Von Spontanaussagen, dem Mieterindiz und dem Anvisieren von Schnellfahrern

Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, welche Aussagen auch ohne Belehrung über die Miranda-Rechte verwertet werden dürfen und ob die Miete ein Indiz für die Lenkerschaft ist.

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Der Beschwerdeführer wurde aus Sicht der Strafbehörden bei einer Töfftour mit zwei Kollegen über mehrere Pässe mit einem gemieteten Motorrad geblitzt – und zwar im Raserbereich. Auf die Spur gekommen sind ihm die Behörden unter anderem, weil der Beschwerdeführer einem Polizisten am Telefon äusserte, dass der Vermieter des Motorrades ihm gesagt habe, dass es ihn geblitzt hätte. Da er diese Aussage aber spontan und ohne Belehrung über seine Miranda-Rechte machte, erachtet es der Beschwerdeführer als rechtswidrig, wenn diese Äusserung nun im Strafverfahren gegen ihn verwendet wird.

Im Strafprozess gelten strenge und zwingende Protokollierungsregeln (Art. 76ff. StPO). Damit wird einerseits der Sachverhalt festgehalten und andererseits dafür gesorgt, dass das Strafverfahren einem Rechtsstaate würdig durchgeführt wird (E. 1.3.2). Nach Eröffnung der Untersuchung, darf die Polizei grundsätzlich keine selbstständigen Ermittlungen mehr durchführen. Es benötigt dazu einen Auftrag der Staatsanwaltschaft (Art. 312 StPO). Wie bei den meisten Grundsätzen gibt es auch hier eine Ausnahme bei einfachen Erhebungen zur Klärung des Sachverhalts. So ist etwa die selbstständige polizeiliche Ermittlung von Geschädigten und Zeugen sowie deren informatorische Befragung, namentlich zur Abklärung, ob diese beweisrelevante Angaben zum Sachverhalt machen können, weiterhin möglich (E. 1.3.3). Genau eine solche einfach Abklärung machte die Polizei, als sie den Beschwerdeführer anrief und sich nach dem Halter des geblitzten Motorrades erkundigte. Dabei ging es noch nicht um die Geschwindigkeitsüberschreitung. Die beiläufige Aussage, dass er geblitzt wurde, machte der Beschwerdeführer spontan, ohne dass er vom Polizisten direkt aufs Schnellfahren angesprochen wurde. Aus diesem Grund durfte diese im Polizeirapport protokollierte Aussage schliesslich als Beweis verwertet werden (E. 1.4).

Im vorliegenden Fall gibt es keinen direkten Beweis, nach welchem erstellt ist, dass der Beschwerdeführer das Motorrad gelenkt hatte. Eine strafrechtliche Verurteilung ist aber auch anhand von Indizienbeweisen möglich. Eine Mehrzahl von Indizien, welche für sich allein betrachtet nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Tatsache oder Täterschaft hindeuten und insofern Zweifel offenlassen, können in ihrer Gesamtheit ein Bild erzeugen, das den Schluss auf den vollen rechtsgenügenden Beweis von Tat oder Täter erlaubt (E. 2.3.2). Das Halterindiz, also dass der Halter auch der Lenker eines Motorfahrzeuges war, ist seit je in der Rechtsprechung verankert (E. 2.3.3 mit vielen Hinweisen). Aus dem Halterindiz kann das Mieterindiz abgeleitet werden, also dass der Mieter eines Fahrzeuges, wohl auch dessen Lenker war (E. 2.5.2). Insgesamt würdigten die kantonalen Instanzen weitere Indizien wie die Aussagen der Beteiligten, die Angaben zur Motorradtour sowie die Bekleidung des Beschwerdeführers woraus sich ein Beweisbild ergab, aus welchem willkürfrei darauf geschlossen werden konnte, dass der Beschwerdeführer das Motorrad im Tatzeitpunkt auch lenkte.


Gerade eben haben wir gelernt, dass eine Geschwindigkeitsmessung nicht verwertbar ist, wenn dazu jegliche Unterlagen fehlen (vgl. Beitrag vom 2. April 2025). Gilt das auch, wenn die vom Hersteller im Rahmen der Prüfung der Visiereinrichtung vorgesehene Justierung des Fadenkreuzes des Messgeräts nicht vorgenommen wurde?

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Der Beschwerdeführer wurde bei einem Überholmanöver ausserorts mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h gemessen. Er überschritt damit die geltende Tempolimite um 30 km/h. Im vorliegenden Fall liegt ein Eichzertifikat vor, welches grundsätzlich bestätigt, dass das Messgerät funktionierte. Ob nun das Visier im vorliegenden Fall justiert wurde oder nicht, war letztlich irrelevant. Gutachterlich wurde nämlich festgestellt, dass die Messung technisch korrekt und plausibel war. Insbesondere hielt der Gutachter fest, dass eine Verschiebung des auf dem Messvideo sichtbaren Fadenkreuzes die Messung nicht beeinflusse. Der Messbeamte ziele nicht damit auf das zu messende Fahrzeug, sondern durch eine separate Visiervorrichtung; die Videoaufnahme und das in dieser ersichtliche Fadenkreuz dienten einzig dazu, das vom Messgerät über die Visiervorrichtung anvisierte Objekt zweifelsfrei zu identifizieren (E. 1.3.).

Eine Geschwindigkeitsüberschreitung ausserorts um 30 km/h ist eine grobe Verkehrsregelverletzung (E. 2.3.). Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er sich in einem Notstand befunden habe (Art. 17 StGB), weil das überholte Fahrzeug beschleunigt habe. Rechtfertigungsgründe werden bei Geschwindigkeits-überschreitungen nur mit grosser Zurückhaltung angenommen (vgl. dazu den Beitrag vom 16. September 2022). Vorliegend ist fraglich, ob sich der Beschwerdeführer überhaupt in einer Notstandslage befand, denn er hätte sein Überholmanöver einfach abbrechen können, als das andere Fahrzeug beschleunigte.

Eine Verkehrsregelverletzung kann entschuldbar sein, wenn man sich aufgrund des Fehlverhaltens einer anderen Person in einer misslichen Lage befindet. Wählt man in einer solchen Situation eine Lösung, die rückblickend die schlechtere von mehreren Möglichkeiten war, muss das nicht heissen, dass man schuldhaft handelte. Nur wenn die gewählte Lösung geradezu kopflos erscheint, macht man sich strafbar (dazu Urteil 6B_351/2017 E. 1.4).

Vorliegend lag es auf der Hand, dass das Abbrechen des Überholmanövers die beste Lösung gewesen wäre. Zusammen mit dem überholten Fahrzeug zu beschleunigen war offensichtlich die schlechtere Lösung und damit kopflos. Deshalb kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen, dass er eine dem Abbremsen gleichwertige Lösung gewählt hatte (E. 3.3).

Von Empathie beim Telefonieren und fehlenden Unterlagen bei Geschwindigkeitsdelikten

Urteil 1C_672/2024: Das unfreundliche Telefonat

Egal ob beim Staat oder in der Privatwirtschaft, immer mal wieder hat man es mit nervigen Menschen zu tun. Ist ein Richter befangen, wenn ihn eine Prozesspartei nervt und er ein Telefonat etwas unprofessionell führt und unwirsch beendet?

