im Administrativmassnahmen-Verfahren die lex mitior der Ordnungsbusse analog angewendet und trotz Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung auf eine Massnahme verzichtet wurde (ausführlich dazu der Beitrag vom 10. Dezember 2022) folgt nun ein weiteres Urteil, wo sich ein Motorradfahrer gegen einen kaskadenbedingt 12-monatigen Führerscheinentzug wehrt, weil seine grobe Verkehrsregelverletzung mittlerweile aus seiner Sicht ein Ordnungsbussentatbestand wurde, der ohne administrativrechtliche Sanktion bleiben muss. Das Urteil schliesst nahtlos an den Leitentscheid 1C_626/2021 an, weshalb der vorliegende Beitrag kurz ausfallen kann.

Der Beschwerdeführer überholte auf der Autobahn mit seinem Motorrad ein anderes Fahrzeug, indem er von der Überhol- auf die Normalspur wechselte, am anderen Fahrzeug vorbeifuhr und seine Fahrt dann auf der Normalspur fortsetzte. Es herrschte schwaches Verkehrsaufkommen, schönes Wetter, gute Sicht, die Strasse war trocken und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass die rechts überholte Person irgendwie erschrocken sei.

Rechtsüberholen auf Autobahnen ist grds. verboten. Im Kolonnenverkehr darf man allerdings rechts an anderen Fahrzeugen vorbeifahren (vgl. Art. 36 Abs. 5 VRV). Führt man ein Rechtsüberholmanöver durch, muss gemäss der neuen Rechtsprechung unterschieden werden, ob ein „einfacher“ Fall von Rechtsüberholen vorliegt, der mit Ordnungsbusse bestraft wird, oder ob dem Rechtsüberholmanöver „qualifizierende“ Umstände zugerechnet werden müssen, womit es nach wie vor eine grobe Verkehrsregelverletzung wäre (E. 4). Der Grundsatz der lex mitior wird auch im Administrativmassnahmenverfahren angewendet. Wenn also eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung unter dem neuen Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllt, dann wird keine Massnahme ausgesprochen (vgl. Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Die Vorinstanz begründete ihre Massnahme insofern auch damit, dass das Rechtsüberholmanöver des Beschwerdeführers auch unter dem neuen Recht eine grobe Verkehrsregelverletzung gewesen wäre und keine Ordnungsbusse gegeben hätte, weil von dem Überholen eine erhöht abstrakte Gefährdung ausging (E. 5). Das Bundesgericht verweist zunächst ein bisschen „krampfhaft“ auf seine gefestigte Rechtsprechung, dass Rechtsüberholmanöver grds. als grobe Verkehrsregelverletzungen bzw. schwere Widerhandlungen zu ahnden sind. Im folgenden geht es aber auf seinen Leitentscheid 1C_626/2021 ein, in welchem es definierte, wann der Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 angewendet wird. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 6).

Kurz gesagt, gab es beim vorliegend beurteilten Überholmanöver keine erschwerenden Umstände und damit auch keine erhöht abstrakte Gefahr. Das Wetter war sogar besser als im Leitentscheid 1C_626/2021 beurteilten Sachverhalt (sonnig vs. bewölkt) und der Motorradfahrer bog nach dem Überholen auch nicht mehr auf die Überholspur zurück.

Der 12-monatige Führerausweisentzug wird aufgehoben.

Entzug für immer bei Unverbesserlichkeit

Urteil 1C_739/2021: Charakterliche Probleme

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Führerausweis-Entzug für immer gemäss Art. 16d Abs. 3 lit. a SVG, wobei ihm die zuständige Behörde Unverbesserlichkeit vorwirft. Der Beschwerdeführer kann dabei auf eine bewegte SVG-Geschichte zurückblicken. Bereits im September 2010 wurde gegenüber dem Beschwerdeführer ein Entzug für immer angeordnet gemäss Art. 16b Abs. 2 lif. f SVG. Diese Massnahme wurde im Oktober 2016 aufgrund eines positiven verkehrspsychologischen Gutachtens aufgehoben, wobei sich dieses dahingehend äusserte, dass bei einer neuen schweren Widerhandlung von einem Rückfall auszugehen und damit die charakterliche Fahreignung wieder negativ zu bewerten sei.

