Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Führerflucht als besonders leichter Fall?

Urteil 1C_170/2023: Die Krux mit der Katalogtat

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob auch bei Katalogtaten gemäss Art. 16b Abs. 1 oder 16c Abs. 1 SVG ein besonders leichter Fall angenommen werden kann.

Der Beschwerdeführer schleppte mit einem Zugfahrzeug ein anderes Auto ab. Während er an einer roten Ampel stand, missachtete ein Fahrradfahrer seinerseits ein Rotlicht, fuhr in das gespannte Abschleppseil, stürzte und verletzte sich dabei. Der Beschwerdeführer fuhr danach weiter. Im Strafverfahren wurde er zwar wegen „Führerflucht“ schuldig gesprochen. Von einer Bestrafung wurde nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG abgesehen.

Der Führerausweis wurde für drei Monate entzogen, unter Annahme einer schweren Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. e SVG). Interessant dabei ist, dass das ASTRA in seiner Stellungnahme zu der Massnahme ausführte, dass diese sich in einem Wertungswiderspruch zum Strafurteil befände. Ein dreimonatiger Führerausweis-Entzug sei im vorliegenden Spezialfall stossend. Darauf stützt sich auch der Beschwerdeführer. Auch wenn Führerflucht vorläge, sei läge mangels Gefährdung und schweren Verschulden keine schwere Widerhandlung vor. Die zuständige Behörde stellt darauf ab, dass besonders leichte Fälle nur Unter den Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 4 SVG angenommen werden können. Im vorliegenden Fall seien aber die Voraussetzungen einer Führerflucht erfüllt, weshalb die Mindestentzugsdauer von drei Monaten zur Anwendung gelangen müssen. Diese dürfe bekanntlich nicht unterschritten werden.

Zunächst äussert sich das Bundesgericht zum Begriff der „Führerflucht“ und stellt fest, dass der administrativ- und strafrechtliche Begriff der Führerflucht deckungsgleich sind (E. 5.2.1). Dann erinnert es daran, dass die Administrativ-Behörde in der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes frei ist. Zudem ist das Ziel des Administrativmassnahmen-Verfahrens nicht, jemanden zu bestrafen (sowie im Strafverfahren), sondern jemanden zu erziehen, auch wenn die erzieherische Massnahme von der betroffenen Person als Strafe empfunden wird (E. 5.2.2). Da in beiden Verfahren die Voraussetzungen der Führerflucht bejaht wurden, ist auch der Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ gewahrt (E. 5.2.3). Damit verfängt es auch nicht, wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass sein Verschulden gering und die Gefährdung leicht war. Denn diese Argumentation bezieht sich auf Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG, nicht aber auf die Katalogtat der Führerflucht (E. 5.2.4). Und schliesslich kann kein besonders leichter Fall vorliegen, wenn ein Katalogtatbestand erfüllt ist (E. 5.3).

Auf eine Massnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 SVG kann auch nicht verzichtet werden. Dass die Mindestentzugdauer einer Warnmassnahme nicht unterschritten werden darf, hat das Bundesgericht wiederholt bestätigt (s. eine gute Auflistung der Rechtsprechung in E. 6.1). Auch wenn hier ein Ausnahmefall vorliegt, liegt keine vom Gericht zu füllende Gesetzeslücke vor, wenn im Gesetz der „besonders leichte Fall einer Führerflucht“ nicht geregelt ist. Der Beschwerdeführer muss mit der Mindestentzugsdauer sanktioniert werden.

Zwei neue Urteile im Massnahmenrecht

Urteil 1C_434/2023: Ist die Fahreignungsabklärung eine vorsorgliche Massnahme? (wird amtl. publ.)

In diesem Urteil beantwortet das Bundesgericht die Frage, ob eine Fahreignungsabklärung ohne vorsorglicher Entzug unter Art. 98 BGG subsumiert wird oder nicht.

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Der Beschwerdeführer verursachte in der Berner Altstadt einen Selbstunfall, bei welchem sein Fahrzeug erheblich beschädigt wurde (z.B. Achsenbruch). Danach fuhr er noch mehr als einen Kilometer weiter, missachtete ein „Einfahrt Verboten“ Signal und stellte sein Fahrzeug im Parkverbot ab. Er habe einen wichtigen Termin gehabt. Das Strassenverkehrsamt ordnete deswegen eine Fahreignungsabklärung der Stufe 3 an.

Zunächst klärt das Bundesgericht eine Grundsatzfrage, nämlich ob eine Fahreignungsabklärung auch unter die vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 98 BGG fällt. Die Frage hat sich bis heute nicht gestellt, weil die Fahreignungsabklärung in der Regel mit einem vorsorglichen Entzug kombiniert wird. Nach einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung (E. 2.3) sowie den Materialien zum BGG (E. 2.4) kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Abklärungen nach Art. 15d SVG ebenfalls Art. 98 BGG zu unterstellen sind. Gerügt werden können also nur verfassungsmässige Rechte.

Trotzdem, damit der Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt wird, aber wohl auch letztmalig prüft das Bundesgericht, ob die Anordnung der Fahreignungsabklärung gegen Bundesrecht verstiess.

