Weiterbildungskurs für Neulenker im Simulator?

Urteil 2C_103/2023: Simulieren oder nicht simulieren, das ist hier die Frage

Dieses französische Urteil vom September beschäftigt sich mit der Frage, ob die Weiterbildungskurse für Neulenker gemäss Art. 15a Abs. 2bis SVG gänzlich im Simulator durchgeführt werden können. Die Beschwerdeführerin wollte dies anbieten und fragte diverse Ämter an, ob ein solches Unterfangen realisierbar sei. Das ASTRA äusserte sich dahingehend, dass die Weiterbildung im Simulator weder vorgeschrieben, noch verboten wäre, aber auch, dass man für die Bewilligung eines solchen Unterfangens nicht zuständig sei. Die ASA war der Meinung, dass eine Weiterbildung nur im Simulator nicht Sinn der Sache sei. In der Folge beantragte die Beschwerdeführerin einen formellen Entscheid von der ASA und dem kantonalen Strassenverkehrsamt darüber, ob die Weiterbildung im Simulator möglich sei oder nicht. Die ASA lehnte die Möglichkeit der Weiterbildung nur im Simulator ab. Im Folgenden drehte sich der Streit darum, wer überhaupt zuständig sei, um diesen Entscheid zu fällen. Aus Sicht der kantonalen Instanzen durfte nicht die ASA darüber entscheiden, sondern das Strassenverkehrsamt hätte diesen Entscheid fällen müssen. Die Sache wurde aber aus Gründen der Verfahrensökonomie nicht zurückgewiesen, sondern es wurde entschieden, dass das Training verschiedener Fahrmanöver (Bremsen, Kurvenfahren, Sicherheitsabstand) nur praktisch auf einem Übungsgelände möglich sei bzw. ein Simulator alleine nicht ausreicht.

Vor Bundesgericht verlangt die beschwerdeführende GmbH einen neuen Entscheid und subsidiär die Rückweisung an das Strassenverkehrsamt für einen neuen Entscheid.

Zunächst äussert sich das Bundesgericht in E. 4 darüber, ob nun der angefochtene Entscheid nichtig ist. Ein Entscheid einer unzuständigen Behörde ist grds. mit einem schweren Mangel behaftet. Für die Nichtigkeit muss der Mangel erstens besonders schwer wiegen, zweitens offenkundig sein und drittens die Rechtssicherheit ernsthaft gefährden (E. 4.1). Die Modalitäten der Weiterbildung für Neulenker sind in Art. 27a ff. VZV geregelt. Für die Durchführung der Kurse ist eine Bewilligung nötig (Art. 27e VZV).  Zuständig dafür sind die Kantone, wobei sie diese Aufgabe auch delegieren können (Art. 27g VZV). Daraus folgert das Bundesgericht, dass die ASA für den Entscheid nicht zuständig war, womit ein besonders schwerer Mangel vorliegt. Der Mangel war aber nicht offenkundig. Das Bundesgericht schliesst das u.a. daraus, dass das kantonale Strassenverkehrsamt seine Zuständigkeit zu Beginn selber ablehnte. Zudem reichte das Strassenverkehrsamt im kantonalen Verfahren selber eine Entscheidung über Weiterbildung im Fahr-Simulator nach und wieso dies nicht möglich sei. Die beschwerdeführende GmbH konnte im kantonalen Verfahren damit auch inhaltlich zur Sache Stellung beziehen, weshalb auch die Rechtssicherheit nicht gefährdet war. Damit macht es auch aus prozessökonomischen Gründen keinen Sinn die Sache zurückzuweisen (ausführlich E. 4.3).

In der Sache selbst stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, dass entgegen der Ansicht der kantonalen Instanzen die Weiterbildung ausschliesslich im Fahr-Simulator möglich sei. Das Bundesgericht kontert dieser Ansicht aber, das die Weiterbildung grds. praktischer Natur ist, was sich u.a. den Zielen des Kurses entnehmen lässt. So sollen z.B. die Kenntnisse der Kursteilnehmenden über die wesentlichen Einflussfaktoren von Unfällen gefördert werden durch das Erleben von Fahrsituationen unter realitätsnahen Bedingungen (Art. 27b Abs. 2 VZV). Den Materialien ist zu entnehmen, dass die Fahrmanöver auf geeigneten Instruktionsplätzen vorgenommen werden sollten. Beim ökonomischen Fahren könne hingegen auch ein Simulator eingesetzt werden. Prinzipiell müssen die Teilnehmer auch mit ihrem eigenen Auto aufkreuzen. Auch das ASTRA geht in seinen Weisungen zur Zwei-Phasen-Ausbildung von einer Weiterbildung auf Übungsplätzen aus. Das alles spricht dafür, dass die Ausbildung zwar teilweise, nicht aber gänzlich im Simulator durchgeführt werden kann (E. 5.4).

