Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part I

Urteil 6B_286/2022: Vorsicht Kinder (gutgh. Beschwerde von den Privatklägern und der Staatsanwaltschaft)

Der Sachverhalt stark zusammengefasst: Der Beschwerdegegner und Unfallverursacher fuhr mit seinem Fahrzeug trotz Entzug des Führerausweises und in angetrunkenem Zustand (0.97%) nach Hause. Bei einer Schule und obwohl er Kinder am Strassenrand bemerkte, reduzierte der Beschwerdegegner seine Geschwindigkeit nicht und fuhr ca. 45 bis 50 km/h. Weil er von den Scheinwerfern eines nachfolgenden Fahrzeuges via Rückspiegel geblendet wurde, bemerkte er nicht, dass ein fünfjähriges Kind vor ihm mit seinem Trottinet einen Fussgängerstreifen passierte, von rechts nach links. Der Beschwerdeführer erfasste das Kind ungebremst, wodurch es 25 m weggeschleudert wurde. Es wurde lebensgefährlich verletzt. Gemäss einem unfallanalytischen Gutachten kam das Kind hinter einer Mauer hervor, von welcher es vor dem Unfall ca. 1-5s partiell verdeckt wurde. Ganz verdeckt war das Kind aber nicht. Wenn der Beschwerdegegner 35 km/h gefahren wäre, hätte es wohl kein Unfall gegeben. Zudem habe die Angetrunkenheit keinen Einfluss auf die Reaktionsfähigkeit gehabt. Von der ersten Instanz wurde der Beschwerdegegner u.a. wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung verurteilt. Im Berufungsverfahren hingegen wurde der Beschwerdegegner aber von diesem Vorwurf freigesprochen. Dagegen wehrt sich die Privatklägerschaft sowie die Staatsanwaltschaft.

Die fahrlässige schwere Körperverletzung ist ein Offizialdelikt (Art. 125 Abs. 2 StGB). Es wird eine Sorgfaltspflichtsverletzung vorausgesetzt, die bei Strassenverkehrsdelikten anhand der Verkehrsregeln beurteilt wird. Man stellt sich die Frage, ob der Verkehrsunfall für den Verursacher vorhersehbar und insofern vermeidbar war (zum Ganzen ausführlich E 4.1).

Im Strassenverkehr gilt der Vertrauengrundsatz, d.h. man darf grundsätzlich davon ausgehen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die Verkehrsregeln halten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Gegenüber Kinder gilt aber eine erhöhte Sorgfaltspflicht, womit der Vertrauensgrundsatz ihnen gegenüber grundsätzlich nicht gilt („Le principe de la confiance ne s’applique donc pas à l’égard de ces personnes“; E: 4.2.1; Art. 26 Abs. 2 SVG).

Ein Fahrzeuglenker muss sein Auto stets beherrschen (Art. 31 Abs. 1 SVG), seine Geschwindigkeit den Umständen anpassen (Art. 32 Abs. 1 SVG), wobei bei Fussgängerstreifen wiederum eine erhöhte Sorgfaltspflicht gilt (Art. 33 Abs. 2 SVG). Dass bedeutet, dass der Autofahrer den Fussgängerstreifen und angrenzenden Trottoirs eine erhöhte Aufmerksankeit schenken, so dass er Fussgängern den Vortritt gewähren kann. Die erhöhte Sorgfaltspflicht geht sogar soweit, dass der Autofahrer darauf gefasst sein muss, dass sich Fussgänger regelwidrig verhalten und z.B. bei einem mit Mittelinsel getrennten Fussgängerstreifen ohne anzuhalten einfach durchlaufen (E. 4.2.4).

Der Verkehrsunfall geschah um 20.45 Uhr. Deshalb ging die Vorinstanz davon aus, dass der Beschwerdegegner nicht unbedingt mit einem Kind auf einem Trottinett rechnen musste. Auch dass das Kind partiell von einer Mauer verdeckt war und mit 11 km/h um einiges schneller unterwegs war, als ein Fussgänger, liess den Unfall als unvermeidbar erscheinen. Autofahrer müssten aus Sicht der Vorinstanz am Unfallort generell 35k km/h fahren oder systematisch anhalten am Fussgängerstreifen. Insofern lag aus vorinstanzlicher Sicht keine Sorgfaltspflichtsverletzung vor bzw. war der adäquate Kausalverlauf unterbrochen (E. 4.3).

Das Bundesgericht sieht das anders. Wenn ein Autofahrer in eine Verkehrssituation kommt, wo er aufgrund der Umstände bzw. schlechten Sichtverhältnissen Fussgänger eher spät sehen kann, muss er seine Geschwindigkeit anpassen. Der Beschwerdegegner kannte zudem die Unfallstelle und sah zuvor auch noch spielende Kinder, obwohl bereits 20.45 Uhr war. Auch dass der Unfallort in der Nähe eines Schul-Sportplatzes war, spricht gegen den Beschwerdegegner. Unter diesen Umständen hätte der Beschwerdegegner seine Geschwindigkeit anpassen müssen, sodass er einem Fussgänger hätte den Vortritt gewähren können. Der Unfall war für ihn vorherseh- und insofern auch vermeidbar. Das gilt auch, wenn ein Kind mit einem Trottinett schneller als Schrittgeschwindigkeit unterwegs war.

Der Beschwerdegegner hätte also als ortskundiger seine Geschwindigkeit anpassen müssen. Die Beschwerden der Staatsanwalt- und Privatklägerschaft werden gutgeheissen.

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