Katalogtatbestände und Gegenstandslosigkeit

Urteil 1C_445/2024: Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wann darf ein Verfahren abgeschrieben werden?

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Der Beschwerdeführer leidet aus Sicht der Entzugsbehörde an einer Fatigue-Erkrankung sowie kognitiven Einschränkungen. Aus diesem Grund forderte die Behörde ein Arztzeugnis, welches sich bestenfalls auch zur Fahreignung äussert. Der Beschwerdeführer reagierte darauf nicht. Aus diesem Grund ordnete die Entzugsbehörde die Auflage an, dass der Beschwerdeführer ein Arztzeugnis einreichen muss. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel. Ein Arztzeugnis reichte er aber trotzdem nicht ein, weshalb ihm der Führerausweis vorsorglich entzogen wurde. Das Verwaltungsgericht schrieb wegen dem vorsorglichen Entzug das Verfahren bzgl. Auflage wegen Gegenstandslosigkeit ab. Um diese Abschreibung dreht sich der vorliegende Entscheid.

Ein Rechtsstreit kann gegenstandslos werden (z.B. Abbrennen des Hauses, für das eine Umbaubewilligung streitig ist) oder das rechtliche Interesse an seiner Beurteilung dahinfallen. Ausschlaggebend für die Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit ist immer, dass im Verlauf des Verfahrens eine Sachlage eintritt, angesichts derer ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse an der Entscheidung der Streitsache nicht mehr anerkannt werden kann (E. 4.1).

Da der Beschwerdeführer auch gegen den vorsorglichen Entzug seines Führerausweises Beschwerde erhoben hat, ist dieses Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Wenn man das Verfahren zu den Auflagen nun endgültig abgeschreiben und der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel gegen den vorsorglichen Entzug durchdringen würde, müsste man ihm die Fahrerlaubnis wieder erteilen, ohne dass noch Auflagen bestünden. Es gäbe – zumindest vorübergehend – keine Sicherungsmassnahmen mehr. Das ist aber nicht im Sinne der Verkehrssicherheit. Aus diesem Grund darf noch kein Abschreibungsentscheid ergehen.

Die beste Lösung wäre es gewesen, das Verfahren bzgl. Auflagen bis zum Abschluss des Verfahrens zum vorsorglichen Führerausweis-Entzug zu sistieren.

Vorsicht Meinung: Prozessieren um jeden Preis? Der Beschwerdeführer gewinnt seine Laienbeschwerde. Er kann sich damit brüsten, den „Behörden eines ausgewischt zu haben“. Doch betrachtet man diese Sache etwas genauer, hat sich der Beschwerdführer selber ein Ei gelegt. Würde seine Beschwerde gegen den vorsorglichen Führerausweis-Entzug überraschenderweise gutgeheissen, wäre er – zumindest für eine Weile – ohne Massnahmen gewesen. Doch mit seiner Beschwerde hat er selber dafür gesorgt, dass die Auflagen nicht ganz verschwinden. Prozessieren um jeden Preis ist eben auch nicht immer das Richtige.


Urteil 1C_546/2024: Katalogtatbestände und die rechtliche Würdigung

Was passiert, wenn ein Strafverfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt wird, aber trotzdem ein Katalogtatbestand von Art. 16ff. SVG erfüllt ist?

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Die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wurde im November 2021 für unbestimmte Zeit entzogen. Im August 2023 lenkte sie das Fahrzeug Ihres Vaters trotz dieses Entzuges. Der Polizei gab sie an, dass sie dachte, wieder fahren zu dürfen, weil eine verkehrsmedizinische Begutachtung positiv ausgefallen war. Aufgrund der Widerhandlung wurde die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wiederum für unbestimmte Zeit entzogen und eine verkehrspsychologische Fahreignungsabklärung angeordnet. Interessanterweise wurde das Strafverfahren wegen Fahrens trotz Entzug wegen Geringfügigkeit gemäss Art. 52 StGB eingestellt.

Allseits bekannt: Die Entzugsbehörde ist grds. an die im Strafverfahren erfolgten Sachverhaltsfeststellungen gebunden, in der rechtlichen Würdigung hingegen ist sie frei (E. 2.1). Die Beschwerdeführerin lenkte unbestrittenermassen zweimal ein Fahrzeug trotz entzogener Fahrerlaubnis. Der Tatbestand von Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG war damit objektiv sowie subjektiv erfüllt (E. 2.2.2 f.). Die Beschwerdeführerin gibt an, dass sie wegen der Auskunft des Verkehrsmediziners, der ihre Fahreignung bejahte, dachte, dass sie wieder Autofahren dürfe. Auf einen Rechtsirrtum konnte sich die Betroffene nicht berufen, da sie bereits in der Vergangenheit mit Warnungsmassnahmen konfrontiert war und den Verfahrensablauf kennen müsste. Zudem hat das Bundesgericht wiederholt festgehalten, dass auch in leichten Fällen von Fahren trotz Entzug die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden kann (E. 2.3).

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wohl der Begründungspflicht, weil die Entzugsbehörde in ihrer Verfügung lediglich festhielt, dass diese von den Stellungnahmen der Beschwerdeführerin „Kenntnis genommen“ hat. Sie gibt aber selber zu, dass eine solche Gehörsverletzung im Verlauf des Verfahrens geheilt wurde (E. 3). Sie argumentiert weiter, dass die 24-monatige Mindestentzugsdauer von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG für den vorliegenden Vorfall viel zu streng sei und damit Art. 6 EMRK verletze. Das Bundesgericht entgegnet dazu, dass es einerseits an die gesetzliche Bestimmung gebunden ist (Art. 190 BV) und dass Art. 6 EMRK bei Sicherungsmassnahmen grds. keine Anwendung findet (E. 4).

Auch wenn im Strafverfahren eine Einstellung nach Art. 52 StGB erfolgte, war der Tatbestand des Fahrens trotz Entzug erfüllt. Folglich blieb der Entzugsbehörde keine andere Wahl, als die nächste Sicherungsmassnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG anzuordnen.


Bonus-Urteil

Urteil 1C_635/2023: Ausserortscharakter innerhalb von Basel-Stadt?

An einem wunderschönen Eckchen in Basel überschritt der Beschwerdeführer das Tempolimit von 50 km/h um 26 km/h, weshalb seine ausländische Fahrerlaubnis für drei Monate aberkannt wurde. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kontrollort Ausserortscharakter aufweise. Ob ein Kontrollort Ausserortscharakter aufweist, beurteilt sich immer anhand des Einzelfalles. Vorliegend passierte der Beschwerdeführer Häuser, unübersichtliche Kreuzungen, Fussgängerstreifen und wunderschöne Basler Betonlandschaften. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht auf einer Ausserortsstrecke befand. Die Massnahme war korrekt.