Fahreignungsabklärungen, die aufgrund von Art. 15d SVG angeordnet werden, müssen von einer verkehrsmedizinischen Fachperson der Stufe 3 oder 4 durchgeführt werden (Art. 28a Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a und b VZV). Für die Anordnung müssen Zweifel an der Fahreignung bestehen. Diese lagen in diesem Fall vor. Der über 80-jährige Beschwerdeführer schien nach dem Unfall sein Ziel, nämlich ein Zahnarzttermin mit einem „geistigen Röhrenblick“ zu verfolgen. Gemäss dem Leitfaden zur Fahreignung kann ein deutlich auffälliges Verhalten im Verkehr Indiz einer hirnorganischen Krankheit sein. Dass sich der Beschwerdeführer nach dem Unfall nicht um den Schaden kümmerte, sondern unbeirrt zu seinem Zahnarzttermin fuhr, liess sich auch nicht durch Alkohol oder Betäubungsmittel erklären. Deshalb durfte aufgrund des Unfalles an der Fahreignung gezweifelt werden, auch wenn die letzte Kontrolluntersuchung erst fünf Monate her war.


Urteil 1C_431/432/2024: Interbehördliche Zusammenarbeit und Verletzung des rechtlichen Gehörs (gutgh. Beschwerde)

In diesem Urteil befasst sich das Bundesgericht mit den Konsequenzen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, die ihren Ursprung in einem parallel laufenden Strafverfahren hat.

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Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen die Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Grund für die Massnahme war ein mutmasslicher Kokainkonsum in Zürich. Die Anordnung wurde mit dem Hinweis verbunden, dass ein vorsorglicher Entzug der Fahrerlaubnis erfolgen würde, wenn die Abklärung nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgeführt wird. Die aufschiebende Wirkung eines allfälligen Rechtsmittels wurde in der Verfügung entzogen. Das Verwaltungsgericht Kt. GR wies sowohl ein Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Zudem verwies es mit weiterer Verfügung die Beschwerdeführerin an die Strafbehörden des Kantons Zürich, wenn sie umfassende Akteneinsicht wünscht. Die Beschwerde richtet sich gegen diese Verfügungen. Zwischenzeitlich wurde der Führerausweis im Juli 2024 vorsorglich entzogen. Auch dagegen erhob die Betroffene Beschwerde beim Verwaltungsgericht.

Gegen Zwischenentscheide im kantonale Verfahren kann beim Bundesgericht nur Beschwerde geführt werden, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Wenn eine Rüge nur die Verletzung des rechtlichen Gehörs betrifft, dann ist diese Voraussetzung nicht erfüllt. Da aber im vorliegenden Fall die Fahrerlaubnis bereits entzogen wurde, liegt gemäss dem Bundesgericht ausnahmsweise ein solcher Nachteil vor, weshalb auf die Beschwerde eingetreten wird.

Wer gelegentlich Kokain konsumiert, kann zu einer Fahreignungsabklärung verpflichtet werden. Keine Zweifel bestehen dann, wenn nur ein einmaliger Konsum ohne Konnexität zum Strassenverkehr vorliegt (ausführlich dazu E. 2). Im vorliegenden Fall wurde die Fahreignungsabklärung angeordnet, weil die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Strafanzeige angab, zwischen 2018 und 2023 regelmässig Kokain konsumiert zu haben. Dies habe sie allerdings in späteren Aussagen relativiert. Da aber sowohl die Strafbehörden des Kantons Zürichs wie auch die Vorinstanz die weiteren Akten des Strafverfahrens nicht herausgaben, die das belegt hätten, liegt aus ihrer Sicht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Das Bundesgericht bejaht dies ebenfalls, denn die Akteneinsicht wird vom Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst (E. 3.2). Die Vorinstanz hätte die Akten des Zürcher Strafverfahrens beiziehen müssen zur Beurteilung der Zweifel an der Fahreignung, da mit dem vorsorglichen Entzug der Fahrerlaubnis ein nicht wieder gut zu machender Nachteil drohte (E. 3.3).

Eine weitere Gehörsverletzung erblickt das Bundesgericht in dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin keine umfassende Akteneinsicht gewährt wurde. Die Unterlagen, die sie erhielt, äusserten sich gar nicht zum Betäubungsmittelkonsum, weshalb die Anordnung der Fahreignungsabklärung auch nicht wirklich nachvollzogen werden konnte. Der Rechtsvertreter erhielt im Strafverfahren übrigens keine Akteneinsicht, weil noch keine Einvernahmen stattfanden (vgl. Art. 101 Abs. 1 StPO).

Das BGer heisst die Beschwerde(n) gut.

Dieses Urteil zeigt auf, welche negativen Konsequenzen die Abhängigkeit zwischen Straf- und Administrativverfahren für betroffene Personen haben kann. Die Beschwerdeführerin benötigte Unterlagen aus dem Strafverfahren, die sie aber nicht erhielt. Eine strenge Handhabung des Akteneinsichtsrechts im Strafverfahren kann also zu einem Nachteil im Verwaltungsverfahren führen.

Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

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Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

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Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

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In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

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Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Rückblick: Tödlicher Unfall und Entscheide zur Geschwindigkeit

Die erste Strafkammer des Bundesgerichts hat wieder mal Vollgas gegeben und es sind einige neue Entscheide ergangen. Diesen Urteilen widmen wir uns hier aus Zeitgründen in teilweise stark zusammengefasster Form.