Hier die Antwort:

Die Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers wurde für einen Monat entzogen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel und ersuchte um unentgeltliche Prozessführung. Wegen Aussichtslosigkeit wurde das Gesuch abgewiesen. Die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht SG gutgeheissen und an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Im Laufe des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer mit Zwischenverfügung aufgefordert darzutun, wie er sich Ferien (2x 2 Wochen) leisten könne, wenn er finanziell in einer schlechten Lage sei. In dieser Abklärung erblickte der Beschwerdeführer eine «voreingenommene und unerhörte Gemeinheit in aller Form» und stellte ein Ausstandsbegehren gegen die verfahrensleitende Richterin beim Abteilungspräsident. Im Laufe des Verfahrens führte der Beschwerdeführer mit dem Abteilungspräsident ein Telefonat, bei welchem dieser dem Beschwerdeführer durch die Blume sagte, dass Telefonieren mit ihm mühselig sei («jetzt hanich das au mol dörfe erläbe, meh bringt Sie würkli chum usem Telefon…»). Natürlich erblickte der Beschwerdeführer auch darin eine Befangenheit und erhebt Beschwerde, nachdem die Vorinstanz urteilte, dass keine Ausstandsgründe vorlagen.

Bürgerinnen und Bürger haben in der Schweiz ein Recht auf ein faires Verfahren. Das bedingt natürlich, dass eine Sache durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht beurteilt wird (Art. 30 Abs. 1 BV). Die Unabhängigkeit eines Gerichtes bemisst sich nicht nach dem Empfinden der betroffenen Person, denn dann wären wahrscheinlich alle Gerichte befangen. Massgeblich ist, ob das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit in objektiver Weise begründet erscheint. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter oder die Richterin tatsächlich befangen ist (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Auch wenn der Richter im vorliegenden Fall aufgrund seiner Aussagen «genervt» erschien, kann daraus noch keine Befangenheit konstruiert werden. Der Beschwerdeführer erklärte selbst, dass er zuvor schon mehrere Male mit dem Sekretariat telefonierte. Das habe sich wohl herumgesprochen. Von einer Gerichtsperson wird seitens Bundesgerichts erwartet, dass sie unparteiisch urteilen kann, auch wenn sie sich über die Prozessführung einer Partei nervt (z.B. wegen unnötiger, zu langer oder repetitiver Eingaben). Auch wenn das Telefonat des Abteilungspräsidenten vlt. nicht besonders empathisch geführt wurde, er hängte einfach auf, war er deswegen noch nicht befangen (E. 3). Gleiches gilt für die verfahrensleitende Richterin, welche sich mit den Ferien des Beschwerdeführers befasste. Dieser selber gab gegenüber den Behörden an, dass er in den Ferien sei. Deshalb handelte es sich nicht um eine «infame Mutmassung» der Behörden, wenn diese genauere Abklärungen zu eben diesen Ferien treffen wollten (E. 4).


Urteil 6B_1057/2023: Fehlende Unterlagen bei der Geschwindigkeitsüberschreitung (gutgh. Beschwerde)

Es ist immer eine kleine Sensation, wenn eine Beschwerde bei einem Geschwindigkeitsdelikt gutgeheissen wird. Das Schnellfahren gehört zur absoluten Massendelinquenz und die Gerichte urteilen hier traditionell extrem zurückhaltend. Wenn aber zu einer Geschwindigkeitsmessung jegliche Unterlagen fehlen, reicht das für eine Verurteilung?

Hört sich interessant an!

Der Beschwerdeführer wurde mit einer Busse von CHF 600 bestraft, weil er innerorts das Tempolimit von 50 km/h um 22 km/h überschritten hatte. Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Feststellung des Sachverhalts. Einerseits moniert er, dass er nicht der Lenker war, auch wenn er sich auf dem polizeilichen Formular zur Lenkerermittlung als Halter und Lenker bezeichnete. Andererseits fehlen in den Akten das Messprotokoll sowie das Logbuch und die einwandfreie Funktionsfähigkeit des Messgerätes sei auch nicht erstellt. Damit ist die Geschwindigkeitsmessung aus Sicht des Beschwerdeführers nicht verwertbar.

Geschwindigkeitsmessungen erfolgen nach den Modalitäten von Art. 6 ff. VSKV-ASTRA. Die Messgeräte müssen geeicht (Art. 3 VSKV-ASTRA) und das Kontrollpersonal entsprechend geschult sein (Art. 2 VSKV-ASTRA). Zudem gibt es Weisungen des ASTRA zu Geschwindigkeitskontrollen, die aber kein Bundesgericht darstellen und die freie Beweiswürdigung der Gerichte unberührt lassen. Gemäss den Weisungen ist bei stationären bemannten Geschwindigkeitsmessungen ein Messprotokoll zu erstellen. Bei autonomen Geschwindigkeitsmessungen ist zusätzlich ein Logbuch zu führen. Das Bundesgericht hat wiederholt entschieden, dass Fehler in den Messprotokollen grundsätzlich nicht dazu führen, dass die Geschwindigkeitsmessung nicht als Beweis verwertet werden kann. Im vorliegenden Fall fehlen aber Messprotokoll, Logbuch sowie das Eichzertifikat des Messgeräts gänzlich. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz nicht davon ausgehen, dass das Messgerät einwandfrei funktionierte (E. 3.1-4 mit vielen weiteren Urteilen zur Thematik des korrekten Messprotokolls). Es war also willkürlich anzunehmen, dass der Beschwerdeführer zu schnell gefahren war.

Die Vorinstanz durfte aber immerhin davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt der Lenker war. Sie würdigte nicht nur die Angabe des Beschwerdeführers auf der Lenkerermittlung, dass er selber gefahren ist, sie setzte sich auch mit seinem Aussageverhalten auseinander (E. 3.5).

Da allerdings die Korrektheit der Messung nicht erstellt ist, wird die Beschwerde gutgeheissen.

Zusammenspiel zwischen Straf- und Administrativ-Verfahren… und mehr

Urteil 1C_246/2024: Ich bin einfach gebunden…

Das Urteil befasst sich mit der allseits bekannten Thematik, nämlich der Bindung der Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt. Interessant ist das Urteil allemal, weil sich das Bundesgericht ziemlich eingehend damit befasst, was bei einer Verfahrenssistierung alles möglich ist. Zudem ist es das erste Mal (soweit ersichtlich), dass sich jemand vor Bundesgericht wehrt, weil sein vorsorglicher Entzug nicht neu beurteilt wurde gemäss Art. 30a Abs. 2 VZV.

More please…

Der Führerausweis auf Probe des Beschwerdeführers wurde vorsorglich entzogen, weil er zwei Verkehrsunfälle verursachte. Diese Massnahme wird zugunsten der Verkehrssicherheit angeordnet, wenn die Annullierung des Führerausweises auf Probe zur Debatte steht (vgl. Urteil 6B_1019/2016 E. 1.4.3).

Eingeheng beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Dualität der Verfahren im Schweizer Recht nach einer Verkehrsregelverletzung. Im Administrativmassnahmen-Verfahren ist die Entzugsbehörde grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden, sodass widersprüchliche Entscheide vermieden werden. Das bedeutet auch, dass sich die betroffene Person gdrs. im Strafverfahren gegen den Vorwurf einer Verkehrsregelverletzung wehren muss, u.a. weil das Strafverfahren besser Gewähr dafür bietet, dass das Ergebnis der Sachverhaltsermittlung näher bei der materiellen Wahrheit liegt. Und auch wenn die Entzugsbehörde im Administrativ-Verfahren das Beschleunigungsgebot beachten muss, so darf sie trotzdem ein sistiertes Verfahren nicht wieder aufnehmen, wenn der Sachverhalt im Strafverfahren noch nicht festgehalten wurde. Ist die betroffene Person der Ansicht, dass ihre Sache zu langsam bearbeitet wird, muss sie primär im Strafverfahren für Beschleunigung sorgen.

Schliesslich verweist das Bundesgericht darauf, dass bei einer Annullierung des Führerausweises auf Probe Zweifel an der charakterlichen Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Die Zweifel an der Fahreignung setzen keine strikten Beweise voraus.


