Diese Woche sind einige Urteile gefallen, wobei aber keine Blockbuster darunter sind. Deshalb fassen wir diese Urteile summarisch zusammen:
Urteil 6B_1430/2021: Rechtliches Gehör im Berufungsverfahren (gutgh. Beschwerde)
Dem Beschwerdeführer wird eine einfache Verkehrsregelverletzung vorgeworfen, weil er im November 2017 mit einem Sattelschlepper einen Selbstunfall verursachte. Nachdem er bereits im Urteil 6B_1177/2019 wegen willkürlicher Beweiswürdigung vor Bundesgericht reüssierte, gelangt er in dieser Sache ein weiteres Mal vor Bundesgericht. Er rügt dabei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die kantonale Berufungsinstanz zunächst eine mündliche Berufungsverhandlung ansetzte und dann doch plötzlich das schriftliche Verfahren anordnete.
Die Berufungsverhandlung ist grds. mündlich durchzuführen. Das schriftliche Verfahren kann nur in den Fällen von Art. 406 StPO angeordnet werden, z.B. wenn Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils bilden und keine reformation in peius droht (Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO). Die schriftliche Durchführung des Verfahrens muss mit Art. 6 EMRK zu vereinbaren sein, d.h. sich auf Fragen beschränken, die eine Anhörung der beschuldigten Person unnötig erscheinen lassen. Das Gericht muss dies von Amtes wegen prüfen (zum Ganzen E. 1.2.1). Das schriftliche Verfahren richtet sich nach Art. 406 Abs. 3 StPO, d.h. die appellierende Person muss die Gelegenheit haben, ihre Berufung schriftlich zu begründen. Es ist offensichtlich, dass die Gerichte im Rahmen des rechtlichen Gehörs die beschuldigte Person anhören müssen. Ist ein kantonales Urteil mangelhaft begründet, weist das Bundesgericht diesen zurück (Art. 112 Abs. 3 BGG).
Im vorliegenden Fall ordnete die Vorinstanz zunächst eine mündliche Verhandlung an, verlangte vom Beschwerdeführer eine schriftliche Berufungsbegründung, wobei sie darauf hinwies, dass dieser an der Verhandlung noch Ergänzungen anbringen könne. Der Beschwerdeführer reichte daraufhin eine „summarische“ Berufungsbegründung ein. Darauf wechselte die Vorinstanz in schriftliche Verfahren, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, sich zu äussern oder seine Berufungsbegründung zu ergänzen. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Urteil 6B_26/2022: Kein milderes Recht für Personenwagen mit Anhänger
Seit Januar 2021 dürfen Personenwagen mit Anhänger auf der Autobahn 100 km/h schnell fahren (Art. 5 Abs. 2 lit. c VRV). Der Beschwerdeführer überschritt im März 2019 auf der Autobahn mit einem Anhänger die damals für diese Fahrzeugkombination geltende Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 36 km/h, wofür er zunächst wegen grober, dann im Rechtsmittelverfahren wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse von CHF 600.00 bestraft wurde. Da mittlerweile die Bestimmungen für Personenwagen mit Anhänger änderten, verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer Ordnungsbusse von CHF 180.00. Da man mit Anhängern bis 3.5 t heute 100 km/h fahren darf, überschritt er die Geschwindigkeit nach heutigem und milderem Recht nur noch um 16km/h, womit aus seiner Sicht eine Ordnungsbusse fällig würde (Ziffer 303.3.d).
Die Anwendung des milderen Rechts nach Art. 2 Abs. 2 StGB gilt nicht uneingeschränkt. Damit die lex mitior angewendet wird, muss die Gesetzesänderung aufgrund einer ethischen Neubewertung des verbotenen Verhaltens erfolgt sein (zum Ganzen E. 1.2.2; s. auch der Beitrag vom August 2022). Auch wenn das Bundesgericht der Begründung der Vorinstanz nicht folgt (E. 1.3), weist es die Beschwerde dennoch ab, denn aus seiner Sicht erfolgte die Änderung der Höchstgeschwindigkeit für Anhänger nicht wegen einer „ethischen Neubewertung“. Es verweist auch auf einen älteren Entscheid, nach welchem die Änderung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn nicht bedeutet, dass Widerhandlungen vor der Änderung nicht trotzdem bestraft werden müssen (BGE 123 IV 84 E. 3b).
Urteil 6B_1201/2021: Die Havarie des modernen Autos
Der Beschwerdeführer überschritt innerorts die Geschwindigkeit um 27 km/h, wofür er wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch, subsidiär die Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, weil sein Fahrzeug einer „Havarie“ unterlegen sei. Das Bundesgericht verweist natürlich zunächst auf den bei Geschwindigkeitsüberschreitungen geltenden Schematismus, wonach die vorliegende Schnellfahrt grds. den objektiven und subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfüllt. Liegen allerdings aussergewöhnliche Umstände vor, ist es möglich, dass der Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt ist.
Der Beschwerdeführer behauptete, dass die „automatische Geschwindigkeitserkennung“ seines Autos, auf welche er sich bis jetzt immer verlassen konnte, nicht funktionierte und er, weil er so total von der „Havarie“ seines Autos überrascht war, erst einige Sekunden später reagieren konnte. Sein Verhalten war insofern nicht rücksichtslos, womit der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht erfüllt sei. Einen Beweis für die „Havarie“ brachte der Beschwerdeführer allerdings nicht bei. Ebensowenig wandte er sich nachher an einen Garagisten. Auch wenn sein Fahrzeug eine Fehlfunktion erlitt, hätte der Beschwerdeführer viel schneller reagieren müssen, denn man muss trotz Assistenzsysteme stets aufmerksam sein und Signale beachten.