Anklagegrundsatz und automatische Fahrzeugfahndung

Urteil 7B_286/2022: Anklagegrundsatz und der subj. Tatbestand bei SVG-Delikten (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wie genau muss die anklagende Strafbehörde den subjektiven Tatbestand bei SVG-Delikten umschreiben? Das Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer übersah bei einem Bahnübergang das Wechselblinklicht, worauf es trotz Notbremsung des Zuges zu einer Kollision kam. Er wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer Geldstrafe bestraft, wobei im Strafbefehl stand, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gehandelt habe. Auf Einsprache hin, wurde der Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen, vom Obergericht allerdings wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft, ohne dass es eine Verbesserung der Anklageschrift (Strafbefehl) gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO  gegeben hätte. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes.

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) muss der Sachverhalt in einer Anklage vor Gericht so genau umschrieben werden, dass die beschuldigte Person weiss, um was es eigentlich geht. Der Grundsatz ist damit fundamental für die Verteidigung der beschuldigten Person (E. 2.1.1). Gemäss Art. 100 Ziff. 1 SVG ist sowohl die vorsätzliche als auch fahrlässige Begehung von SVG-Delikten möglich. Äussert sich die Anklage nicht ausdrücklich darüber, ob eine Verkehrsregelverletzung vorsätzlich begangen wurde, darf von einer fahrlässigen Tatbegehung ausgegangen werden. Abgeleitet wird dies aus der allgemeinen Pflicht, dass Verkehrsteilnehmer immer aufmerksam sein müssen (E. 2.1.2).

Um es kurz zu machen: Im vorliegenden Fall entschied die Berufungsinstanz, dass sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig macht. Sie stützte sich dabei auf den Strafbefehl, welcher aber aber von Vorsatz ausging. Der Staatsanwaltschaft wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre Anklage zu verbessern. Damit verletzte die Vorinstanz aber Art. 405 Abs. 1 i.V.m. 339 Abs. 3 StPO.


Urteil 1C_63/2023: Automatische Fahrzeugfahndung (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich u.a. ausführlich mit den Voraussetzungen an die gesetzlichen Grundlagen, die für eine automatische Fahrzeugfahndung nötig sind.

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Im Oktober 2022 beschloss der Kantonsrat des Kantons Luzern verschiedene Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes. Unter anderem schuf er in §4quinqies PolG/LU die gesetzlichen Grundlagen für die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle stellen sich verschiedene Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass es sich bei der automatischen Verkehrsüberwachung um einen schweren Eingriff in unter anderem die Grundrechte der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung handle und die vom Kanton Luzern geschaffene gesetzliche Grundlage zu wenig bestimmt ist. Die Bestimmung ermögliche nach Ansicht der Beschwerdeführer auch eine automatisierte Gesichtserkennung. Die Tragweite der Norm sei unklar. Zudem würden Daten auf Vorrat gespeichert, ohne dass sie für ein Strafverfahren relevant wären.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits in BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218 zur automatisierten Fahrzeugfahndung.

Die automatisierte Fahrzeugfahndung ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 2 BV garantierte informationelle Selbstbestimmung. Mit solchen System faktisch eine unbegrenzte Erhebung von Daten möglich, der unzählige Personen betrifft und ohne Anfangs-Verdacht erfolgt. Oder anders gesagt: Es besteht das Risiko eines Missbrauchs solcher Systeme. Deshalb müssen die gesetzlichen Grundlagen folgende Details hinreichend bestimmen:

– Verwendungszweck der Daten
– Umfang der Erhebung
– Aufbewahrung und Löschungsmodalitäten
– Bestimmung des Datenabgleichs
– Unverzügliche Löschung von unbenötigten Daten
– Es bedarf ein gewichtiges öffentliches Interesse
– Es darf keine Totalüberwachung vorliegen

Das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 3.2.2).

Im folgenden stellt sich die Frage, ob der Kanton Luzern seine Gesetzgebungskompetenz überschritt. Denn die Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgung (repressive Polizeiarbeit) liegt bei der Eidgenossenschaft, welche mit der StPO davon umfassend Gebrauch gemacht hat. Die Verantwortung für präventive Polizeiarbeit liegt hingegen bei den Kantonen, wobei sich diese Aufgabengebiete teils überschneiden können (dazu ausführlich E. 3.5). Der Kanton Luzern verzichtete vorliegend darauf, die Prävention als Zweck für die Fahrzeugfahndung in das Gesetz zu nehmen. Aus Sicht des Bundesgerichts liegt damit der Schwerpunkt der Fahrzeugfahndung bei der Strafverfolgung. Da hat der Kanton aber gar keine Gesetzgebungskompetenz. Es bräuchte eine Regelung in der StPO (E. 3.5.3). Die Norm ist unter dem Strich ein unverhältnismässiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Nicht nur ermöglicht sie eine automatisierte Gesichtserkennung, sie lässt ausdrücklich auch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Die generelle Speicherung der Daten auf Vorrat bis zu 100 Tagen verstösst ebenfalls gegen die obgenannten Voraussetzungen. Und schliesslich fehlen noch genauere Bestimmungen, mit welchen Datenbanken ein Datenabgleich erfolgen darf (E. 3.6).

Die entsprechende Norm (und weitere) wird aufgehoben.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_1346/2023: Pflichtwidriges Verhalten und Vereitelung

Wer nach einem Unfall mit Sachschaden, nach Hause geht, weil er kein Mobiltelefon dabei hat und dann aber zunächst zur Toilette geht und ein Gläschen Gin trinkt bzw. nicht sofort die Polizei informiert, macht sich gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG strafbar (E. 3). Wer zudem einen Verkehrsunfall verursacht, muss immer mit einer Atemalkoholprobe rechnen. Genehmigt man sich nach dem Unfall ein Gläschen, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG.

Urteil 1C_599/2024: Unvorsichtiger Spurwechsel

Wer bei einem Spurwechsel mit dem Auto wegen fehlender Aufmerksamkeit beinahe mit einem Scooter kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung.