Mehr Urteile im Tikitaka

Urteil 6B_381/2024: Die Staatsanwaltschaft am Fischen?

Anhand einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung befasst sich das Bundesgericht in diesem strafprozessual äusserst knackigen Urteil mit dem Untschied zwischen einer Phishing-Expedition und einem Zufallsfund. Werden Beweise im Rahmen einer Phising-Expedition gefunden, sind diese gänzlich unverwertbar, handelt es sich um Zufallsfunde dürfen die Beweise grds. verwertet werden (Art. 243 Abs. 1 StPO). Vorliegend nahm die Staatsanwaltschaft ein zuvor eingestelltes Verfahren wegen Mordes wieder auf. Im Rahmen der wiederaufgenommenen Untersuchung fand sie „zufällig“ Videos auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers, die Verkehrsregelverletzungen zeigten. Es handelte sich vorliegend nicht um eine Phishing-Expedition, da die Beweisaufnahme nicht „aufs Geratewohl“ (also völlig grundlos) getätigt wurde (ausführlich E. 1.4 f.). Die Wideraufnahme des Verfahrens war allerdings rechtswidrig. Das bedeutet, dass die Beweise nur nach Massgabe von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertet werden dürfen. Qualifiziert grobe und sogar grobe Verkehrsregelverletzungen können unter den Begriff der schweren Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO fallen (vgl. Beitrag vom 04.11.2023). In diesem Sinne wurde der Beschwerdeführer zu Recht wegen den SVG-Delikten verurteilt.


Urteil 6B_53/2024: I really love chattin‘

Der Beschwerdeführer wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er während 30 Sekunden auf der Autobahn auf seinem Handy durch einen Chatverlauf scrollte. Aus seiner muss ein Freispruch her, weil das Beäugen eines Chatverlaufs keine Verrichtung sei, die die Aufmerksamkeit von der Strasse weglenke. Es liegt auf der Hand, dass das Bundesgericht die Verurteilung bestätigte, denn während dem Scrollen fuhr der Beschwerdeführer auch Schlangenlinien. Er war abgelenkt.


Urteile 6B_778/2024, 6B_1241/2023 und 6B_256/2024: Aktueller Stand beim Abstand

Wer auf der Autobahn nur 0.39s (6B_778/2024) oder 0.52s (6B_1241/2023) Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug einhält, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung.

Im Urteil 6B_256/2024 war der Beschwerdeführer auf der A1L Richtung St. Gallen unterwegs. Er führ mit ca. 50km/h und hatte ca. drei Fahrzeuglängen Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug. Als dieses stark abbremste, verursachte der Beschwerdeführer eine Auffahrkollision. Er wurde wegen mangelndem Abstand zu einer Busse wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass auch auf der Autobahn die „1-Sekunden-Regel“ zur Anwendung kommen sollte, wenn die Verkehrsverhältnisse mit dem Verkehr innerhalb einer Ortschaft vergleichbar sind (vgl. dazu etwa Urteil 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das Bundesgericht kontert allerdings die Rechtsansicht des Beschwerdeführers mit Verweis auf die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand (E. 2.3). Egal unter welchen Umständen gilt auf der Autobahn grds. die „Halbe-Tacho-Regel“. Ein Fahrzeuglenker muss immer anhalten können, auch wenn sich der Bremsweg des vorfahrenden Fahrzeuges durch eine Kollision brüsk verkürzt.


Urteil 1C_260/2024: Psychische Krankheiten können vorsorglichen FA-Entzug rechtfertigen

Ein polizeilicher Bericht über den Aufenthalt einer Person in einer psychiatrischen Anstalt kann je nach Krankheitsbild Grund sein für die Anordnung eines vorsorglichen Entzuges und einer Fahreignungsabklärung. Das gilt auch dann, wenn es keinen Vorfall im Strassenverkehr gab, denn zum sicheren und jederzeit situationsadäquaten Führen eines Motorfahrzeuges im öffentlichen Strassenverkehr ist ein komplexes Zusammenspiel von psychischen Funktionen und Fähigkeiten erforderlich, das bei psychischen Erkrankungen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt sein kann. Zu diesen Funktionen gehören unter anderem die Fähigkeit zur realitätsgerechten Wahrnehmung und ungestörten Informationsverarbeitung und -bewertung; weiter zählt dazu die Fähigkeit, auf äussere Reize adäquat und zuverlässig zu reagieren sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten situationsbezogen und angemessen zu steuern.

Dabei kommt auch bei Berufsfahrern der Grundsatz zum Zuge, dass bei der Anordnung einer Fahreignungsabklärung die Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen werden muss, auch wenn dies einem Berufsverbot gleichkommt. Die Wirtschaftsfreiheit wird durch die Massnahme nicht verletzt, auch wenn der automobilistische Leumund bis dahin ungetrübt war.

Schluss mit Halterhaftung, Strafmilderung bei jungen Rasern

Heute widmen wir uns zwei französischen Urteilen des Bundesgerichts, die beide zur amtlichen Publikation vorgesehen sind. Mit einer Laienbeschwerde erhebt eine Person im Urteil 7B_545/2023 erfolgreich Beschwerde gegen eine Ordnungsbusse und im Urteil 6B_1372/2023 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Bestrafung von Rasern gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG.

Urteil 7B_545/2023: Halterhaftung gemäss Art. 7 Abs. 5 OBG (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil beantwortet die Frage, wo die Grenze der Halterhaftung im Ordnungsbussengesetzt zu finden ist. Wird das Verschuldensprinzip verletzt, wenn man eine Busse bezahlen muss, wenn klar feststeht, dass man als Halter selber nicht gefahren ist?

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen eine Ordnungsbusse von CHF 240, weil jemand ausserorts mit seinem Auto zu schnell gefahren ist. Er bringt vor, dass er an diesem Tag nicht gefahren ist, sondern sein Auto an vier Verwandte und einige Freunde ausgeliehen habe. Das sah übrigens auch das kantonale Gericht so, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass der Halter eines Fahrzeuges trotzdem gebüsst werden kann. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Unschuldsvermutung und dem Verschuldensprinzip, denn nach der Ansicht der kantonalen Instanz verkäme Art. 7 Abs. 5 OBG zu einer reinen Kausalhaftung – Du bist Halter, Du bezahlst Busse.

Auch wenn es sich beim Ordnungsbussenverfahren um ein stark vereinfachtes Verfahren für mindere Straftaten handelt, sind die allgemeinen Prinzipien des Strafgesetzbuches anwendbar. Bei Ordnungsbusse im Strassenverkehr, muss der Halter eines Fahrzeuges, auch juristische Personen, die Busse bezahlen, wenn er in seiner Verantwortlichkeit als Halter nicht mithilft, die lenkende Person zu identifizieren. Die Bestimmung wurde u.a. explizit für Geschwindigkeitsüberschreitungen konzipiert, wo die lenkende Person nicht immer leicht zu identifizieren ist. Wir kennen alle die verschwommenen Fotos der Blitzkästen.

Die Regelung ist verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung sowie den Grundsatz des Verbotes des Selbstbelastungszwangs (vgl. BGE 144 I 242 E. 1).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von Entscheiden in der Vergangenheit darin, dass die kantonalen Instanzen explizit festgehalten haben, dass der Beschwerdeführer das Auto nicht lenkte. Es stellt sich also die grundlegende Frage, ob es mit dem Verschuldensprinzip zu vereinbaren ist, wenn jemand eine Ordnungsbusse bezahlen muss für eine Widerhandlung, die er klar nicht begangen hat.