Urteil 6B_16/2023: Fahrlässige Tötung oder qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung (Vorsatz vs. Fahrlässigkeit)

Dieses Urteil befasst sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bei krassen Verkehrsdelikten. Die Beschwerde der beschuldigten Person bzgl. Strafmass wird zudem gutgeheissen.

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Dieses Urteil befasst sich mit einem tödlichen Verkehrsunfall. Der Betroffene überholte im Januar 2017 unter dem Einfluss von THC wegen einem am Vorabend gerauchten Joints auf der Kantonsstrasse zwischen Chur und Domat/Ems zwei andere Fahrzeuge. Dabei übersah er einen Motorroller, kollidierte mit diesem. Die Lenkerin des Rollers starb noch auf der Unfallstelle. Von der ersten Instanz noch wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, änderte das Kantonsgericht GR dieses Urteil auf Berufung hin u.a. auf fahrlässige Tötung. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Sie beantragt, dass der Beschwerdegegner wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung schuldig zu sprechen sei. Aus ihrer Sicht hat der Beschwerdegegner den Tod der Rollerfahrerin in Kauf genommen. Auch der Betroffene erhebt Beschwerde bzgl. dem Strafmass.

Das Bundesgericht setzt sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit (E. 2.2.2) sowie den Strassenverkehrsregeln zum Überholen (E. 2.2.3) auseinander. Es hält auch daran fest, dass Eventualvorsatz bei Unfällen mit Todesfolge nur zurückhaltend und in krassen Fällen anzunehmen ist. Es muss sich aus den Einzelfallumständen ergeben, dass sich der oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (E. 2.2.4). Im vorliegenden Fall verhielt es sich so, dass hinter dem Motorroller noch ein weiteres Fahrzeug dem Beschwerdegegner entgegen fuhr. Für ihn „verschmolzen“ die beiden Fahrzeuge optisch in der Morgendämmerung. Da der Beschwerdegegner die Rollerfahrerin in pflichtwidriger Weise nicht wahrgenommen hat, entschied er sich im Lichte der Rechtsprechung nicht gegen Leib und Leben. Er handelte nicht eventualvorsätzlich (zum Ganzen ausführlich E. 2.4). Auch die weiteren Rügen der Staatsanwaltschaft werden abgelehnt. Sie machte geltend, dass das Überholmanöver auch gegenüber den überholten Fahrzeugen eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung war. Das Bundesgericht bestätigt aber den Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung (E. 3).

Gutgeheissen wird aber die Beschwerde des Betroffenen. Er wurde mit einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten bestraft. Aus Sicht des Bundesgerichts begründete die Vorinstanz diese hohe Strafe zu wenig. Zudem wurde die lange Verfahrensdauer bzw. eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt (E. 5).


Urteil 6B_1065/2023: Regeln zur Nachfahrmessung ohne kalibriertes Messsystem

Dieses französische Urteil setzt sich exemplarisch mit den Regeln zur Geschwindigkeitskontrolle gemäss Art. 6ff. der Verordnung des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung (VSKV-ASTRA) auseinander, insb. welche Regeln bzgl. der Nachfahrmessung nach Tacho gelten und wann ein „massiver“ Fall gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorliegt.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung. Gemäss einer polizeilichen Nachfahrmessung fuhr er auf einer Autostrasse mit Tempolimite 80 km/h auf einer Strecke von 200 Metern gemäss Tacho des Polizeifahrzeuges mit 145 km/h. Abzugsbereinigt ergab sich daraus eine gefahrenes Tempo von 122 km/h bzw. Geschwindigkeitsüberschreitung von 42 km/h. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass 200m für eine Nachfahrmessung nicht ausreichend seien.

Art. 6 VSKV-ASTRA listet die Messarten auf, welche grundsätzlich für die Messung von Fahrzeug-Geschwindigkeit zu verwenden sind. Die Nachfahrmessung ist eine davon (lit. c Ziff. 2). Gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA sind Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Nachfahrmesssystem auf Fälle von massiver Geschwindigkeitsüberschreitung zu beschränken. Die Regeln zu Geschwindigkeitsmessungen werden wiederum durch die „Weisungen über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ konkretisiert. Gemäss Kapitel 20 muss nach Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem zunächst die Genauigkeit des Tachos des Polizeifahrzeuges geprüft und danach noch der Abzug gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. i VSKV-ASTRA vorgenommen werden. Dabei handelt es sich um Empfehlungen, welche das Gericht nicht binden (E. 1.1.4). Knackpunkt ist vorliegend, dass die Weisungen unter Ziff. III.10.1 sagen, dass bei Nachfahrkontrollen u.a. eine genügend lange Messstrecke vorausgesetzt ist, wobei sie auf Anhang 1 der VSKV verweist. Bei 200m ist dort kein Sicherheitsabzug angegeben.

Die kantonalen Instanzen waren der Meinung, dass 200m als Strecke für eine Nachfahrmessung ausreichen, auch weil die Weisungen des ASTRA nicht verbindliches Recht sind und das Gericht die Beweise frei würdigen kann. Der Beschwerdeführer sieht das natürlich diametral anders. Insb. die Messtrecke von nicht mal 200m sei zu kurz, weshalb diese Messung nicht verwertet werden dürfe.