Neben einer leichten Widerhandlung überschritt der Beschwerdeführer im September 2020 – also rund vier Jahre nach der Wiederzulassung zum Strassenverkehr – die Geschwindigkeit innerorts um 33 km/h und beging damit eine schwere Widerhandlung. Bezugnehmend auf das Gutachten schloss die zuständige Behörde auf eine Unverbesserlichkeit des Beschwerdeführers und entzog ihm die Fahrerlaubnis (nach einem vorsorglichen Entzug) für immer gemäss Art. 16d Abs. 3 lit. a SVG.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er nicht einfach so als unverbesserlich taxiert werden darf. Dazu sei mindestens ein aktuelles verkehrspsychologisches Gutachten nötig. Die zuständige Behörde habe ihr Ermessen unterschritten, indem sie ein solches nicht einholte. Die Vorinstanz begründete den Entzug nach Art. 16d Abs. 3 lit. a SVG damit, dass dieser als ultima ratio angeordnet werden muss, wenn eine Person bereits die letzte Stufe des Kaskadensystems erreicht hat. Für die Anordnung sei auch kein zusätzliches Gutachten notwendig. Nur wenn zwischen dem letzten Entzug für immer und der neuen Widerhandlung mehr als fünf Jahre vergangen wären, hätte ein neues Gutachten angeordnet werden müssen (E. 4.1. f.)

Gemäss Art. 16d Abs. 3 lit. a SVG wird unverbesserlichen Personen der Führerausweis für immer entzogen. Das bedeutet allerdings keinen Entzug auf Lebenszeit, sondern dass die Fahrerlaubnis wiedererteilt werden kann, wenn nach fünf Jahren der Wegfall des Fahreignungsmangels bewiesen wird (Art. 23 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 17 Abs. 4 SVG). Der Sicherungsentzug für immer ist eine der einschneidensten Massnahmen im SVG, greift tief in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person ein und dient offensichtlich dazu, übrige Verkehrsteilnehmer von unverbesserlichen Personen zu schützen. Es handelt sich um eine qualifizierte Version des Sicherungsentzuges nach Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG und darf nur in ganz offensichtlichen Fällen ohne Gutachten angeordnet werden, z.B. wenn eine Person sagt, dass sie auch in Zukunft gegen das SVG verstossen will oder aufgrund ihres Verhaltens über einen längeren Zeitraum hinweg ihren Willen zur Verletzung der Verkehrsregeln manifestiert hat. Die Massnahme knüpft an die fehlende charakterliche Fahreignung und nicht an etwaige Vortaten. Ihr kommt insofern im systematischen Gefüge der Sicherungsmassnahmen als Auffangstatbestand eigenständige Bedeutung zu und sie ist demnach auch nicht von Art. 16b Abs. 2 lit. f oder Art. 16c Abs. 2 lit. e SVG abhängig (E. 4.3).

Da der Beschwerdeführer dreieinhalb Jahre nach der Wiederzulassung zum Strassenverkehr zunächst eine Verwarnung erhielt, sich aber durch diese nicht beeindrucken liess und wenige Monate später sogleich wieder eine schwere Widerhandlung beging, durfte ohne weiteres von einer Unverbesserlichkeit ausgegangen werden, denn auch nach dem Kaskadensystem hätte der Beschwerdeführer mit seiner schweren Widerhandlung die letzte Stufe gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. e SVG erreicht. Letztlich ist die Anordnung dieser Massnahme auch nicht unverhältnismässig. Auch wenn der Beschwerdeführer seine Arbeitsstelle verlieren könnte, der Kontakt zu seiner Tochter und seinem Bruder eingeschränkt wird, ist die Massnahme doch erforderlich, d.h. geeignet und zumutbar, um übrige Verkehrsteilnehmer zu schützen.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Betriebsgefahr des stehenden Autos

Urteil 4A_314/2022: Wenn der Katalysator ein Brand verursacht

In diesem Fall macht ein Bauer bei einer Motorfahrzeughaftpflichtversicherung Ansprüche geltend, nachdem das abgestellte Fahrzeug eines Lieferanten durch einen heissen Katalysator einen Stallbrand verursachte. Das erstinstanzliche Gericht hiess die Klage gut, wobei es ausführte, dass der heisse und brandauslösende Katalysator als Folge des maschinellen Betriebs des Lieferwagens den Brand auslöste und damit die Haftpflichtversicherung aus Betriebsgefahr hafte. Das Kantonsgericht SZ wiederum hiess die gegen dieses Urteil erhobene Berufung gut mit der Begründung, dass der Katalysator sich zwar während dem Betrieb des Lieferwagens erhitzte, die Hitze selber dann aber nicht dem Betrieb des Fahrzeuges dient und damit auch keine dem Betrieb eigene Gefahr ist.