Das Bundesgericht setzt sich sodann vertieft mit Art. 7 Abs. 5 OBG auseinander, insb. im Lichte des Grundsatzes nulla poena sine culpa. Auch wenn die Materialien dafür sprechen, dass einem Fahrzeughalter eine Busse ohne weiteres auferlegt werden kann, spricht sich die Lehre generell dafür aus, dass eine reine „Kausalhaftung“ das Verschuldensprinzip verstösst. Die strafrechtliche Verantwortung kann auch nicht auf eine andere Person übertragen werden. Auch die bisherige Rechtsprechung hält fest, dass keiner Person eine Ordnungsbusse auferlegt werden kann, nur weil sie formeller Halter eines Fahrzeuges ist.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass Art. 7 Abs. 5 OBG eine Norm mit verwaltungsrechtlichem Charakter ist. Sie enthält eine subsidiäre Pflicht des Fahrzeughalters, den Behörden mitzuteilen, wer mit seinem Fahrzeug herumdüst. Die Norm dient damit der Verkehrssicherheit, aber die Regel kann nicht als Grundlage für die Verhängung einer Strafe betrachtet werden.

Da es damit nicht möglich ist, dem Halter die Ordnungsbusse aufzuerlegen, schlägt das Bundesgericht vor, dass man wiederum unter Strafe stellen sollte, wenn der Fahrzeughalter die Identität der lenkenden Person nicht bekannt gibt.

Kleine Sidenote: Interessanterweise stellt es auch fest, dass es in der Schweiz eine solche Regelung noch nicht gäbe, obwohl genau diese Pflicht in §15 des Verkehrsabgabegesetzes des Kantons Zürich festgehalten ist. Widerhandlungen werden gemäss §18 mit Busse bestraft. Das Bundesgericht selber hat über diese Regelung befunden in Urteil 6B_680/2007 sowie Urteil 6B_512/2008.


Urteil 6B_1372/2023: Der gute Leumund gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG (amtl. Publ.)

Dieses Urteil gibt die Antwort darauf, ob für die Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG vorausgesetzt ist, dass jemand tatsächlich seit 10 Jahren im Besitz einer Fahrerlaubnis ist oder nicht.

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Wegen einem Raserdelikt im Mai 2022 wurde der Beschwerdegegner (geb. 2001) zunächst mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten bestraft. Diese Sanktion wurde von der Berufungsinstanz in Genf unter Anwendung von Art. 90 Abs. 3ter SVG in eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen geändert. Sie begründete dies damit, dass der Beschwerdegegner das Raserdelikt mit einem Motorrad auf der Autobahn beging, ohne dass Dritte konkret gefährdet wurden. Zudem war sein verkehrsrechtlicher Leumund ungetrübt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde, Art. 90 Abs. 3ter SVG sei verletzt worden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG bei Personen, die weniger lange als 10 Jahre im Besitz einer Fahrerlaubnis nicht angwendet werden kann, und schon gar nicht bei Inhabern eines Führerausweises auf Probe. So sehen es auch die Empfehlungen der SSK vor.

Gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG kann die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe nach einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung unterschritten werden, wenn der Täter nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde. Vorliegend kommt der Grundsatz der lex mitior zur Anwendung, weil die am 1. Oktober 2023 eingeführte Bestimmung von Art. 90 Abs. 3ter SVG eine mildere Bestrafung von Rasern ermöglicht.

Da sich das Bundesgericht bis heute noch nicht vertieft mit Art. 90 Abs. 3ter SVG auseinandergesetzt hat, beschäftigt es sich nun vertieft mit der Norm nach dem Methodenpluralismus, aber natürlich ausgehend vom Gesetzestext und insb. wie die Zeitperiode von 10 Jahren vor der Tat zu verstehen ist.

Die Lehre sieht, in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, dass die Regel von Art. 90 Abs. 3ter SVG zu einer Ungleichbehandlung abhängig des Alters der betroffenen Person führt. Trotzdem lehnt sie die Empfehlungen der SSK ab, weil sie dem klaren Wortlaut der Bestimmung widersprechen. Den Materialen ist zu entnehmen, dass – nach einem politischen Hickhack – die Norm eingeführt wurde, damit die Gerichte bei der Bestrafung von Rasern ein grösseres Ermessen haben.

Auch wenn das Bundesgericht erkennt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG einige Probleme mit sich bringt (insb. bzgl. dem Alter der lenkenden Personen), hält es fest, dass der Gesetzgeber den Gerichten einen grösseren Ermessensspielraum einräumen wollte bei der Sanktionierung von Rasern. Auch der klare Text der Bestimmung setzt nicht voraus, dass jemand tatsächlich eine Fahrberechtigung hatte. Das macht auch Sinn, denn eine Person kann auch ohne Fahrberechtigung gegen das SVG verstossen.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Und die SSK muss wohl über die Bücher und ihre Empfehlungen anpassen.

Katalogtatbestände und Gegenstandslosigkeit

Urteil 1C_445/2024: Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wann darf ein Verfahren abgeschrieben werden?

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Der Beschwerdeführer leidet aus Sicht der Entzugsbehörde an einer Fatigue-Erkrankung sowie kognitiven Einschränkungen. Aus diesem Grund forderte die Behörde ein Arztzeugnis, welches sich bestenfalls auch zur Fahreignung äussert. Der Beschwerdeführer reagierte darauf nicht. Aus diesem Grund ordnete die Entzugsbehörde die Auflage an, dass der Beschwerdeführer ein Arztzeugnis einreichen muss. Dagegen erhob der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel. Ein Arztzeugnis reichte er aber trotzdem nicht ein, weshalb ihm der Führerausweis vorsorglich entzogen wurde. Das Verwaltungsgericht schrieb wegen dem vorsorglichen Entzug das Verfahren bzgl. Auflage wegen Gegenstandslosigkeit ab. Um diese Abschreibung dreht sich der vorliegende Entscheid.

Ein Rechtsstreit kann gegenstandslos werden (z.B. Abbrennen des Hauses, für das eine Umbaubewilligung streitig ist) oder das rechtliche Interesse an seiner Beurteilung dahinfallen. Ausschlaggebend für die Abschreibung wegen Gegenstandslosigkeit ist immer, dass im Verlauf des Verfahrens eine Sachlage eintritt, angesichts derer ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse an der Entscheidung der Streitsache nicht mehr anerkannt werden kann (E. 4.1).

Da der Beschwerdeführer auch gegen den vorsorglichen Entzug seines Führerausweises Beschwerde erhoben hat, ist dieses Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Wenn man das Verfahren zu den Auflagen nun endgültig abgeschreiben und der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel gegen den vorsorglichen Entzug durchdringen würde, müsste man ihm die Fahrerlaubnis wieder erteilen, ohne dass noch Auflagen bestünden. Es gäbe – zumindest vorübergehend – keine Sicherungsmassnahmen mehr. Das ist aber nicht im Sinne der Verkehrssicherheit. Aus diesem Grund darf noch kein Abschreibungsentscheid ergehen.

Die beste Lösung wäre es gewesen, das Verfahren bzgl. Auflagen bis zum Abschluss des Verfahrens zum vorsorglichen Führerausweis-Entzug zu sistieren.

Vorsicht Meinung: Prozessieren um jeden Preis? Der Beschwerdeführer gewinnt seine Laienbeschwerde. Er kann sich damit brüsten, den „Behörden eines ausgewischt zu haben“. Doch betrachtet man diese Sache etwas genauer, hat sich der Beschwerdführer selber ein Ei gelegt. Würde seine Beschwerde gegen den vorsorglichen Führerausweis-Entzug überraschenderweise gutgeheissen, wäre er – zumindest für eine Weile – ohne Massnahmen gewesen. Doch mit seiner Beschwerde hat er selber dafür gesorgt, dass die Auflagen nicht ganz verschwinden. Prozessieren um jeden Preis ist eben auch nicht immer das Richtige.