Landesverweis wegen Raserdelikt, Zuständigkeits-Streit und der Führerausweis-Entzug des Geschäftsführers

Hallo liebe SVG-Nerds und Geeks
Seit dem letzten Post sind schon wieder einige Wochen ins Land gegangen. Der erste Schnee ist da und wohl auch die ersten Verkehrsunfälle mit Sommerreifen. In dieser besinnlichen FiaZ- bzw. Weihnachts-Zeit wollen wir auf die Rechtsprechung mit SVG-Touch der letzten Wochen zurückblicken. Bieten die Urteile spannende Neuigkeiten oder Ausführungen zu einer interessanten Detailproblematik, gehen wir näher darauf ein. Dient ein Urteil eher dazu, bereits Bekanntes zu repetieren oder zur Aktualisierung von Fallsammlungen, folgt es am Ende des Beitrages als Bonus.


Urteil 6B_1164/2023: Landesverweis und Ausschreibung im Schengener Informationssystem nach Raserdelikt

Dieses Urteil befasst sich ausführlich mit der Frage, wann nach Raserdelikten ein fakultativer Landesverweis sowie die Ausschreibung desselben im Schengener Informationssystem möglich ist.

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Der Beschwerdeführer aus dem Kosovo wurde wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er wurde für sechs Jahre des Landes verwiesen und der Landesverweis im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben.

Der Beschwerdeführer stellt sich zunächst auf den Standpunkt, dass „nur“ eine grobe Verkehrsregelverletzung vorläge. Sein Überholmanöver sei nicht krass gewesen. Bei diesem überholte er innerorts ein anderes Fahrzeug vor einem Bahnübergang mit mindestens 100 km/h. Beim anschliessenden Spurwechsel verlor der Beschwerdeführer die Kontrolle über sein Fahrzeug und kollidierte mit einer Mauer bei der Gegenfahrbahn. Das Fahrmanöver habe gemäss der Vorinstanz den Charakter eines Wettstreits gehabt. Damit ein Überholen waghalsig im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG ist, muss es nicht nur gewagt, sondern unsinnig sein. Da der Beschwerdeführer sein Überholmanöver mit stark überhöhter Geschwindigkeit in einer Rechtskurve, bei einem Spurenabbau, bei beidseitigen Trottoirs sowie einer Busspur auf der Gegenfahrbahn durchführte und kein vernünftiges Motiv für diese Fahrweise erkennbar war, war das Überholmanöver unsinnig (E. 4.3).

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen den Landesverweis. Zu Unrecht sei man von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an seiner Landesverweisung ausgegangen. Das Raserdelikt führt nicht zu einem obligatorischen Landesverweis. Begeht ein Ausländer ein Verbrechen kann er für 3-15 Jahre des Landes verwiesen werden (Art. 66abis StGB). Ein Landesverweis muss verhältnismässig sein. Dabei muss eine Interessensabwägung erfolgen zwischen den privaten Interessen der betroffenen Person am Verbleib in der Schweiz und dem öffentlichen Interesse an der Fernhaltung von Personen, die gegen die hiesige Gesetze verstossen. Ein Landesverweis muss den Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK standhalten. Dabei sind die Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen. Insb. mit der familiären Situation muss sich das urteilende Gericht vertieft auseinandersetzen. Ob ein Härtefall vorliegt ist anhand der Einzelfallumstände zu prüfen. Ein Härtefall liegt in der Regel vor, wenn eine Ausländerin hier geboren wurde und die Schule besucht hat. Grds. schützt Art. 8 EMRK die „Kernfamilie“, also Ehegatten mit minderjährigen Kindern (zum Ganzen ausführlich E. 7.2).

Der Beschwerdeführer kam mit vier Jahren in die Schweiz und ist gut integriert. Allerdings, obwohl er mit seiner Freundin verlobt ist, besteht keine „Kernfamilie“. Sie wohnen nicht gemeinsam und unterstützen sich auch nicht finanziell. Die politische Situation zwischen dem Kosovo und Serbien spricht nicht gegen den Landesverweis. Das Bundesgericht erblickt beim Beschwerdeführer zwar ein erhebliches Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Als unverheirateter, kinderloser und junger Mann ohne jegliche relevanten gesundheitlichen Einschränkungen befindet sich der Beschwerdeführer jedoch in einer Lebensphase, die mit einer hohen Anpassungsfähigkeit einhergeht. Da der Beschwerdeführer aber bereits mit einer Katalogtat gemäss Art. 66a StGB vorbestraft ist, überwiegt nach dem Raserdelikt das öffentliche Interesse am Landesverweis (E. 7.4). Die Dauer von sechs Jahren ist ebenfalls verhältnismässig (E. 8).

Der Beschwerdeführer bemängelt schliesslich, dass die Vorinstanz ausführe, er könne sich auch in einem anderen Land, als dem Kosovo um einen Aufenthaltstitel bemühen, aber gleichzeitig den Landesverweis im SIS ausschreibe. Damit werde ihm verunmöglicht, sich in einem Schengen-Staat niederzulassen. Die Voraussetzungen für die Ausschreibung richten sich nach Art. 24 der SIS-II-Verordung. Sie ist dann gerechtfertigt, wenn ein Drittstaatangehöriger eine Gefahr für den Schengen-Raum sein könnte. Das ist  insb. bei einem Drittstaatsangehörigen der Fall, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Da der Kosovo als Drittstaat gilt und es kein Freizügigkeitsabkommen zwischen dem Kosovo und der EU gibt, gilt der Beschwerdeführer als Angehöriger eines Drittstaates. Die Voraussetzungen für die Ausschreibung sind erfüllt.


Urteil 1C_691/2023: Die Einzelfallumstände nach Art. 16 Abs. 3 SVG

Dieses Urteil beantwortet u.a. die Frage, ob ein Geschäftsleitungsmitglied und Einzelunternehmer, der Kundenbesuche machen muss, beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist.

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Der Beschwerdeführer überschritt ausserorts die Höchstgeschwindigkeit um 35km/h, wofür er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse bestraft wurde. Da die einfache Verkehrsregelverletzung, sowohl die leichte, als auch die mittelschwere Widerhandlung umfasst (E. 3.1.1), wurde der Beschwerdeführer mit einem Führerscheinentzug von zwei Monaten sanktioniert. Wegen der hohen Gefährdung erfolgte die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung zu Recht (E. 3).