Umstritten ist in diesem Fall der Inhalt der Betriebsgefahr, denn gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG haftet ein Motorfahrzeughalter (bzw. seine Haftpflichtversicherung), wenn durch den Betrieb seines Fahrzeuges ein Mensch getötet wird oder Sachschaden entsteht. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Vorinstanz den maschinentechnischen Betriebsbegriff falsch ausgelegt habe, indem sie die durch den Betrieb des Lieferwagens entstandene Hitze am Katalysator nicht der Betriebsgefahr des Lieferwagens zurechnete, denn zumindest bei einem Verbrennungsmotor ist auch Hitze für die Fortbewegung eines Autos nötig.

Die Kausalhaftung von Art. 58 Abs. 1 SVG wird ausgelöst, wenn ein Motorfahrzeug in Betrieb ist. Dabei wird vom maschinentechnischen Betriebsbegriff ausgegangen. Der Halter haftet nur, wenn der Unfall in seiner Gesamtheit betrachtet mit der besonderen Gefahr, die durch den Gebrauch der maschinellen Einrichtungen des Motorfahrzeugs geschaffen wird, zusammenhängt. Ob das Auto dabei fährt oder steht, spielt keine Rolle. Es stellt sich also die Frage, ob ein heisser Katalysator bei einem parkierten Auto unter den maschinentechnischen Betriebsbegriff subsumiert werden kann (E. 3.3).

Die genaue Grenze zwischen dem Betrieb eines Motorfahrzeugs und dessen Nichtbetrieb lässt sich nicht rein aufgrund technischer Kriterien und schon gar nicht abstrakt beantworten, sondern muss jeweils wertend anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Auch wenn der Katalysator durch den Betrieb des Lieferwagens erhitzt wurde und zugleich ursächlich für den Stallbrand war, so erscheint die Brandgefahr als solche nicht als eine Gefahr, die dem Betrieb eines Motorfahrzeuges inhärent ist. Vielmehr hätte jeder in der Scheune abgestellte heisse Gegenstand dieselbe Brandgefahr ausgelöst. Aus Sicht des Bundesgerichts verwirklichte sich vorliegend eine gewöhnliche (Brand)Gefahr, die beim Lagern von heissen Gegenständen an ungeeigneten Orten entsteht. Zufälligerweise war der heisse Gegenstand hier einfach ein Auto bzw. dessen Katalysator (E. 3.4.3). Die Annahme der Halterhaftung hätte aus Sicht des Bundesgerichts vorliegend auch dem Zweck von Art. 58 Abs. 1 SVG widersprochen. Die strenge Halterhaftung wurde eingeführt, weil durch die Inbewegungsetzung eines tonnenschweren Autos sehr spezifische Gefahren entstehen, wie z.B. Schwierigkeiten beim Anhalten und Ausweichen von Hindernissen, mangelnde Stabilität, Lärm oder Vibrationen. Die Halterhaftung wird letztlich durch das öffentliche Interesse begrenzt. Klare (negative) Folgen des Autofahrens wie Unfälle werden von der Halterhaftung umfasst, weil dies auch im öffentliche Interesse liegt. Nicht im öffentlichen Interesse jedoch ist nach Ansicht es Bundesgerichts, dass ein Halter haftet, wenn sein noch heisses Auto ein Brand verursacht (E. 3.4.4). Und letztlich verweist das Bundesgericht darauf, dass man mit der strengen Halterhaftung aus rechtspolitischer Sicht die Folgen der Fortbewegung mit einem Auto abfedern wollte und nicht jene eines stehenden Fahrzeuges. Der Brand hängt daher, in seiner Gesamtheit betrachtet, nicht mit der besonderen Gefahr zusammen, die durch den Gebrauch der maschinellen Einrichtungen des Motorfahrzeugs geschaffen wird (zum Ganzen E. 3.4.5).