Urteil 1C_546/2024: Katalogtatbestände und die rechtliche Würdigung

Was passiert, wenn ein Strafverfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt wird, aber trotzdem ein Katalogtatbestand von Art. 16ff. SVG erfüllt ist?

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Die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wurde im November 2021 für unbestimmte Zeit entzogen. Im August 2023 lenkte sie das Fahrzeug Ihres Vaters trotz dieses Entzuges. Der Polizei gab sie an, dass sie dachte, wieder fahren zu dürfen, weil eine verkehrsmedizinische Begutachtung positiv ausgefallen war. Aufgrund der Widerhandlung wurde die Fahrerlaubnis der Beschwerdeführerin wiederum für unbestimmte Zeit entzogen und eine verkehrspsychologische Fahreignungsabklärung angeordnet. Interessanterweise wurde das Strafverfahren wegen Fahrens trotz Entzug wegen Geringfügigkeit gemäss Art. 52 StGB eingestellt.

Allseits bekannt: Die Entzugsbehörde ist grds. an die im Strafverfahren erfolgten Sachverhaltsfeststellungen gebunden, in der rechtlichen Würdigung hingegen ist sie frei (E. 2.1). Die Beschwerdeführerin lenkte unbestrittenermassen zweimal ein Fahrzeug trotz entzogener Fahrerlaubnis. Der Tatbestand von Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG war damit objektiv sowie subjektiv erfüllt (E. 2.2.2 f.). Die Beschwerdeführerin gibt an, dass sie wegen der Auskunft des Verkehrsmediziners, der ihre Fahreignung bejahte, dachte, dass sie wieder Autofahren dürfe. Auf einen Rechtsirrtum konnte sich die Betroffene nicht berufen, da sie bereits in der Vergangenheit mit Warnungsmassnahmen konfrontiert war und den Verfahrensablauf kennen müsste. Zudem hat das Bundesgericht wiederholt festgehalten, dass auch in leichten Fällen von Fahren trotz Entzug die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden kann (E. 2.3).

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wohl der Begründungspflicht, weil die Entzugsbehörde in ihrer Verfügung lediglich festhielt, dass diese von den Stellungnahmen der Beschwerdeführerin „Kenntnis genommen“ hat. Sie gibt aber selber zu, dass eine solche Gehörsverletzung im Verlauf des Verfahrens geheilt wurde (E. 3). Sie argumentiert weiter, dass die 24-monatige Mindestentzugsdauer von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG für den vorliegenden Vorfall viel zu streng sei und damit Art. 6 EMRK verletze. Das Bundesgericht entgegnet dazu, dass es einerseits an die gesetzliche Bestimmung gebunden ist (Art. 190 BV) und dass Art. 6 EMRK bei Sicherungsmassnahmen grds. keine Anwendung findet (E. 4).

Auch wenn im Strafverfahren eine Einstellung nach Art. 52 StGB erfolgte, war der Tatbestand des Fahrens trotz Entzug erfüllt. Folglich blieb der Entzugsbehörde keine andere Wahl, als die nächste Sicherungsmassnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG anzuordnen.


Bonus-Urteil

Urteil 1C_635/2023: Ausserortscharakter innerhalb von Basel-Stadt?

An einem wunderschönen Eckchen in Basel überschritt der Beschwerdeführer das Tempolimit von 50 km/h um 26 km/h, weshalb seine ausländische Fahrerlaubnis für drei Monate aberkannt wurde. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kontrollort Ausserortscharakter aufweise. Ob ein Kontrollort Ausserortscharakter aufweist, beurteilt sich immer anhand des Einzelfalles. Vorliegend passierte der Beschwerdeführer Häuser, unübersichtliche Kreuzungen, Fussgängerstreifen und wunderschöne Basler Betonlandschaften. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht auf einer Ausserortsstrecke befand. Die Massnahme war korrekt.

Anklagegrundsatz und automatische Fahrzeugfahndung

Urteil 7B_286/2022: Anklagegrundsatz und der subj. Tatbestand bei SVG-Delikten (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wie genau muss die anklagende Strafbehörde den subjektiven Tatbestand bei SVG-Delikten umschreiben? Das Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer übersah bei einem Bahnübergang das Wechselblinklicht, worauf es trotz Notbremsung des Zuges zu einer Kollision kam. Er wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer Geldstrafe bestraft, wobei im Strafbefehl stand, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gehandelt habe. Auf Einsprache hin, wurde der Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen, vom Obergericht allerdings wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft, ohne dass es eine Verbesserung der Anklageschrift (Strafbefehl) gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO  gegeben hätte. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes.

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) muss der Sachverhalt in einer Anklage vor Gericht so genau umschrieben werden, dass die beschuldigte Person weiss, um was es eigentlich geht. Der Grundsatz ist damit fundamental für die Verteidigung der beschuldigten Person (E. 2.1.1). Gemäss Art. 100 Ziff. 1 SVG ist sowohl die vorsätzliche als auch fahrlässige Begehung von SVG-Delikten möglich. Äussert sich die Anklage nicht ausdrücklich darüber, ob eine Verkehrsregelverletzung vorsätzlich begangen wurde, darf von einer fahrlässigen Tatbegehung ausgegangen werden. Abgeleitet wird dies aus der allgemeinen Pflicht, dass Verkehrsteilnehmer immer aufmerksam sein müssen (E. 2.1.2).

Um es kurz zu machen: Im vorliegenden Fall entschied die Berufungsinstanz, dass sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig macht. Sie stützte sich dabei auf den Strafbefehl, welcher aber aber von Vorsatz ausging. Der Staatsanwaltschaft wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre Anklage zu verbessern. Damit verletzte die Vorinstanz aber Art. 405 Abs. 1 i.V.m. 339 Abs. 3 StPO.


Urteil 1C_63/2023: Automatische Fahrzeugfahndung (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich u.a. ausführlich mit den Voraussetzungen an die gesetzlichen Grundlagen, die für eine automatische Fahrzeugfahndung nötig sind.

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Im Oktober 2022 beschloss der Kantonsrat des Kantons Luzern verschiedene Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes. Unter anderem schuf er in §4quinqies PolG/LU die gesetzlichen Grundlagen für die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle stellen sich verschiedene Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass es sich bei der automatischen Verkehrsüberwachung um einen schweren Eingriff in unter anderem die Grundrechte der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung handle und die vom Kanton Luzern geschaffene gesetzliche Grundlage zu wenig bestimmt ist. Die Bestimmung ermögliche nach Ansicht der Beschwerdeführer auch eine automatisierte Gesichtserkennung. Die Tragweite der Norm sei unklar. Zudem würden Daten auf Vorrat gespeichert, ohne dass sie für ein Strafverfahren relevant wären.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits in BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218 zur automatisierten Fahrzeugfahndung.

Die automatisierte Fahrzeugfahndung ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 2 BV garantierte informationelle Selbstbestimmung. Mit solchen System faktisch eine unbegrenzte Erhebung von Daten möglich, der unzählige Personen betrifft und ohne Anfangs-Verdacht erfolgt. Oder anders gesagt: Es besteht das Risiko eines Missbrauchs solcher Systeme. Deshalb müssen die gesetzlichen Grundlagen folgende Details hinreichend bestimmen:

– Verwendungszweck der Daten
– Umfang der Erhebung
– Aufbewahrung und Löschungsmodalitäten
– Bestimmung des Datenabgleichs
– Unverzügliche Löschung von unbenötigten Daten
– Es bedarf ein gewichtiges öffentliches Interesse
– Es darf keine Totalüberwachung vorliegen

Das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 3.2.2).