Zunächst hält das Bundesgericht fest, dass Anhang 1 der VSKV-ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. h vs. lit i; E. 1.4.1). Ebenfalls stellt es klar, dass Ziffer III.10 der Weisungen des ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist, sondern nur die Regeln in Ziffer III.20. Entgegen den Vorbringen braucht es keine Mindeststrecke für die Messung und das Gericht muss die Beweise frei würdigen (E. 1.4.2).

Der Beschwerdeführer rügt sodann, dass keine massive Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorläge. Aus seiner Sicht kann es sich bei dieser Formulierung nur um Raserdelikte handeln. Dem widerspricht das Bundesgericht. Es geht hier darum „wichtige Fälle“ von Geschwindigkeitsdelikten zu erfassen. Wenn man, wie im vorliegenden Fall, die Höchstgeschwindigkeit um mehr als 50% überschreitet und eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist die Voraussetzungen eines „wichtigen“ bzw. massiven Falles erfüllt (zur ausführlichen Auslegung E. 2.4).


Urteile 6B_13-16/2024: Wo steht denn hier ne Tafel? (gutgh. Beschwerde)

Diese Urteile wurden auch schon in der Presse erwähnt, z.B. 20min. Es geht um eine Geschwindigkeitstafel bei einer Baustelle am Kerenzerberg, die nach Ansicht des Obergerichts Kt. GL so platziert war, dass sie von den Verkehrsteilnehmern nicht habe wahrgenommen werden können. Das Bundesgericht sieht das anders, weshalb wohl ca. 600 geblitzte Motorfahrzeugführer ihre Busse doch bezahlen müssen.

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Wir machen es hier besonders kurz: Signale müssen von den Verkehrsteilnehmern beachtet werden (Art. 27 Abs. 1 SVG). Das geht soweit, dass man auch rechtswidrig aufgestellte Signale (z.B. wenn Signale nicht ordentlich gemäss Art. 107ff. SSV veröffentlicht wurden) beachten muss. Signale vermögen Fahrzeuglenker nur zu verpflichten, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie leicht und rechtzeitig erkannt werden können. Der Standort von Signalen richtet sich nach Art. 103 SSV.

Die fragliche Signaltafel zur Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts auf 50 km/h stand im vorliegenden Fall am rechten Strassenrand etwas nach der Mitte einer Haarnadelkurve. Die Vorinstanz war der Meinung, dass insb. Motorradfahrer beim Befahren einer Linkskurve ihren Blick auf die weiterführende Strasse und nicht auf den rechten Fahrbahnrand richten. Zudem spreche der Umstand, dass ca. ein Viertel aller kontrollierten Lenker zu schnell waren, dafür, dass die Tafel schlecht sichtbar war. Das Bundesgericht sieht das anders. Die Tafel sei schon von weitem ersichtlich gewesen und auch wenn sie rechtswidrig aufgestellt worden wäre, hätte die Signalisationstafel wegen dem Vertrauensgrundsatz trotzdem beachtet werden müssen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird insofern gutgeheissen.


Urteil 6B_731/2022: Das trügerische Radarfoto (gutgh. Beschwerde)

Auch in diesem Fall wehrt sich der Beschwerdeführer gegen die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Vorinstanz verfiel in Willkür, als sie davon ausging, dass das Radarfoto den Beschwerdeführer zeige.

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Vorliegend geht es um eine Tempoüberschreitung von 22 km/h innerorts, also um eine einfache Verkehrsregelverletzung bzw. eine Übertretung. Das Bundesgericht prüft hier, ob der Sachverhalt von der Berufungsinstanz willkürfrei festgestellt wurde (Art. 398 Abs. 4 StPO).

Der Beschwerdeführer bestreitet, das Auto im Zeitpunkt der Verkehrsregelverletzung gefahren zu sein. Das Radarfoto zeigt eine männliche Person mit einer Gesichtsmaske. Im Verlaufe des Verfahrens musste der Beschwerdeführer Passfotos sämtlicher männlicher Mitarbeiter einreichen, die mit dem geblitzten Auto fahren durften. Das erstinstanzliche Gericht stellte zunächst fest, dass anhand der Passfotos nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob der Beschwerdeführer selber gefahren sei. Bei der Hauptverhandlung war das Gericht allerdings der Meinung, ihn anhand eines Passfotos als Lenker erkannt zu haben. Dieses Passfoto zeigte aber den Bruder des Beschwerdeführers. Der Umstand, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer auf einem Passfoto zu erkennen glaubte, das nachweislich einen der anderen potentiellen Fahrer abbildet, muss gleichzeitig und unweigerlich massgebliche Zweifel an der Richtigkeit der Identifikation auf dem Radarbild begründen. Damit wurde der Sachverhalt aber willkürlich festgestellt. Die Sache wird zurückgewiesen.

Vertrauensgrundsatz und die unklare Verkehrssituation

Urteil 6B_272/2024: Vertrau mir doch!