Der Beschwerdeführer moniert sodann, dass die Vorinstanz über das gesetzliche Minimum von einem Monat hinausgegangen ist und eine Massnahme von zwei Monaten anordnete. Das Bundesgericht bestätigt die Verhälntismässigkeit der Massnahme. So durfte die geschaffene Gefährdung massnahmeerhöhend berücksichtigt werden (E. 4.2.2). Der reine Leumund (seit 1973) wurde wiederum mildernd berücksicht (E. 4.2.3). Schliesslich äussert sich das Bundesgericht zur geltend gemachten beruflichen Massnahmeempfindlichkeit. Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er als Verwaltungsratspräsident und Geschäftsleitungsmitglied Kunden besuchen muss. Dabei sei er in der ganzen Schweiz mit Laptop, Beamer und Akten unterwegs. Mit der Vorinstanz verneint das Bundesgericht allerdings die berufliche Massnahmeempfindlichkeit. Der Beschwerdeführer könne sich auch dem guten ÖV in der Schweiz bedienen. Auch Taxifahrten oder betriebsinterne Fahrgemeinschaften könnten eine Lösung sein. Grundsätzlich ist es ja auch Sinn einer erzieherischen Massnahme, dass sie das Leben etwas mühseliger macht (E. 4.2.4).

Die Beschwerde wird abgewiesen.


Urteil 1C_223/2024: Zuständigkeit im Administrativverfahren

Kann man mit einem Wohnsitzwechsel einen Wechsel der Zuständigkeit im Administrativmassnahmen-Verfahren erzwingen und die Massnahme allenfalls sogar hinauszögern? Das perpetuierende Forum verhindert das!

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Wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung bzw. einer schweren Widerhandlung wurde gegen den Beschwerdeführer ein Administrativmassnahmen-Verfahren eröffnet. Da er zu diesem Zeitpunkt offiziell im Kt. GR wohnhaft war, erfolgte ein erster Schriftenverkehr über die Entzugsbehörde im Kt. GR. Das Administrativmassnahmenverfahren wurde sistiert. Nach Vorliegen des Strafentscheides überwies das StVA Kt. GR die Akten an das StVA ZH zur weiteren Bearbeitung. Es wurde eine Warnmassnahme von drei Monaten angeordnet. Der Beschwerdeführer rügt, dass das StVA ZH für die Massnahme nicht zuständig war.

Die Zuständigkeit im Administrativ-Verfahren ergibt sich aus Art. 22 SVG. Für den Entzug von Führerausweisen ist grds. die Entzugsbehörde des Wohnsitzkantons zuständig. Es gilt der zivilrechtliche Wohnsitzbegriff (E. 3.1). Der Wohnsitz einer Person befindet sich gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Für die Begründung des Wohnsitzes müssen nach der Rechtsprechung zwei Merkmale erfüllt sein: Ein objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die Absicht dauernden Verbleibens. Dabei kommt es nicht auf den inneren Willen, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen (E. 3.1). Wenn die betroffene Person während einem Administrativ-Verfahren ihren Wohnsitz wechselt, bleibt die Zuständigkeit bei der Behörde, die das Verfahren einleitete (sog. perpetuatio fori). Im Administrativmassnahmen-Verfahren erfolgt die Einleitung eines Verfahrens i.d.R. mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs oder der Zustellung einer Verfügung. Auch eine Sistierung ändert an der Zuständigkeit nichts.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er bei der Einleitung des Administrativmassnahmen-Verfahrens seinen offiziellen Wohnsitz im Kt. GR hatte und deshalb das StVA Zürich nie zuständig war. Bereits im Strafverfahren allerdings liess sich der Beschwerdeführer verfahrensbezogene Post an seine Adresse im Kanton Zürich schicken. Dies kann ein Indiz für die Wohnsitznahme im Kanton Zürich sein, zumal für den Zeitpunkt des Erwerbs eines neuen Wohnsitzes nicht allein auf die An- und Abmeldung im Einwohnerregister einer Gemeinde abzustellen ist. Es bestanden genügend objektive Indizien dafür, dass der Beschwerdeführer bereits bei Einleitung des Administrativ-Verfahrens seinen zivilrechtlichen Wohnsitz im Kt. Zürich hatte. Deshalb war der Kt. GR gar nie zuständig und der Kt. ZH durfte verfügen. Die Beschwerde wird abgewiesen.


Bonus-Urteil 7B_275/2022: Fussgänger beim Rückwärtsfahren touchiert

Wer bei einem Parkplatz rückwärts fährt und dabei einen Fussgänger touchiert und verletzt, verstösst gegen Art. 36 Abs. 4 SVG und Art. 17 Abs. 1 VRV. Rückwärtsfahrende trifft eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers gelten diese Regeln nicht nur zwischen Autofahrern, sondern zwischen allen „Strassenbenützern“, also auch gegenüber Fussgängern.

Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Führerflucht als besonders leichter Fall?

Urteil 1C_170/2023: Die Krux mit der Katalogtat

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob auch bei Katalogtaten gemäss Art. 16b Abs. 1 oder 16c Abs. 1 SVG ein besonders leichter Fall angenommen werden kann.

Der Beschwerdeführer schleppte mit einem Zugfahrzeug ein anderes Auto ab. Während er an einer roten Ampel stand, missachtete ein Fahrradfahrer seinerseits ein Rotlicht, fuhr in das gespannte Abschleppseil, stürzte und verletzte sich dabei. Der Beschwerdeführer fuhr danach weiter. Im Strafverfahren wurde er zwar wegen „Führerflucht“ schuldig gesprochen. Von einer Bestrafung wurde nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG abgesehen.

Der Führerausweis wurde für drei Monate entzogen, unter Annahme einer schweren Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. e SVG). Interessant dabei ist, dass das ASTRA in seiner Stellungnahme zu der Massnahme ausführte, dass diese sich in einem Wertungswiderspruch zum Strafurteil befände. Ein dreimonatiger Führerausweis-Entzug sei im vorliegenden Spezialfall stossend. Darauf stützt sich auch der Beschwerdeführer. Auch wenn Führerflucht vorläge, sei läge mangels Gefährdung und schweren Verschulden keine schwere Widerhandlung vor. Die zuständige Behörde stellt darauf ab, dass besonders leichte Fälle nur Unter den Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 4 SVG angenommen werden können. Im vorliegenden Fall seien aber die Voraussetzungen einer Führerflucht erfüllt, weshalb die Mindestentzugsdauer von drei Monaten zur Anwendung gelangen müssen. Diese dürfe bekanntlich nicht unterschritten werden.