Im folgenden stellt sich die Frage, ob der Kanton Luzern seine Gesetzgebungskompetenz überschritt. Denn die Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgung (repressive Polizeiarbeit) liegt bei der Eidgenossenschaft, welche mit der StPO davon umfassend Gebrauch gemacht hat. Die Verantwortung für präventive Polizeiarbeit liegt hingegen bei den Kantonen, wobei sich diese Aufgabengebiete teils überschneiden können (dazu ausführlich E. 3.5). Der Kanton Luzern verzichtete vorliegend darauf, die Prävention als Zweck für die Fahrzeugfahndung in das Gesetz zu nehmen. Aus Sicht des Bundesgerichts liegt damit der Schwerpunkt der Fahrzeugfahndung bei der Strafverfolgung. Da hat der Kanton aber gar keine Gesetzgebungskompetenz. Es bräuchte eine Regelung in der StPO (E. 3.5.3). Die Norm ist unter dem Strich ein unverhältnismässiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Nicht nur ermöglicht sie eine automatisierte Gesichtserkennung, sie lässt ausdrücklich auch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Die generelle Speicherung der Daten auf Vorrat bis zu 100 Tagen verstösst ebenfalls gegen die obgenannten Voraussetzungen. Und schliesslich fehlen noch genauere Bestimmungen, mit welchen Datenbanken ein Datenabgleich erfolgen darf (E. 3.6).

Die entsprechende Norm (und weitere) wird aufgehoben.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_1346/2023: Pflichtwidriges Verhalten und Vereitelung

Wer nach einem Unfall mit Sachschaden, nach Hause geht, weil er kein Mobiltelefon dabei hat und dann aber zunächst zur Toilette geht und ein Gläschen Gin trinkt bzw. nicht sofort die Polizei informiert, macht sich gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG strafbar (E. 3). Wer zudem einen Verkehrsunfall verursacht, muss immer mit einer Atemalkoholprobe rechnen. Genehmigt man sich nach dem Unfall ein Gläschen, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG.

Urteil 1C_599/2024: Unvorsichtiger Spurwechsel

Wer bei einem Spurwechsel mit dem Auto wegen fehlender Aufmerksamkeit beinahe mit einem Scooter kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung.

Landesverweis wegen Raserdelikt, Zuständigkeits-Streit und der Führerausweis-Entzug des Geschäftsführers

Hallo liebe SVG-Nerds und Geeks
Seit dem letzten Post sind schon wieder einige Wochen ins Land gegangen. Der erste Schnee ist da und wohl auch die ersten Verkehrsunfälle mit Sommerreifen. In dieser besinnlichen FiaZ- bzw. Weihnachts-Zeit wollen wir auf die Rechtsprechung mit SVG-Touch der letzten Wochen zurückblicken. Bieten die Urteile spannende Neuigkeiten oder Ausführungen zu einer interessanten Detailproblematik, gehen wir näher darauf ein. Dient ein Urteil eher dazu, bereits Bekanntes zu repetieren oder zur Aktualisierung von Fallsammlungen, folgt es am Ende des Beitrages als Bonus.


Urteil 6B_1164/2023: Landesverweis und Ausschreibung im Schengener Informationssystem nach Raserdelikt

Dieses Urteil befasst sich ausführlich mit der Frage, wann nach Raserdelikten ein fakultativer Landesverweis sowie die Ausschreibung desselben im Schengener Informationssystem möglich ist.

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Der Beschwerdeführer aus dem Kosovo wurde wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er wurde für sechs Jahre des Landes verwiesen und der Landesverweis im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben.

Der Beschwerdeführer stellt sich zunächst auf den Standpunkt, dass „nur“ eine grobe Verkehrsregelverletzung vorläge. Sein Überholmanöver sei nicht krass gewesen. Bei diesem überholte er innerorts ein anderes Fahrzeug vor einem Bahnübergang mit mindestens 100 km/h. Beim anschliessenden Spurwechsel verlor der Beschwerdeführer die Kontrolle über sein Fahrzeug und kollidierte mit einer Mauer bei der Gegenfahrbahn. Das Fahrmanöver habe gemäss der Vorinstanz den Charakter eines Wettstreits gehabt. Damit ein Überholen waghalsig im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG ist, muss es nicht nur gewagt, sondern unsinnig sein. Da der Beschwerdeführer sein Überholmanöver mit stark überhöhter Geschwindigkeit in einer Rechtskurve, bei einem Spurenabbau, bei beidseitigen Trottoirs sowie einer Busspur auf der Gegenfahrbahn durchführte und kein vernünftiges Motiv für diese Fahrweise erkennbar war, war das Überholmanöver unsinnig (E. 4.3).

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen den Landesverweis. Zu Unrecht sei man von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an seiner Landesverweisung ausgegangen. Das Raserdelikt führt nicht zu einem obligatorischen Landesverweis. Begeht ein Ausländer ein Verbrechen kann er für 3-15 Jahre des Landes verwiesen werden (Art. 66abis StGB). Ein Landesverweis muss verhältnismässig sein. Dabei muss eine Interessensabwägung erfolgen zwischen den privaten Interessen der betroffenen Person am Verbleib in der Schweiz und dem öffentlichen Interesse an der Fernhaltung von Personen, die gegen die hiesige Gesetze verstossen. Ein Landesverweis muss den Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK standhalten. Dabei sind die Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen. Insb. mit der familiären Situation muss sich das urteilende Gericht vertieft auseinandersetzen. Ob ein Härtefall vorliegt ist anhand der Einzelfallumstände zu prüfen. Ein Härtefall liegt in der Regel vor, wenn eine Ausländerin hier geboren wurde und die Schule besucht hat. Grds. schützt Art. 8 EMRK die „Kernfamilie“, also Ehegatten mit minderjährigen Kindern (zum Ganzen ausführlich E. 7.2).

Der Beschwerdeführer kam mit vier Jahren in die Schweiz und ist gut integriert. Allerdings, obwohl er mit seiner Freundin verlobt ist, besteht keine „Kernfamilie“. Sie wohnen nicht gemeinsam und unterstützen sich auch nicht finanziell. Die politische Situation zwischen dem Kosovo und Serbien spricht nicht gegen den Landesverweis. Das Bundesgericht erblickt beim Beschwerdeführer zwar ein erhebliches Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Als unverheirateter, kinderloser und junger Mann ohne jegliche relevanten gesundheitlichen Einschränkungen befindet sich der Beschwerdeführer jedoch in einer Lebensphase, die mit einer hohen Anpassungsfähigkeit einhergeht. Da der Beschwerdeführer aber bereits mit einer Katalogtat gemäss Art. 66a StGB vorbestraft ist, überwiegt nach dem Raserdelikt das öffentliche Interesse am Landesverweis (E. 7.4). Die Dauer von sechs Jahren ist ebenfalls verhältnismässig (E. 8).

Der Beschwerdeführer bemängelt schliesslich, dass die Vorinstanz ausführe, er könne sich auch in einem anderen Land, als dem Kosovo um einen Aufenthaltstitel bemühen, aber gleichzeitig den Landesverweis im SIS ausschreibe. Damit werde ihm verunmöglicht, sich in einem Schengen-Staat niederzulassen. Die Voraussetzungen für die Ausschreibung richten sich nach Art. 24 der SIS-II-Verordung. Sie ist dann gerechtfertigt, wenn ein Drittstaatangehöriger eine Gefahr für den Schengen-Raum sein könnte. Das ist  insb. bei einem Drittstaatsangehörigen der Fall, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Da der Kosovo als Drittstaat gilt und es kein Freizügigkeitsabkommen zwischen dem Kosovo und der EU gibt, gilt der Beschwerdeführer als Angehöriger eines Drittstaates. Die Voraussetzungen für die Ausschreibung sind erfüllt.


Urteil 1C_691/2023: Die Einzelfallumstände nach Art. 16 Abs. 3 SVG

Dieses Urteil beantwortet u.a. die Frage, ob ein Geschäftsleitungsmitglied und Einzelunternehmer, der Kundenbesuche machen muss, beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist.