Ein Busfahrer wehrt sich gegen eine Busse wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung. Er ist mit seinem Linienbus in Rapperswil-Jona auf einen Kreuzungsbereich eingefahren, ohne zu bremsen oder zu verlangsamen. Dabei handelt es sich um eine Kreuzung, von welcher bekannt ist und die Buschauffeure auch entsprechend geschult werden, dass andere Verkehrsteilnehmer sich nicht immer an Lichtsignale halten. Es kam, wie es kommen musste, es gab auf der Kreuzung ein Kollision und der Busfahrer wurde wegen einer Vortrittsmissachtung bestraft. Er habe sich in dieser speziellen Situation nicht auf den Vertrauensgrundsatz gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG verlassen dürfen. Im Gegenteil lag aus Sicht der Vorinstanz ein Anwendungsfall von Art. 26 Abs. 2 SVG vor. Der Buschauffeur hätte nämlich besonders vorsichtig sein müssen, weil es Anzeichen dafür gab, dass sich Verkehrsteilnehmer nicht richtig verhalten würden. Das sieht dieser natürlich überhaupt nicht so, obwohl er einige Verkehrsteilnehmer wahrnahm, die sich nicht an die Lichtsignale hielten. Den von links kommenden Unfallgegner sah er aber nicht (stark zusammengefasst E. 1.1 – 1.2).

Die Frage hier lautet also, wann liegt eine Situation vor, in welcher man sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, obwohl man kein Fehlverhalten eines Unfallbeteiligten feststellt?

Grundsätzlich darf man ja darauf vertrauen, dass sich auf der Strasse alle richtig verhalten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Dieser Grundsatz wird aber dadurch relativiert, dass dies nicht gilt, wenn sich jemand nicht richtig verhält. Dann muss man besondere Vorsicht walten lassen (Art. 26 Abs. 2 SVG). Es gibt aber Situationen, die so unübersichtlich sind, dass man generell defensiv fahren muss bzw. sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann. Das BGer definiert das so (E. 1.3.1):

„Ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers kann sich aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage aufdrängen, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts der besonderen Gefahrenneigung risikoarmes Verhalten gefordert.“

Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer ungebremst in eine Kreuzung, bei welcher bekannt ist, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht immer an die Regeln halten. Aus diesem Grund durfte der Busfahrer nicht darauf vertrauen, dass sich alle richtig verhalten, auch wenn er den Unfallgegner nicht gesehen hat. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Freiheits- vs. Geldstrafe und deren Aufschub

Urteil 6B_1332/2023: Die besonders günstigen Umstände nach Art. 42 Abs. 2 StGB (tlw. gutgh. Beschwerde)

Bei einem Überholmanöver verursachte der Beschwerdeführer einen Verkehrsunfall, bei welchem die Lenkerin und drei Insassen des anderen Fahrzeuges verletzt wurden. Ohne sich um den Sachschaden oder die verletzten Personen zu kümmern floh der Beschwerdeführer von der Unfallstelle. Sein Fahrzeug war bei seiner Flucht stark beschädigt und entsprach nicht mehr den Vorschriften. Am folgenden Tag stellte sich der Beschwerdeführer bei der Polizei.

Wegen dem Unfall wurde der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 90 Tagen und einer Busse verurteilt wegen grober Verkehrsregelverletzung, Führerflucht und Lenken eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges. Grund dafür: Seine Vorstrafen. Mit seiner Beschwerde verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse.

Die grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) sowie die Führerflucht (Art. 92 Abs. 2 SVG) sind Vergehen, die mit Freiheitsstrafe bis drei Jahren oder Geldstrafe sanktioniert werden können. Ein Gericht richtet sich bei der Strafzumessung nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB, wobei es über ein grosses Ermessen verfügt. Das Bundesgericht greift in die Strafzumessung deshalb nur ein, wenn

– die Strafe gesetzlich nicht vorgesehen ist,
– wenn sie auf anderen Kriterien als Art. 47 StGB gründet,
– wenn wichtige Elemente nicht berücksichtigt wurden,
– oder wenn ein Ermessensmissbrauch wegen zu milder oder harter Strafe vorliegt.

Das Gericht muss bei der Strafzumessung begründen, welche Elemente für die Strafe relevant waren, wobei es unwichtige Elemente nicht unbedingt erwähnen muss.

Das Gericht kann anstelle von Geldstrafen auch kurze Freiheitsstrafen anordnen, wenn die Voraussetzungen gemäss Art. 41 StGB erfüllt sind. Die Geldstrafe hat aber bei kleiner und mittlerer Kriminalität nach wie vor Vorrang. Nur wenn der Staat die öffentliche Sicherheit nicht anders garantieren kann, soll der Freiheitsstrafe der Vorrang gewährt werden. Sprechen sowohl gute Gründe für eine Geldstrafe, als auch Freiheitsstrafe, muss im Rahmen der Verhältnismässigkeit der Geldstrafe den Vorzug gegeben werden. Bei der Wahl der Strafe ist schliesslich nicht das Verschulden massgebend, sondern die spezialpräventive Wirkung der Strafe. Wählt es die Freiheitsstrafe, muss das Gericht dies ausführlich begründen (E. 1.1).

Das kantonale Gericht begründete die Wahl der Freiheitsstrafe im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer nur drei Monate vor dem Unfall aus einer Freiheitsstrafe (wegen versuchtem Mord) entlassen wurde. Zudem ist er mehrfach vorbelastet und erhielt auch schon Geldstrafen. Unter diesen Umständen durfte die kantonale Instanz davon ausgehen, dass eine Geldstrafe vorliegend keine Wirkung mehr habe. Die Dauer der Freiheitsstrafe begründete es zudem nachvollziehbar nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB (zum Ganzen E. 1.2-1.4).