Zunächst äussert sich das Bundesgericht zum Begriff der „Führerflucht“ und stellt fest, dass der administrativ- und strafrechtliche Begriff der Führerflucht deckungsgleich sind (E. 5.2.1). Dann erinnert es daran, dass die Administrativ-Behörde in der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes frei ist. Zudem ist das Ziel des Administrativmassnahmen-Verfahrens nicht, jemanden zu bestrafen (sowie im Strafverfahren), sondern jemanden zu erziehen, auch wenn die erzieherische Massnahme von der betroffenen Person als Strafe empfunden wird (E. 5.2.2). Da in beiden Verfahren die Voraussetzungen der Führerflucht bejaht wurden, ist auch der Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ gewahrt (E. 5.2.3). Damit verfängt es auch nicht, wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass sein Verschulden gering und die Gefährdung leicht war. Denn diese Argumentation bezieht sich auf Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG, nicht aber auf die Katalogtat der Führerflucht (E. 5.2.4). Und schliesslich kann kein besonders leichter Fall vorliegen, wenn ein Katalogtatbestand erfüllt ist (E. 5.3).

Auf eine Massnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 SVG kann auch nicht verzichtet werden. Dass die Mindestentzugdauer einer Warnmassnahme nicht unterschritten werden darf, hat das Bundesgericht wiederholt bestätigt (s. eine gute Auflistung der Rechtsprechung in E. 6.1). Auch wenn hier ein Ausnahmefall vorliegt, liegt keine vom Gericht zu füllende Gesetzeslücke vor, wenn im Gesetz der „besonders leichte Fall einer Führerflucht“ nicht geregelt ist. Der Beschwerdeführer muss mit der Mindestentzugsdauer sanktioniert werden.

Zwei neue Urteile im Massnahmenrecht

Urteil 1C_434/2023: Ist die Fahreignungsabklärung eine vorsorgliche Massnahme? (wird amtl. publ.)

In diesem Urteil beantwortet das Bundesgericht die Frage, ob eine Fahreignungsabklärung ohne vorsorglicher Entzug unter Art. 98 BGG subsumiert wird oder nicht.

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Der Beschwerdeführer verursachte in der Berner Altstadt einen Selbstunfall, bei welchem sein Fahrzeug erheblich beschädigt wurde (z.B. Achsenbruch). Danach fuhr er noch mehr als einen Kilometer weiter, missachtete ein „Einfahrt Verboten“ Signal und stellte sein Fahrzeug im Parkverbot ab. Er habe einen wichtigen Termin gehabt. Das Strassenverkehrsamt ordnete deswegen eine Fahreignungsabklärung der Stufe 3 an.

Zunächst klärt das Bundesgericht eine Grundsatzfrage, nämlich ob eine Fahreignungsabklärung auch unter die vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 98 BGG fällt. Die Frage hat sich bis heute nicht gestellt, weil die Fahreignungsabklärung in der Regel mit einem vorsorglichen Entzug kombiniert wird. Nach einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung (E. 2.3) sowie den Materialien zum BGG (E. 2.4) kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Abklärungen nach Art. 15d SVG ebenfalls Art. 98 BGG zu unterstellen sind. Gerügt werden können also nur verfassungsmässige Rechte.

Trotzdem, damit der Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt wird, aber wohl auch letztmalig prüft das Bundesgericht, ob die Anordnung der Fahreignungsabklärung gegen Bundesrecht verstiess.

Fahreignungsabklärungen, die aufgrund von Art. 15d SVG angeordnet werden, müssen von einer verkehrsmedizinischen Fachperson der Stufe 3 oder 4 durchgeführt werden (Art. 28a Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a und b VZV). Für die Anordnung müssen Zweifel an der Fahreignung bestehen. Diese lagen in diesem Fall vor. Der über 80-jährige Beschwerdeführer schien nach dem Unfall sein Ziel, nämlich ein Zahnarzttermin mit einem „geistigen Röhrenblick“ zu verfolgen. Gemäss dem Leitfaden zur Fahreignung kann ein deutlich auffälliges Verhalten im Verkehr Indiz einer hirnorganischen Krankheit sein. Dass sich der Beschwerdeführer nach dem Unfall nicht um den Schaden kümmerte, sondern unbeirrt zu seinem Zahnarzttermin fuhr, liess sich auch nicht durch Alkohol oder Betäubungsmittel erklären. Deshalb durfte aufgrund des Unfalles an der Fahreignung gezweifelt werden, auch wenn die letzte Kontrolluntersuchung erst fünf Monate her war.


Urteil 1C_431/432/2024: Interbehördliche Zusammenarbeit und Verletzung des rechtlichen Gehörs (gutgh. Beschwerde)

In diesem Urteil befasst sich das Bundesgericht mit den Konsequenzen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, die ihren Ursprung in einem parallel laufenden Strafverfahren hat.

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Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen die Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Grund für die Massnahme war ein mutmasslicher Kokainkonsum in Zürich. Die Anordnung wurde mit dem Hinweis verbunden, dass ein vorsorglicher Entzug der Fahrerlaubnis erfolgen würde, wenn die Abklärung nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgeführt wird. Die aufschiebende Wirkung eines allfälligen Rechtsmittels wurde in der Verfügung entzogen. Das Verwaltungsgericht Kt. GR wies sowohl ein Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Zudem verwies es mit weiterer Verfügung die Beschwerdeführerin an die Strafbehörden des Kantons Zürich, wenn sie umfassende Akteneinsicht wünscht. Die Beschwerde richtet sich gegen diese Verfügungen. Zwischenzeitlich wurde der Führerausweis im Juli 2024 vorsorglich entzogen. Auch dagegen erhob die Betroffene Beschwerde beim Verwaltungsgericht.

Gegen Zwischenentscheide im kantonale Verfahren kann beim Bundesgericht nur Beschwerde geführt werden, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Wenn eine Rüge nur die Verletzung des rechtlichen Gehörs betrifft, dann ist diese Voraussetzung nicht erfüllt. Da aber im vorliegenden Fall die Fahrerlaubnis bereits entzogen wurde, liegt gemäss dem Bundesgericht ausnahmsweise ein solcher Nachteil vor, weshalb auf die Beschwerde eingetreten wird.

Wer gelegentlich Kokain konsumiert, kann zu einer Fahreignungsabklärung verpflichtet werden. Keine Zweifel bestehen dann, wenn nur ein einmaliger Konsum ohne Konnexität zum Strassenverkehr vorliegt (ausführlich dazu E. 2). Im vorliegenden Fall wurde die Fahreignungsabklärung angeordnet, weil die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Strafanzeige angab, zwischen 2018 und 2023 regelmässig Kokain konsumiert zu haben. Dies habe sie allerdings in späteren Aussagen relativiert. Da aber sowohl die Strafbehörden des Kantons Zürichs wie auch die Vorinstanz die weiteren Akten des Strafverfahrens nicht herausgaben, die das belegt hätten, liegt aus ihrer Sicht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Das Bundesgericht bejaht dies ebenfalls, denn die Akteneinsicht wird vom Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst (E. 3.2). Die Vorinstanz hätte die Akten des Zürcher Strafverfahrens beiziehen müssen zur Beurteilung der Zweifel an der Fahreignung, da mit dem vorsorglichen Entzug der Fahrerlaubnis ein nicht wieder gut zu machender Nachteil drohte (E. 3.3).