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Der Beschwerdeführer überschritt ausserorts die Höchstgeschwindigkeit um 35km/h, wofür er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse bestraft wurde. Da die einfache Verkehrsregelverletzung, sowohl die leichte, als auch die mittelschwere Widerhandlung umfasst (E. 3.1.1), wurde der Beschwerdeführer mit einem Führerscheinentzug von zwei Monaten sanktioniert. Wegen der hohen Gefährdung erfolgte die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung zu Recht (E. 3).

Der Beschwerdeführer moniert sodann, dass die Vorinstanz über das gesetzliche Minimum von einem Monat hinausgegangen ist und eine Massnahme von zwei Monaten anordnete. Das Bundesgericht bestätigt die Verhälntismässigkeit der Massnahme. So durfte die geschaffene Gefährdung massnahmeerhöhend berücksichtigt werden (E. 4.2.2). Der reine Leumund (seit 1973) wurde wiederum mildernd berücksicht (E. 4.2.3). Schliesslich äussert sich das Bundesgericht zur geltend gemachten beruflichen Massnahmeempfindlichkeit. Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er als Verwaltungsratspräsident und Geschäftsleitungsmitglied Kunden besuchen muss. Dabei sei er in der ganzen Schweiz mit Laptop, Beamer und Akten unterwegs. Mit der Vorinstanz verneint das Bundesgericht allerdings die berufliche Massnahmeempfindlichkeit. Der Beschwerdeführer könne sich auch dem guten ÖV in der Schweiz bedienen. Auch Taxifahrten oder betriebsinterne Fahrgemeinschaften könnten eine Lösung sein. Grundsätzlich ist es ja auch Sinn einer erzieherischen Massnahme, dass sie das Leben etwas mühseliger macht (E. 4.2.4).

Die Beschwerde wird abgewiesen.


Urteil 1C_223/2024: Zuständigkeit im Administrativverfahren

Kann man mit einem Wohnsitzwechsel einen Wechsel der Zuständigkeit im Administrativmassnahmen-Verfahren erzwingen und die Massnahme allenfalls sogar hinauszögern? Das perpetuierende Forum verhindert das!

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Wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung bzw. einer schweren Widerhandlung wurde gegen den Beschwerdeführer ein Administrativmassnahmen-Verfahren eröffnet. Da er zu diesem Zeitpunkt offiziell im Kt. GR wohnhaft war, erfolgte ein erster Schriftenverkehr über die Entzugsbehörde im Kt. GR. Das Administrativmassnahmenverfahren wurde sistiert. Nach Vorliegen des Strafentscheides überwies das StVA Kt. GR die Akten an das StVA ZH zur weiteren Bearbeitung. Es wurde eine Warnmassnahme von drei Monaten angeordnet. Der Beschwerdeführer rügt, dass das StVA ZH für die Massnahme nicht zuständig war.

Die Zuständigkeit im Administrativ-Verfahren ergibt sich aus Art. 22 SVG. Für den Entzug von Führerausweisen ist grds. die Entzugsbehörde des Wohnsitzkantons zuständig. Es gilt der zivilrechtliche Wohnsitzbegriff (E. 3.1). Der Wohnsitz einer Person befindet sich gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Für die Begründung des Wohnsitzes müssen nach der Rechtsprechung zwei Merkmale erfüllt sein: Ein objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die Absicht dauernden Verbleibens. Dabei kommt es nicht auf den inneren Willen, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen (E. 3.1). Wenn die betroffene Person während einem Administrativ-Verfahren ihren Wohnsitz wechselt, bleibt die Zuständigkeit bei der Behörde, die das Verfahren einleitete (sog. perpetuatio fori). Im Administrativmassnahmen-Verfahren erfolgt die Einleitung eines Verfahrens i.d.R. mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs oder der Zustellung einer Verfügung. Auch eine Sistierung ändert an der Zuständigkeit nichts.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er bei der Einleitung des Administrativmassnahmen-Verfahrens seinen offiziellen Wohnsitz im Kt. GR hatte und deshalb das StVA Zürich nie zuständig war. Bereits im Strafverfahren allerdings liess sich der Beschwerdeführer verfahrensbezogene Post an seine Adresse im Kanton Zürich schicken. Dies kann ein Indiz für die Wohnsitznahme im Kanton Zürich sein, zumal für den Zeitpunkt des Erwerbs eines neuen Wohnsitzes nicht allein auf die An- und Abmeldung im Einwohnerregister einer Gemeinde abzustellen ist. Es bestanden genügend objektive Indizien dafür, dass der Beschwerdeführer bereits bei Einleitung des Administrativ-Verfahrens seinen zivilrechtlichen Wohnsitz im Kt. Zürich hatte. Deshalb war der Kt. GR gar nie zuständig und der Kt. ZH durfte verfügen. Die Beschwerde wird abgewiesen.


Bonus-Urteil 7B_275/2022: Fussgänger beim Rückwärtsfahren touchiert

Wer bei einem Parkplatz rückwärts fährt und dabei einen Fussgänger touchiert und verletzt, verstösst gegen Art. 36 Abs. 4 SVG und Art. 17 Abs. 1 VRV. Rückwärtsfahrende trifft eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers gelten diese Regeln nicht nur zwischen Autofahrern, sondern zwischen allen „Strassenbenützern“, also auch gegenüber Fussgängern.

Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Führerflucht als besonders leichter Fall?

Urteil 1C_170/2023: Die Krux mit der Katalogtat

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob auch bei Katalogtaten gemäss Art. 16b Abs. 1 oder 16c Abs. 1 SVG ein besonders leichter Fall angenommen werden kann.

Der Beschwerdeführer schleppte mit einem Zugfahrzeug ein anderes Auto ab. Während er an einer roten Ampel stand, missachtete ein Fahrradfahrer seinerseits ein Rotlicht, fuhr in das gespannte Abschleppseil, stürzte und verletzte sich dabei. Der Beschwerdeführer fuhr danach weiter. Im Strafverfahren wurde er zwar wegen „Führerflucht“ schuldig gesprochen. Von einer Bestrafung wurde nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG abgesehen.

Der Führerausweis wurde für drei Monate entzogen, unter Annahme einer schweren Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. e SVG). Interessant dabei ist, dass das ASTRA in seiner Stellungnahme zu der Massnahme ausführte, dass diese sich in einem Wertungswiderspruch zum Strafurteil befände. Ein dreimonatiger Führerausweis-Entzug sei im vorliegenden Spezialfall stossend. Darauf stützt sich auch der Beschwerdeführer. Auch wenn Führerflucht vorläge, sei läge mangels Gefährdung und schweren Verschulden keine schwere Widerhandlung vor. Die zuständige Behörde stellt darauf ab, dass besonders leichte Fälle nur Unter den Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 4 SVG angenommen werden können. Im vorliegenden Fall seien aber die Voraussetzungen einer Führerflucht erfüllt, weshalb die Mindestentzugsdauer von drei Monaten zur Anwendung gelangen müssen. Diese dürfe bekanntlich nicht unterschritten werden.

Zunächst äussert sich das Bundesgericht zum Begriff der „Führerflucht“ und stellt fest, dass der administrativ- und strafrechtliche Begriff der Führerflucht deckungsgleich sind (E. 5.2.1). Dann erinnert es daran, dass die Administrativ-Behörde in der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes frei ist. Zudem ist das Ziel des Administrativmassnahmen-Verfahrens nicht, jemanden zu bestrafen (sowie im Strafverfahren), sondern jemanden zu erziehen, auch wenn die erzieherische Massnahme von der betroffenen Person als Strafe empfunden wird (E. 5.2.2). Da in beiden Verfahren die Voraussetzungen der Führerflucht bejaht wurden, ist auch der Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ gewahrt (E. 5.2.3). Damit verfängt es auch nicht, wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass sein Verschulden gering und die Gefährdung leicht war. Denn diese Argumentation bezieht sich auf Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG, nicht aber auf die Katalogtat der Führerflucht (E. 5.2.4). Und schliesslich kann kein besonders leichter Fall vorliegen, wenn ein Katalogtatbestand erfüllt ist (E. 5.3).

