Urteil 6B_239/2022: Vorsicht Lotsen (teilw. gutgh. Beschwerde)
Weil es gut zum aktuellen Thema passt, holen wir dieses bereits etwas ältere Urteil aus dem Backlog und fassen es hier auch kurz zusammen.
Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung veruteilt. Er fuhr am Morgen in Basel auf der Missionsstrasse. Dabei sahr er, wie der Geschädigte auf die Strasse trat, um einen Lieferwagen auf die Strasse zu lotsen. Der Beschwerdeführer passierte den Geschädigten dann mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h mit so geringem Abstand, dass dessen Bein vom Fahrzeug erfasst wurde. Der Geschädigte stürzte zu Boden und erlitt einen Bruch des Sprunggelenks. Die kantonalen Instanzen hiessen zudem die Zivilforderung des Geschädigten im Grundsatze gut und auferlegten dem Beschwerdeführer eine Haftungsquote von 100%.
Der Geschädigte bringt zunächst vor, dass der Beschwerdeführer bzgl. der zivilrechtlichen Haftungsquote gar kein rechtlich geschütztes Interesse mehr habe, denn dessen Motorhaftpflichtversicherung gab bereits eine Haftungsanerkennung zur vollen Quote ab, aus reiner Kausalhaftung. Auch wenn dem so wäre, hat der Beschwerdeführer nach Ansicht des Bundesgerichts aber trotzdem ein rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde bzgl. den zivilrechtlichen Folgen des Unfalles, auch wenn seine MFH die Haftung zur vollen Quote anerkannte. Es kann nämlich sein, dass die MFH nach der Schadenregulierung gegenüber dem Beschwerdeführer Regressansprüche geltend macht (Art. 65 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 14 Abs. 2 VVG), worauf sich die gerichtlich festgestellte Haftungsquote auswirkt (E. 3.3).
Neben einer Verletzung des Anklageprinzips (E. 4) und einer willkürlichen Sachverhaltsdarstellung (E. 5) rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 125 StGB. Aus seiner Sicht trägt der Geschädigte die Schuld am Unfall bzw. seiner Körperverletzung, denn dieser sei nicht zur Verkehrsregelung berechtigt gewesen, sei grundlos auf die Strasse gestanden und habe sich rückwärts und damit unvorsichtig in den Verkehr hineinbewegt (E. 6.1).
Eine fahrlässige Körperverletzung setzt eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus, die sich im Strassenverkehr nach dem Strassenverkehrsgesetz bemisst. Strafbar ist das Verhalten des Unfallverursachers, wenn dieser den Unfall vorhersehen und insofern vermeiden hätte können. Trägt das Opfer eine Mitschuld am Unfall in Form eines Verhaltens, mit welchem schlicht nicht gerechnet werden muss, kann dies den adäquaten Kausalverlauf unterbrechen (zum Ganzen E. 6.2.2).
Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG ist gegenüber allen Verkehrsteilnehmern ausreichend Abstand zu wahren. Zudem muss man die Geschwindigkeit den Umständen anpassen. Man darf zwar darauf vertrauen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten. Der Vertrauensgrundsatz gilt allerdings nicht uneingeschränkt (Art. 26 SVG).
Laut der Vorinstanz bemerkte der Beschwerdeführer den Lotsen auf der Strasse und er interpretierte die Situation auch richtig. Tortzdem setzte er seine Fahrt mit 30 bis 35 km/h fort und fuhr am Geschädigten nur mit 50 cm vorbei. Dabei wurde der Geschädigte vom Fahrzeug des Beschwerdeführers erfasst. Der Beschwerdeführer hätte den Unfall ohne weiteres vermeiden können, wenn er gestoppt und das Manöver der Lieferwagen abgewartet hätte oder zumindest sein Tempo massiv reduziert und in grösserem Abstand am Lotsen vorbeigefahren wäre. Eine „eigenverantwortlich gewollte Selbstgefährdung“ des Lotsen, die den Kausalverlauf unterbrechen würde, nahm die Vorinstanz nicht an (E. 6.3).
Das Bundesgericht stimmt der Vorinstanz grds zu. Es verweist aber auch darauf, dass die Grösse des seitlichen Abstands, der gegenüber Fussgängern einzuhalten ist, nicht allgemein zahlenmässig festgelegt werden kann. Sie richtet sich vielmehr unter anderem nach der Breite der Fahrbahn, den Verkehrs- und Sichtverhältnissen, der Geschwindigkeit des Fahrzeugs sowie dem Alter und dem Verhalten der Fussgänger. In einer engen Gasse in einem tessiner Bergdorf kann ein halber Meter bei entsprechend langsamem Tempo ausreichend sein. In anderen Konstellationen, höhere Geschwindigkeit, grosse Strasse sowie dem Umstand, dass sich ein Fussgänger auf ein nahes Vorbeifahren nicht gefasst ist, sind 50 cm dann wieder zu wenig. Der Beschwerdeführer hätte also entweder warten, oder den Abstand oder sein Tempo anpassen müssen. Der Unfall war vermeidbar, womit eine Sorgfaltspflichtsverletzung vorliegt (E. 6.4.2).
Das Bundesgericht setzt sich dann noch mit der Frage auseinander, ob bei Selbstgefährdungen durch Fussgänger im Strassenverkehr stets von einer stillschweigenden Einwilligung in Körperverletzungen ausgegangen werden kann. Im Gegensatz zu gewissen Sportarten ist dies im Strassenverkehr allerdings nicht der Fall. Wer sich als Fussgänger verkehrsregelwidrig auf die Fahrbahn begibt, willigt daher nicht ein, von einem Fahrzeug angefahren und verletzt zu werden (E. 6.4.3).
Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung ist also korrekt. Die Beschwerde wurde aber gutgeheissen, weil die Vorinstanz ohne hinreichende Begründung von einer Haftungsquote von 100% zu Lasten des Beschwerdeführers ausging (E. 7) und weil die festgesetzte Parteientschädigung für den Privatkläger nicht nachvollziehbar war (E. 8).