Eine weitere Gehörsverletzung erblickt das Bundesgericht in dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin keine umfassende Akteneinsicht gewährt wurde. Die Unterlagen, die sie erhielt, äusserten sich gar nicht zum Betäubungsmittelkonsum, weshalb die Anordnung der Fahreignungsabklärung auch nicht wirklich nachvollzogen werden konnte. Der Rechtsvertreter erhielt im Strafverfahren übrigens keine Akteneinsicht, weil noch keine Einvernahmen stattfanden (vgl. Art. 101 Abs. 1 StPO).

Das BGer heisst die Beschwerde(n) gut.

Dieses Urteil zeigt auf, welche negativen Konsequenzen die Abhängigkeit zwischen Straf- und Administrativverfahren für betroffene Personen haben kann. Die Beschwerdeführerin benötigte Unterlagen aus dem Strafverfahren, die sie aber nicht erhielt. Eine strenge Handhabung des Akteneinsichtsrechts im Strafverfahren kann also zu einem Nachteil im Verwaltungsverfahren führen.

Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

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Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

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Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

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In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

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Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Rückblick: Tödlicher Unfall und Entscheide zur Geschwindigkeit

Die erste Strafkammer des Bundesgerichts hat wieder mal Vollgas gegeben und es sind einige neue Entscheide ergangen. Diesen Urteilen widmen wir uns hier aus Zeitgründen in teilweise stark zusammengefasster Form.

Urteil 6B_16/2023: Fahrlässige Tötung oder qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung (Vorsatz vs. Fahrlässigkeit)

Dieses Urteil befasst sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bei krassen Verkehrsdelikten. Die Beschwerde der beschuldigten Person bzgl. Strafmass wird zudem gutgeheissen.

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Dieses Urteil befasst sich mit einem tödlichen Verkehrsunfall. Der Betroffene überholte im Januar 2017 unter dem Einfluss von THC wegen einem am Vorabend gerauchten Joints auf der Kantonsstrasse zwischen Chur und Domat/Ems zwei andere Fahrzeuge. Dabei übersah er einen Motorroller, kollidierte mit diesem. Die Lenkerin des Rollers starb noch auf der Unfallstelle. Von der ersten Instanz noch wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, änderte das Kantonsgericht GR dieses Urteil auf Berufung hin u.a. auf fahrlässige Tötung. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Sie beantragt, dass der Beschwerdegegner wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung schuldig zu sprechen sei. Aus ihrer Sicht hat der Beschwerdegegner den Tod der Rollerfahrerin in Kauf genommen. Auch der Betroffene erhebt Beschwerde bzgl. dem Strafmass.

Das Bundesgericht setzt sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit (E. 2.2.2) sowie den Strassenverkehrsregeln zum Überholen (E. 2.2.3) auseinander. Es hält auch daran fest, dass Eventualvorsatz bei Unfällen mit Todesfolge nur zurückhaltend und in krassen Fällen anzunehmen ist. Es muss sich aus den Einzelfallumständen ergeben, dass sich der oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (E. 2.2.4). Im vorliegenden Fall verhielt es sich so, dass hinter dem Motorroller noch ein weiteres Fahrzeug dem Beschwerdegegner entgegen fuhr. Für ihn „verschmolzen“ die beiden Fahrzeuge optisch in der Morgendämmerung. Da der Beschwerdegegner die Rollerfahrerin in pflichtwidriger Weise nicht wahrgenommen hat, entschied er sich im Lichte der Rechtsprechung nicht gegen Leib und Leben. Er handelte nicht eventualvorsätzlich (zum Ganzen ausführlich E. 2.4). Auch die weiteren Rügen der Staatsanwaltschaft werden abgelehnt. Sie machte geltend, dass das Überholmanöver auch gegenüber den überholten Fahrzeugen eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung war. Das Bundesgericht bestätigt aber den Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung (E. 3).

Gutgeheissen wird aber die Beschwerde des Betroffenen. Er wurde mit einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten bestraft. Aus Sicht des Bundesgerichts begründete die Vorinstanz diese hohe Strafe zu wenig. Zudem wurde die lange Verfahrensdauer bzw. eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt (E. 5).


Urteil 6B_1065/2023: Regeln zur Nachfahrmessung ohne kalibriertes Messsystem

Dieses französische Urteil setzt sich exemplarisch mit den Regeln zur Geschwindigkeitskontrolle gemäss Art. 6ff. der Verordnung des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung (VSKV-ASTRA) auseinander, insb. welche Regeln bzgl. der Nachfahrmessung nach Tacho gelten und wann ein „massiver“ Fall gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorliegt.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung. Gemäss einer polizeilichen Nachfahrmessung fuhr er auf einer Autostrasse mit Tempolimite 80 km/h auf einer Strecke von 200 Metern gemäss Tacho des Polizeifahrzeuges mit 145 km/h. Abzugsbereinigt ergab sich daraus eine gefahrenes Tempo von 122 km/h bzw. Geschwindigkeitsüberschreitung von 42 km/h. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass 200m für eine Nachfahrmessung nicht ausreichend seien.

Art. 6 VSKV-ASTRA listet die Messarten auf, welche grundsätzlich für die Messung von Fahrzeug-Geschwindigkeit zu verwenden sind. Die Nachfahrmessung ist eine davon (lit. c Ziff. 2). Gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA sind Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Nachfahrmesssystem auf Fälle von massiver Geschwindigkeitsüberschreitung zu beschränken. Die Regeln zu Geschwindigkeitsmessungen werden wiederum durch die „Weisungen über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ konkretisiert. Gemäss Kapitel 20 muss nach Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem zunächst die Genauigkeit des Tachos des Polizeifahrzeuges geprüft und danach noch der Abzug gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. i VSKV-ASTRA vorgenommen werden. Dabei handelt es sich um Empfehlungen, welche das Gericht nicht binden (E. 1.1.4). Knackpunkt ist vorliegend, dass die Weisungen unter Ziff. III.10.1 sagen, dass bei Nachfahrkontrollen u.a. eine genügend lange Messstrecke vorausgesetzt ist, wobei sie auf Anhang 1 der VSKV verweist. Bei 200m ist dort kein Sicherheitsabzug angegeben.