Auf eine Massnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 SVG kann auch nicht verzichtet werden. Dass die Mindestentzugdauer einer Warnmassnahme nicht unterschritten werden darf, hat das Bundesgericht wiederholt bestätigt (s. eine gute Auflistung der Rechtsprechung in E. 6.1). Auch wenn hier ein Ausnahmefall vorliegt, liegt keine vom Gericht zu füllende Gesetzeslücke vor, wenn im Gesetz der „besonders leichte Fall einer Führerflucht“ nicht geregelt ist. Der Beschwerdeführer muss mit der Mindestentzugsdauer sanktioniert werden.

Zwei neue Urteile im Massnahmenrecht

Urteil 1C_434/2023: Ist die Fahreignungsabklärung eine vorsorgliche Massnahme? (wird amtl. publ.)

In diesem Urteil beantwortet das Bundesgericht die Frage, ob eine Fahreignungsabklärung ohne vorsorglicher Entzug unter Art. 98 BGG subsumiert wird oder nicht.

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Der Beschwerdeführer verursachte in der Berner Altstadt einen Selbstunfall, bei welchem sein Fahrzeug erheblich beschädigt wurde (z.B. Achsenbruch). Danach fuhr er noch mehr als einen Kilometer weiter, missachtete ein „Einfahrt Verboten“ Signal und stellte sein Fahrzeug im Parkverbot ab. Er habe einen wichtigen Termin gehabt. Das Strassenverkehrsamt ordnete deswegen eine Fahreignungsabklärung der Stufe 3 an.

Zunächst klärt das Bundesgericht eine Grundsatzfrage, nämlich ob eine Fahreignungsabklärung auch unter die vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 98 BGG fällt. Die Frage hat sich bis heute nicht gestellt, weil die Fahreignungsabklärung in der Regel mit einem vorsorglichen Entzug kombiniert wird. Nach einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung (E. 2.3) sowie den Materialien zum BGG (E. 2.4) kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Abklärungen nach Art. 15d SVG ebenfalls Art. 98 BGG zu unterstellen sind. Gerügt werden können also nur verfassungsmässige Rechte.

Trotzdem, damit der Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt wird, aber wohl auch letztmalig prüft das Bundesgericht, ob die Anordnung der Fahreignungsabklärung gegen Bundesrecht verstiess.

Fahreignungsabklärungen, die aufgrund von Art. 15d SVG angeordnet werden, müssen von einer verkehrsmedizinischen Fachperson der Stufe 3 oder 4 durchgeführt werden (Art. 28a Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a und b VZV). Für die Anordnung müssen Zweifel an der Fahreignung bestehen. Diese lagen in diesem Fall vor. Der über 80-jährige Beschwerdeführer schien nach dem Unfall sein Ziel, nämlich ein Zahnarzttermin mit einem „geistigen Röhrenblick“ zu verfolgen. Gemäss dem Leitfaden zur Fahreignung kann ein deutlich auffälliges Verhalten im Verkehr Indiz einer hirnorganischen Krankheit sein. Dass sich der Beschwerdeführer nach dem Unfall nicht um den Schaden kümmerte, sondern unbeirrt zu seinem Zahnarzttermin fuhr, liess sich auch nicht durch Alkohol oder Betäubungsmittel erklären. Deshalb durfte aufgrund des Unfalles an der Fahreignung gezweifelt werden, auch wenn die letzte Kontrolluntersuchung erst fünf Monate her war.


Urteil 1C_431/432/2024: Interbehördliche Zusammenarbeit und Verletzung des rechtlichen Gehörs (gutgh. Beschwerde)

In diesem Urteil befasst sich das Bundesgericht mit den Konsequenzen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, die ihren Ursprung in einem parallel laufenden Strafverfahren hat.

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Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen die Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Grund für die Massnahme war ein mutmasslicher Kokainkonsum in Zürich. Die Anordnung wurde mit dem Hinweis verbunden, dass ein vorsorglicher Entzug der Fahrerlaubnis erfolgen würde, wenn die Abklärung nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgeführt wird. Die aufschiebende Wirkung eines allfälligen Rechtsmittels wurde in der Verfügung entzogen. Das Verwaltungsgericht Kt. GR wies sowohl ein Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Zudem verwies es mit weiterer Verfügung die Beschwerdeführerin an die Strafbehörden des Kantons Zürich, wenn sie umfassende Akteneinsicht wünscht. Die Beschwerde richtet sich gegen diese Verfügungen. Zwischenzeitlich wurde der Führerausweis im Juli 2024 vorsorglich entzogen. Auch dagegen erhob die Betroffene Beschwerde beim Verwaltungsgericht.

Gegen Zwischenentscheide im kantonale Verfahren kann beim Bundesgericht nur Beschwerde geführt werden, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Wenn eine Rüge nur die Verletzung des rechtlichen Gehörs betrifft, dann ist diese Voraussetzung nicht erfüllt. Da aber im vorliegenden Fall die Fahrerlaubnis bereits entzogen wurde, liegt gemäss dem Bundesgericht ausnahmsweise ein solcher Nachteil vor, weshalb auf die Beschwerde eingetreten wird.

Wer gelegentlich Kokain konsumiert, kann zu einer Fahreignungsabklärung verpflichtet werden. Keine Zweifel bestehen dann, wenn nur ein einmaliger Konsum ohne Konnexität zum Strassenverkehr vorliegt (ausführlich dazu E. 2). Im vorliegenden Fall wurde die Fahreignungsabklärung angeordnet, weil die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Strafanzeige angab, zwischen 2018 und 2023 regelmässig Kokain konsumiert zu haben. Dies habe sie allerdings in späteren Aussagen relativiert. Da aber sowohl die Strafbehörden des Kantons Zürichs wie auch die Vorinstanz die weiteren Akten des Strafverfahrens nicht herausgaben, die das belegt hätten, liegt aus ihrer Sicht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Das Bundesgericht bejaht dies ebenfalls, denn die Akteneinsicht wird vom Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst (E. 3.2). Die Vorinstanz hätte die Akten des Zürcher Strafverfahrens beiziehen müssen zur Beurteilung der Zweifel an der Fahreignung, da mit dem vorsorglichen Entzug der Fahrerlaubnis ein nicht wieder gut zu machender Nachteil drohte (E. 3.3).

Eine weitere Gehörsverletzung erblickt das Bundesgericht in dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin keine umfassende Akteneinsicht gewährt wurde. Die Unterlagen, die sie erhielt, äusserten sich gar nicht zum Betäubungsmittelkonsum, weshalb die Anordnung der Fahreignungsabklärung auch nicht wirklich nachvollzogen werden konnte. Der Rechtsvertreter erhielt im Strafverfahren übrigens keine Akteneinsicht, weil noch keine Einvernahmen stattfanden (vgl. Art. 101 Abs. 1 StPO).

Das BGer heisst die Beschwerde(n) gut.

Dieses Urteil zeigt auf, welche negativen Konsequenzen die Abhängigkeit zwischen Straf- und Administrativverfahren für betroffene Personen haben kann. Die Beschwerdeführerin benötigte Unterlagen aus dem Strafverfahren, die sie aber nicht erhielt. Eine strenge Handhabung des Akteneinsichtsrechts im Strafverfahren kann also zu einem Nachteil im Verwaltungsverfahren führen.