Der Beschwerdeführer verlangt, dass die Freiheitsstrafe bedingt auszusprechen sei, weil besonders günstige Umstände gemäss Art. 42 Abs. 2 StGB vorlägen. Wenn eine Person vorbestraft ist, entfällt grundsätzlich die Vermutung einer günstigen Legalprognose. Im Gegenteil sind die Vorstrafen ein Indiz dafür, dass die betroffene Person weiterhin delinquieren wird. Eine besonders günstige Prognose kann unter Würdigung aller Umstände vorliegen, wenn

– die zu beurteilende Straftat nicht mit den Vorstrafen zusammenhängt,
– oder sich die Lebensumstände der betroffenen Person besonders positiv verändert haben.

Auch bei dieser Beurteilung hat das Gericht einen grossen Ermessenspielraum. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn das Gericht hauptsächlich auf die Vorstrafen abstellt und übrige Einzelheiten ausser Acht lässt (E. 2.1).

Die kantonale Instanz hob zwar viele positive Entwicklungen des Beschwerdeführers hervor. Allerdings waren die Vorstrafen zu gravierend, als dass man nach Ansicht der Vorinstanz von einem besonders günstigen Fall hätte ausgehen können. Darin erblickt das Bundesgericht einen Ermessensmissbrauch. Aus Sicht der Bundesrichter wurde im kantonalen Verfahren zu sehr auf die Vorstrafen abgestellt. Denn der Beschwerdeführer führt mittlerweile wieder ein stabiles und strukturiertes Leben. Zudem bezieht sich das SVG-Delikt nicht auf seine Vorstrafen. Das Bundesgericht geht also von einem besonders günstigen Fall aus. Die Sache wird zur Festlegung der Probezeit an die Vorinstanz zurückgewiesen (E. 2.2 – 2.3).

Jagd auf Verkehrssünder mit Drohne und mehr

Urteil 1C_683/2023: Verfolgungsjagd mit Drohne

Drohnen sind schon lange in der Gesellschaft angekommen. Sie werden für „Dronies“, also Selfies mit Drohne, eingesetzt, stören Badegäste am Traumstrand oder schwirren den Touristen auf der Ski-Piste nach. Neuerdings werden sie auch von der Polizei zur Verfolgung von SVG-Delikten eingesetzt. Und genau daran stört sich der Beschwerdeführer. Ihm wurde wegen einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung von 57.6 bzw. 95.6 km/h ausserorts der Führerausweis vorsorglicherweise entzogen. Seine Fahrt wurde von der Polizei mit einer Drohne aufgenommen. Die Geschwindigkeit wurde anhand des Videos mit einer Weg-Zeit-Berechnung eruiert. Die Strecke mass die Polizei ganz altmodisch mit einem Messrad. Die Dauer der Fahrt errechnete die Polizei anhand der Videoaufnahmen (zur Berechnung E. 3.2). Aus Sicht des Beschwerdeführers wurde der Sachverhalt willkürlich festgestellt. Er bringt vor, dass die Quarzuhr der Drohne für die Zeitberechnung, sowie die Satelliten, mit welchen die Quarzuhr eingestellt wird, nicht vom METAS geprüft und geeicht sind. So verlangt es grundsätzlich Art. 5 der Geschwindigkeitsmessmittel-Verordnung. Auch die Messung einer Wegstrecke mittels Messrad sei nirgends gesetzlich geregelt. Da allerdings bei vorsorglichen Massnahmen nur die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten gerügt werden kann (Art. 98 BGG), wird auf die Rügen zur Verletzung von Bundesrecht nicht eingegangen.

Zulässig ist allerdings die Rüge der Willkür. Mit seinen Vorbringen alleine gelingt es dem Beschwerdeführer aber nicht, eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung darzulegen, denn allfälligen Messungenauigkeiten wurden mit Sicherheitsmargen Rechnung getragen. Auch dass das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist, hindert die zuständige Behörde nicht daran, Sicherungsmassnahmen anzuordnen, denn bei diesen greift die Unschuldsvermutung bekanntlich nicht (E. 3.4).

Fazit: Ein Drohnenvideo der Polizei kann also anlass dazu geben, dass ernsthafte Zweifel an der charakterlichen Fahreignung einer Person bestehen.

Urteil 6B_178/2024: Die mündliche Berufungsverhandlung (gutgh. Beschwerde)

In diesem Urteil geht es um eine strafprozessuale Thematik, die die Berufungsinstanzen immer wieder vor Probleme stellt (siehe auch den Beitrag vom 3. Januar 2021). Da dieses Thema hier auch schon gefeatured wurde, machen wirs kurz. Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich und kann gemäss Art. 406 StPO nur in eng begrenzten Fällen schriftlich durchgeführt werden, nämlich grundsätzlich dann, wenn der Sachverhalt nicht umstritten ist. Ist dieser umstritten, müssen für die schriftliche Durchführung eines Berufungsverfahrens folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (Art. 406 Abs. 2 StPO):

1. Schriftliches Einverständnis der Parteien.
2. Anwesenheit der beschuldigten Person nicht nötig.
3. Urteil eines Einzelgerichts ist Gegenstand der Berufung.
4. Keine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

Im vorliegenden Fall teilte die Berufungsinstanz mit, dass das Verfahren mündlich durchgeführt und der Beschwerdeführer vorgeladen werde. Entgegen dieser Ankündigung wechselte die Berufungsinstanz später aber ohne Orientierung der Parteien in das schriftliche Verfahren und fällte ihr Urteil. Damit verletzte es den Gehörsanspruch des Beschwerdeführers sowie den Grundsatz von Treu und Glauben und das Gebot der Verfahrensfairness. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Falsche Geschwindigkeitsmessung!