Die kantonalen Instanzen waren der Meinung, dass 200m als Strecke für eine Nachfahrmessung ausreichen, auch weil die Weisungen des ASTRA nicht verbindliches Recht sind und das Gericht die Beweise frei würdigen kann. Der Beschwerdeführer sieht das natürlich diametral anders. Insb. die Messtrecke von nicht mal 200m sei zu kurz, weshalb diese Messung nicht verwertet werden dürfe.

Zunächst hält das Bundesgericht fest, dass Anhang 1 der VSKV-ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. h vs. lit i; E. 1.4.1). Ebenfalls stellt es klar, dass Ziffer III.10 der Weisungen des ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist, sondern nur die Regeln in Ziffer III.20. Entgegen den Vorbringen braucht es keine Mindeststrecke für die Messung und das Gericht muss die Beweise frei würdigen (E. 1.4.2).

Der Beschwerdeführer rügt sodann, dass keine massive Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorläge. Aus seiner Sicht kann es sich bei dieser Formulierung nur um Raserdelikte handeln. Dem widerspricht das Bundesgericht. Es geht hier darum „wichtige Fälle“ von Geschwindigkeitsdelikten zu erfassen. Wenn man, wie im vorliegenden Fall, die Höchstgeschwindigkeit um mehr als 50% überschreitet und eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist die Voraussetzungen eines „wichtigen“ bzw. massiven Falles erfüllt (zur ausführlichen Auslegung E. 2.4).


Urteile 6B_13-16/2024: Wo steht denn hier ne Tafel? (gutgh. Beschwerde)

Diese Urteile wurden auch schon in der Presse erwähnt, z.B. 20min. Es geht um eine Geschwindigkeitstafel bei einer Baustelle am Kerenzerberg, die nach Ansicht des Obergerichts Kt. GL so platziert war, dass sie von den Verkehrsteilnehmern nicht habe wahrgenommen werden können. Das Bundesgericht sieht das anders, weshalb wohl ca. 600 geblitzte Motorfahrzeugführer ihre Busse doch bezahlen müssen.

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Wir machen es hier besonders kurz: Signale müssen von den Verkehrsteilnehmern beachtet werden (Art. 27 Abs. 1 SVG). Das geht soweit, dass man auch rechtswidrig aufgestellte Signale (z.B. wenn Signale nicht ordentlich gemäss Art. 107ff. SSV veröffentlicht wurden) beachten muss. Signale vermögen Fahrzeuglenker nur zu verpflichten, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie leicht und rechtzeitig erkannt werden können. Der Standort von Signalen richtet sich nach Art. 103 SSV.

Die fragliche Signaltafel zur Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts auf 50 km/h stand im vorliegenden Fall am rechten Strassenrand etwas nach der Mitte einer Haarnadelkurve. Die Vorinstanz war der Meinung, dass insb. Motorradfahrer beim Befahren einer Linkskurve ihren Blick auf die weiterführende Strasse und nicht auf den rechten Fahrbahnrand richten. Zudem spreche der Umstand, dass ca. ein Viertel aller kontrollierten Lenker zu schnell waren, dafür, dass die Tafel schlecht sichtbar war. Das Bundesgericht sieht das anders. Die Tafel sei schon von weitem ersichtlich gewesen und auch wenn sie rechtswidrig aufgestellt worden wäre, hätte die Signalisationstafel wegen dem Vertrauensgrundsatz trotzdem beachtet werden müssen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird insofern gutgeheissen.


Urteil 6B_731/2022: Das trügerische Radarfoto (gutgh. Beschwerde)

Auch in diesem Fall wehrt sich der Beschwerdeführer gegen die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Vorinstanz verfiel in Willkür, als sie davon ausging, dass das Radarfoto den Beschwerdeführer zeige.

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Vorliegend geht es um eine Tempoüberschreitung von 22 km/h innerorts, also um eine einfache Verkehrsregelverletzung bzw. eine Übertretung. Das Bundesgericht prüft hier, ob der Sachverhalt von der Berufungsinstanz willkürfrei festgestellt wurde (Art. 398 Abs. 4 StPO).

Der Beschwerdeführer bestreitet, das Auto im Zeitpunkt der Verkehrsregelverletzung gefahren zu sein. Das Radarfoto zeigt eine männliche Person mit einer Gesichtsmaske. Im Verlaufe des Verfahrens musste der Beschwerdeführer Passfotos sämtlicher männlicher Mitarbeiter einreichen, die mit dem geblitzten Auto fahren durften. Das erstinstanzliche Gericht stellte zunächst fest, dass anhand der Passfotos nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob der Beschwerdeführer selber gefahren sei. Bei der Hauptverhandlung war das Gericht allerdings der Meinung, ihn anhand eines Passfotos als Lenker erkannt zu haben. Dieses Passfoto zeigte aber den Bruder des Beschwerdeführers. Der Umstand, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer auf einem Passfoto zu erkennen glaubte, das nachweislich einen der anderen potentiellen Fahrer abbildet, muss gleichzeitig und unweigerlich massgebliche Zweifel an der Richtigkeit der Identifikation auf dem Radarbild begründen. Damit wurde der Sachverhalt aber willkürlich festgestellt. Die Sache wird zurückgewiesen.

Vertrauensgrundsatz und die unklare Verkehrssituation

Urteil 6B_272/2024: Vertrau mir doch!

Ein Busfahrer wehrt sich gegen eine Busse wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung. Er ist mit seinem Linienbus in Rapperswil-Jona auf einen Kreuzungsbereich eingefahren, ohne zu bremsen oder zu verlangsamen. Dabei handelt es sich um eine Kreuzung, von welcher bekannt ist und die Buschauffeure auch entsprechend geschult werden, dass andere Verkehrsteilnehmer sich nicht immer an Lichtsignale halten. Es kam, wie es kommen musste, es gab auf der Kreuzung ein Kollision und der Busfahrer wurde wegen einer Vortrittsmissachtung bestraft. Er habe sich in dieser speziellen Situation nicht auf den Vertrauensgrundsatz gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG verlassen dürfen. Im Gegenteil lag aus Sicht der Vorinstanz ein Anwendungsfall von Art. 26 Abs. 2 SVG vor. Der Buschauffeur hätte nämlich besonders vorsichtig sein müssen, weil es Anzeichen dafür gab, dass sich Verkehrsteilnehmer nicht richtig verhalten würden. Das sieht dieser natürlich überhaupt nicht so, obwohl er einige Verkehrsteilnehmer wahrnahm, die sich nicht an die Lichtsignale hielten. Den von links kommenden Unfallgegner sah er aber nicht (stark zusammengefasst E. 1.1 – 1.2).