Die Halterhaftung wurde vorliegend zu Recht abgelehnt.

Rückzug der Einsprache bei geänderter Sach- und/oder Rechtslage

Urteil 6B_222/2022: „Die Einsprache, die ich bereute.“ (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Im Bereich einer Baustelle innerorts überschritt der Beschwerdeführer die Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h um 49 km/h. Er wurde dafür wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen bestraft. Gegen diesen Strafbefehl erhob der Beschwerdeführer Einsprache, mit welcher er die Genauigkeit der Geschwindigkeitsmessung in Frage stellte. Das von der Staatsanwaltschaft dazu veranlasste Gutachten kam allerdings zum Schluss, dass der Beschwerdeführer 50 km/h oder schneller gefahren ist. Trotz Rückzugs der Einsprache erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen krasser Geschwindigkeitsüberschreitung, also wegen dem Rasertatbestand. Die kantonalen Instanzen verurteilten den Beschwerdeführer wegen Rasens. Der Beschwerdeführer widersetzt sich dieser Verurteilung, da er aus seiner Sicht seine Einsprache zurückgezogen hatte und damit der ursprüngliche Strafbefehl rechtskräftig geworden sei.

Wird gegen einen Strafbefehl Einsprache erhoben, hat die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 355 StPO folgende Möglichkeiten, nachdem sie die weiteren Beweise abgenommen hat:

a. am Strafbefehl festhalten.
b. das Strafverfahren einstellen.
c. einen neuen Strafbefehl erlassen.
d. Anklage erheben.
e. nicht vom Gesetz erfasst wird die Möglichkeit, den Strafbefehl zu ergänzen (zum Ganzen der Beitrag vom 21.10.2019)

Ergibt die Untersuchung bzw. die Abnahme der Beweise nach der Einsprache, dass sich die Sach- oder Rechtslage anders präsentiert und damit auch das Strafmass oder die Sanktionen ändern, ist die Staatsanwaltschaft nicht mehr an den ursprünglichen Strafbefehl gebunden. Das Gebot der „reformatio in peius“ gilt dann nicht mehr. Die Staatsanwaltschaft muss danach einen neuen Strafbefehl erlassen oder Anklage erheben, je nachdem ob das Strafmass nach der neuen Sach- oder Rechtslage noch strafbefehlstauglich ist. Für so neu entdeckte Delikte muss gemäss Art. 309 StPO eine neue Untersuchung eröffnet werden. Sie werden vom ursprünglichen Strafbefehl nicht mehr umfasst, womit auch der Rückzug einer allfälligen Einsprache diese Delikte nicht tangiert (E. 1.1.2 f.).

Daraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft trotz Rückzugs der Einsprache Anklage erheben durfte, da diese aufgrund der neuen Beweise bzw. des Gutachtens nun davon ausgehen musste, dass der Rasertatbestand erfüllt war. Das BGer verweist auch darauf, dass die Einsprache ein Rechtsbehelf und kein Rechtsmittel ist. Nach einer Einsprache kann die betroffene Person diese grds. nicht einfach zurückziehen. Vielmehr ist, wenn Einsprache erhoben wurde, die Verfügungsmacht der beschuldigten Person bis zum Entscheid der Staatsanwaltschaft über den neuen Verfahrensausgang nach Art. 355 Abs. 3 lit. a-d StPO entzogen.

Strafprozessual lief also alles rechtens ab.

Im Sinne einer Eventualbegründung bringt der Beschwerdeführer vor, dass er nicht vorsätzlich gehandelt habe. Dem subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 4 SVG haben wir uns bereits im Beitrag vom 4. November 2022 ausführlich gewidmet. Deshalb machen wirs hier kurz: Wer i.S.v. Art. 90 Abs. 4 SVG rast, erfüllt grds. auch den subjektiven Tatbestand. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wie z.B. einem technischen Defekt am Gaspedal, einer Drohung oder Geiselnahme, kann der subjektive Tatbestand entfallen bzw. ein Rechtfertigungsgrund für das Rasen vorliegen. Das Argument des Beschwerdeführers, dass die Signalisation nicht ausreichend war, verwarf die Vorinstanz zu Recht. Auch die Angabe eines technischen Problems mit dem Turbolader erwies sich als unglaubwürdig.

Somit wird die Beschwerde abgewiesen.