Urteil 7B_246/2022: Bitte etwas mehr Reflexion! (gutgh. Beschwerde)

Schnellfahren gehört zur Massendelinquenz im Strassenverkehr. Die pragmatische Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Geschwindigkeitsüberschreitung sowie der Schematismus zum Schnellfahren sorgen dafür, dass Beschwerden bei Geschwindigkeitsüberschreitungen regelmässig abgelehnt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass es i.c. dem Beschwerdeführer gelungen ist, vor Bundesgericht zu reüssieren. Aus seiner Sicht wurde die Messung falsch durchgeführt, denn auf den Fotos des mobilen Blitzkastens sei eine Reflexion zu sehen, die die Messung fehlerhaft macht.

Im kantonalen Verfahren verlangte der Beschwerdeführer also ein Gutachten darüber, ob die Messung korrekt war und damit auch als Beweis verwertbar. Indem aber die kantonalen Behörden dieses Gutachten nicht einholten, wurde aus Sicht des Beschwerdeführers aber das rechtliche Gehör sowie das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verletzt.

Kontrollen im Strassenverkehr richten sich nach der Strassenverkehrs-Kontrollverordnung (Art. 1 SKV). Bei diesen Kontrollen können technische Hilfmittel, wie eben Blitzkästen bei Geschwindigkeitsmessungen, eingesetzt werden, wobei das ASTRA die Einzelheiten zu diesen Messungen regelt (Art. 9 SKV). Für Geschwindigkeitsmessungen hat das ASTRA die „Weisung über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ vom 22. Mai 2008 erlassen. In Ziffer 6.1 heisst es zum Einsatzort unter anderem:

„Radargeräte sind so aufzustellen und zu betreiben, dass Reflexionsfehlmessungen, verursacht durch metallische Flächen oder Gitter, vermieden werden. Dieser Möglichkeit ist bei der Aufstellung und Wahl der Empfindlichkeit des Gerätes durch die Kontrollperson besondere Beachtung zu schenken.“

Im vorliegenden Fall war erstellt, wo der Blitzkasten stand (E. 3.4.1), das Gerät war geeicht und funktionierte korrekt. Ebenso war die Messung ohne Zweifel dem Auto des Beschwerdeführers zuzuordnen (E. 3.4.3).

Nun kommt aber die Krux zur Reflexion: Der Beschwerdeführer machte zu Recht geltend, dass einer der Polizisten angab, dass die Radarbilder eine geringfügige Reflexion zeigten, die mutmasslich wegen einer Kilometrierungstafel entstanden. Da Reflexionen gemäss den obigen Weisungen zu einer Fehlmessung führen können, verletzte die Vorinstanz das rechtliche Gehör, indem sie auf dieses Vorbringen des Beschwerdeführers nicht weiter einging. Die Beschwerde wird gutgeheissen, damit ein Gutachten Aufschluss darüber geben kann, ob die Messung der Geschwindigkeit fehlerhaft war.

Beispielbild

Beispielbild von hier

Grundsatz der Formstrenge im Strafverfahren und weitere Urteile

Urteil 7B_211/2022: Einstellen oder nicht, das ist hier die Frage (gutgh. Beschwerde).

Dieses strafprozessual ziemlich komplexe Urteil beantwortet die Frage, was passiert, wenn ein Sachverhalt sowohl Übertretungs- als auch Vergehenstatbestände erfüllt, die Übertretungen aber bereits verjährt sind. Darf man dann für das Vergehen noch bestraft werden, wenn der Sachverhalt der Übertretungen in engem Zusammenhang stehen mit jenem des Vergehens? Konkret geht es um das Verursachen eines Bagatellunfalls (Art. 90 Abs. 1 SVG), dem darauffolgenden pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG) sowie der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG).

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Der Beschwerdeführer touchierte mangels Aufmerksamkeit beim Rückwärtsfahren auf einem Parkplatz ein anderes Fahrzeug, wobei Sachschaden entstand. Danach entfernte er sich von der Unfallstelle und trank zuhause Bier und wohl auch ein bisschen Schnaps. Mit Strafbefehl wurde er mit einer bedingten Geldstrafe bestraft. Im gerichtlichen Verfahren wurde die Verjährung der Übertretungs-Tatbestände, also dem Verursachen der Bagatellkollision (Art. 90 Abs. 1 SVG) sowie dem pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG), festgestellt. An der Verurteilung wegen der Vereitelung wurde aber festgehalten.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass das Strafverfahren mit der Verjährung der Übertretungs-Tatbestände hätte eingestellt werden müssen. Indem die Vorinstanz dies nicht tat, verletzte sie Art. 329 Abs. 4 und 5 StPO sowie den in Art. 2 Abs. 2 StPO geregelten Grundsatz der Formstrenge. Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass die Sachverhalte des Unfalles, des pflichtwidrigen Verhaltens und der Vereitelung so eng miteinander verknüpft sind, dass eine Einstellung nicht möglich war. Dies hätte den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzt. Denn wäre bzgl. dem Unfall und dem pflichtwidrigen Verhalten eine (Teil)Einstellung erfolgt, wäre eine Verurteilung wegen der Vereitelung nicht mehr möglich gewesen.