Die Frage hier lautet also, wann liegt eine Situation vor, in welcher man sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, obwohl man kein Fehlverhalten eines Unfallbeteiligten feststellt?

Grundsätzlich darf man ja darauf vertrauen, dass sich auf der Strasse alle richtig verhalten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Dieser Grundsatz wird aber dadurch relativiert, dass dies nicht gilt, wenn sich jemand nicht richtig verhält. Dann muss man besondere Vorsicht walten lassen (Art. 26 Abs. 2 SVG). Es gibt aber Situationen, die so unübersichtlich sind, dass man generell defensiv fahren muss bzw. sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann. Das BGer definiert das so (E. 1.3.1):

„Ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers kann sich aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage aufdrängen, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts der besonderen Gefahrenneigung risikoarmes Verhalten gefordert.“

Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer ungebremst in eine Kreuzung, bei welcher bekannt ist, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht immer an die Regeln halten. Aus diesem Grund durfte der Busfahrer nicht darauf vertrauen, dass sich alle richtig verhalten, auch wenn er den Unfallgegner nicht gesehen hat. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Freiheits- vs. Geldstrafe und deren Aufschub

Urteil 6B_1332/2023: Die besonders günstigen Umstände nach Art. 42 Abs. 2 StGB (tlw. gutgh. Beschwerde)

Bei einem Überholmanöver verursachte der Beschwerdeführer einen Verkehrsunfall, bei welchem die Lenkerin und drei Insassen des anderen Fahrzeuges verletzt wurden. Ohne sich um den Sachschaden oder die verletzten Personen zu kümmern floh der Beschwerdeführer von der Unfallstelle. Sein Fahrzeug war bei seiner Flucht stark beschädigt und entsprach nicht mehr den Vorschriften. Am folgenden Tag stellte sich der Beschwerdeführer bei der Polizei.

Wegen dem Unfall wurde der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 90 Tagen und einer Busse verurteilt wegen grober Verkehrsregelverletzung, Führerflucht und Lenken eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges. Grund dafür: Seine Vorstrafen. Mit seiner Beschwerde verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse.

Die grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) sowie die Führerflucht (Art. 92 Abs. 2 SVG) sind Vergehen, die mit Freiheitsstrafe bis drei Jahren oder Geldstrafe sanktioniert werden können. Ein Gericht richtet sich bei der Strafzumessung nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB, wobei es über ein grosses Ermessen verfügt. Das Bundesgericht greift in die Strafzumessung deshalb nur ein, wenn

– die Strafe gesetzlich nicht vorgesehen ist,
– wenn sie auf anderen Kriterien als Art. 47 StGB gründet,
– wenn wichtige Elemente nicht berücksichtigt wurden,
– oder wenn ein Ermessensmissbrauch wegen zu milder oder harter Strafe vorliegt.

Das Gericht muss bei der Strafzumessung begründen, welche Elemente für die Strafe relevant waren, wobei es unwichtige Elemente nicht unbedingt erwähnen muss.

Das Gericht kann anstelle von Geldstrafen auch kurze Freiheitsstrafen anordnen, wenn die Voraussetzungen gemäss Art. 41 StGB erfüllt sind. Die Geldstrafe hat aber bei kleiner und mittlerer Kriminalität nach wie vor Vorrang. Nur wenn der Staat die öffentliche Sicherheit nicht anders garantieren kann, soll der Freiheitsstrafe der Vorrang gewährt werden. Sprechen sowohl gute Gründe für eine Geldstrafe, als auch Freiheitsstrafe, muss im Rahmen der Verhältnismässigkeit der Geldstrafe den Vorzug gegeben werden. Bei der Wahl der Strafe ist schliesslich nicht das Verschulden massgebend, sondern die spezialpräventive Wirkung der Strafe. Wählt es die Freiheitsstrafe, muss das Gericht dies ausführlich begründen (E. 1.1).

Das kantonale Gericht begründete die Wahl der Freiheitsstrafe im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer nur drei Monate vor dem Unfall aus einer Freiheitsstrafe (wegen versuchtem Mord) entlassen wurde. Zudem ist er mehrfach vorbelastet und erhielt auch schon Geldstrafen. Unter diesen Umständen durfte die kantonale Instanz davon ausgehen, dass eine Geldstrafe vorliegend keine Wirkung mehr habe. Die Dauer der Freiheitsstrafe begründete es zudem nachvollziehbar nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB (zum Ganzen E. 1.2-1.4).

Der Beschwerdeführer verlangt, dass die Freiheitsstrafe bedingt auszusprechen sei, weil besonders günstige Umstände gemäss Art. 42 Abs. 2 StGB vorlägen. Wenn eine Person vorbestraft ist, entfällt grundsätzlich die Vermutung einer günstigen Legalprognose. Im Gegenteil sind die Vorstrafen ein Indiz dafür, dass die betroffene Person weiterhin delinquieren wird. Eine besonders günstige Prognose kann unter Würdigung aller Umstände vorliegen, wenn

– die zu beurteilende Straftat nicht mit den Vorstrafen zusammenhängt,
– oder sich die Lebensumstände der betroffenen Person besonders positiv verändert haben.

Auch bei dieser Beurteilung hat das Gericht einen grossen Ermessenspielraum. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn das Gericht hauptsächlich auf die Vorstrafen abstellt und übrige Einzelheiten ausser Acht lässt (E. 2.1).

Die kantonale Instanz hob zwar viele positive Entwicklungen des Beschwerdeführers hervor. Allerdings waren die Vorstrafen zu gravierend, als dass man nach Ansicht der Vorinstanz von einem besonders günstigen Fall hätte ausgehen können. Darin erblickt das Bundesgericht einen Ermessensmissbrauch. Aus Sicht der Bundesrichter wurde im kantonalen Verfahren zu sehr auf die Vorstrafen abgestellt. Denn der Beschwerdeführer führt mittlerweile wieder ein stabiles und strukturiertes Leben. Zudem bezieht sich das SVG-Delikt nicht auf seine Vorstrafen. Das Bundesgericht geht also von einem besonders günstigen Fall aus. Die Sache wird zur Festlegung der Probezeit an die Vorinstanz zurückgewiesen (E. 2.2 – 2.3).