Kann kein Urteil ergehen, muss das Gericht das Verfahren einstellen. Dies ist der Fall, wenn ein Prozesshindernis besteht (Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO). Der Eintritt der Verfolgungsverjährung stellt ein solches Prozesshindernis dar und muss von Amtes wegen geprüft werden. Gemäss Art. 329 Abs. 5 StPO kann die Einstellung zusammen mit dem Urteil ergehen, wenn ein beim Gericht hängiges Verfahren nur in einzelnen Anklagepunkten eingestellt werden soll (E. 2.3.1).

Eine Teileinstellung ist aber nur dann möglich, wenn das Gericht mehrere Lebensvorgänge beurteilt, die für sich einer separaten Erledigung zugänglich sind. Wenn es nur um die Beurteilung wegen einem Lebenssachverhalt geht, ist eine teilweise Einstellung nicht möglich. Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Das würde den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzen (E. 2.3.2 und E. 2.3.3). Im Strafverfahren gilt zudem der Grundsatz der Formstrenge, d.h. Strafverfahren können nur nach den von der StPO vorgesehen Regeln erledigt werden (dazu ausführlich E. 2.3.4).

Das Bundesgericht stellt sich auf den Standpunkt, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanz die verschiedenen Tatvorwürfe zwar Teil eines übergeordneten Gesamtgeschehens bilden. Trotzdem lassen sich die einzelnen Vorwürfe klar gegeneinander abgrenzen. Zuerst der Unfall, dann das pflichtwidrige Verhalten und schliesslich die Vereitelung durch Konsum alkoholischer Getränke zuhause. Damit wäre wohl eine Teil-Einstellung möglich gewesen. Dies hätte das erstinstanzliche Gericht aus Sicht des Bundesgericht machen müssen. Indem dieses es unterliess, das Strafverfahren bzgl. der verjährten Übertretungen einzustellen, verletzte es den Grundsatz der Formstrenge (E. 2.4.4). Zudem wurde vorliegend auch die Unschuldsvermutung verletzt. Denn bei der Begründung der Vereitelung führte die Vorinstanz aus, dass der Beschwerdeführer den Bagatellunfall schuldhaft verursachte, obwohl er dafür nie rechtskräftig verurteilt wurde.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache zurückgewiesen. Bei den Übertretungen muss die Vorinstanz das Strafverfahren einstellen. Bzgl. Vereitelung muss sie prüfen, ob eine Verurteilung unter Beachtung des Anklagegrundsatzes und der Unschuldsvermutung noch möglich ist.

Honorable Mentions

Unter dieser Rubrik werden einfach die Urteile aufgelistet, die keine augenöffenden Inhalte bieten. Sie dient bestenfalls dazu, dass man die eigene Urteilssammlung auf den neuesten Stand bringen kann. Es besteht dabei auch kein Anspruch auf Vollständigkeit…

Urteil 1C_482/2023: Abstand

Wer mit auf der Autobahn dem vorfahrenden Fahrzeug bei 90 km/h mit einem Abstand von 20 Metern folgt (entspricht 0.8 s), begeht eine mittelschwere Widerhandlung. Diese wird mit mind. einem Monat Führerscheinentzug sanktioniert. Der Entscheid enhält in E. 2.2 eine gute Auflistung der Rechtsprechung zu verschienen Fällen von Abstandsunterschreitungen.

Urteil 6B_55/2024: Geschwindigkeit

Wer innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 28 km/h überschreitet, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG. In E. 2.3. äussert sich das Bundesgericht exemplarisch zum allseits bekannten und in der Rechtsprechung fest verankerten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten. Der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfordert eine Rücksichtslosigkeit der beschuldigten Person. Diese liegt auch vor, wenn der Täter die gefahrene Strecke noch als Ausserortsstrecke mit einem Tempolimit von 80 km/h kannte und mangels genügender Aufmerksamkeit übersah, dass sich die Signalisation bzgl. Geschwindigkeit auf der gefahrenen Strecke zwischenzeitlich änderte.

Urteil 7B_221/2022: Das Handy am Steuer

Wer während dem Autofahren für ca. 3 Sekunden auf das Handy schaut und die Navigations-App mit dem Daumen bedient, begeht eine einfache Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) durch Vornahme einer Verrichtung, die die Bedienung des Fahrzeuges erschwert (Art. 3 Abs. 1 VRV). Dieser Entscheid hilft weiter dabei abzugrenzen, wann das Verwenden von Handys beim Autofahren als einfache Verkehrsregelverletzung zu bestrafen ist und wann lediglich eine Ordnungsbusse vorliegt. Eine Ordnungsbusse gibt es z.B. wenn man bei günstigen Verkehrsverhältnissen für zwei Sekunden auf das Handy schaut (vgl. dazu den Beitrag vom 31. Mai 2023 zu Urteil 6B_27/2023).