Zwei neue Urteile zur StPO mit SVG-Touch

Urteil 6B_791/2023: Kostenauflage bei Anwendung von Opportunitätsgründen

Verkehrsunfälle können schlimme Folgen haben, auch für die fehlbare Person. Verletzt sich jemand bei einem Verkehrsunfall, kann von einer Strafe Umgang genommen werden, wenn die betroffene Person durch die Verletzungen schon bestraft genug ist (Art. 54 StGB). Dieses Urteil beschäftigt sich mit der Frage, ob der betroffenen Person danach die Verfahrenskosten auferlegt werden können oder nicht.

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Die Beschwerdeführerin verunfallte mit einem Motorrad und verletzte sich dabei. Nachdem Sie von der Straatsanwaltschaft noch mit CHF 250 Busse bestraft wurde, sah das Bezirksgericht auf Einsprache hin von einer Bestrafung ab gemäss Art. 54 StGB, auferlegte ihr aber die Verfahrenskosten. Die Beschwerdeführerin ist damit nicht einverstanden, denn aus ihrer Sicht verursachte die Staatsanwaltschaft das ganze gerichtliche Verfahren, da diese nicht von Beginn weg von einer Strafe Umgang nahm.

Das Bundesgericht stellt klar, dass Art. 8 StPO keine Grundlage für eine Einstellung ist, in den Fällen in welchen gemäss Art. 52ff. StGB von einer Bestrafung abgesehen wird. Ist ein Straftatbestand erfüllt, muss man auch schuldig gesprochen werden. Das gilt sowohl für das gerichtliche, als auch für das Strafbefehlsverfahren (E. 1.2).

Im folgenden prüft das Bundesgericht, ob die Kosten der Beschwerdeführerin zu Recht auferlegt wurden. Die Verfahrenskosten müssen grds. von der beschuldigten Person getragen werden, wenn sie verurteilt wird (Art. 426 Abs. 1 StPO). Zwar hat der Staat die Kosten für unnötige oder fehlerhafte Verfahrenshandlungen zu tragen (Art. 426 Abs. 3 lit. a StPO). Als Urteilsvorschlag fällt ein „fehlerhafter“ Strafbefehl aber nicht darunter. Da die Einsprache ein Rechtsbehelf ist, gelangen auch nicht die Regeln von Rechtsmittelverfahren zur Anwendung. Die Kosten sind vielmehr so zu verlegen, wie wenn ohne vorgängigen Strafbefehl sogleich Anklage erhoben worden wäre. Das bedeutet, dass man die Verfahrenskosten zu tragen hat, auch wenn im Rahmen von Opportunitätsgründen von einer Strafe abgesehen wurde. Abschliessend verweist das Bundesgericht noch darauf, dass bei einer Einstellung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft die Kosten der Beschwerdeführerin dennoch gemäss Art. 426 Abs. 2 StPO hätten auferlegt müssen (E. 1.3).

Urteil 6B_990/2022: Wenn die notwendige Verteidigung vergessen geht (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich kurz und knackig damit, was passiert, wenn die Vorinstanz vergisst, eine notwendige Verteidigung zu stellen.

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Der Beschwerdegegner fuhr beim Ausparkieren gegen einen Pfosten und danach beim Rückwärtsfahren noch in ein parkiertes Auto. Nachdem er den Schaden begutachtete, entfernte er sich von der Unfallstelle. Dafür wurde er von der Staatsanwaltschaft wegen einfacher Verkehrsregelverletzung sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit bestraft. Vom zweiten Vorwurf aber wurde er in erster Instanz freigesprochen. Gegen den Freispruch erhob die Staatsanwaltschaft Berufung, die aber auch abgewiesen wurde. Vor Bundesgericht verlangt die Staatsanwaltschaft die Bestätigung des Schuldspruchs wegen Vereitelung. Im Rahmen der Vernehmlassungen informierte die Vorinstanz darüber, dass vergessen wurde, dem Beschwerdegegner eine notwendige Verteidigung zu stellen.

Das Bundesgericht stellt fest, dass vorliegend ein Fall von notwendiger Verteidigung vorlag (Art. 130 lit. d i.V.m. Art. 405 Abs. 3 lit. b StPO). Da die Beschuldigte Person aber keine Verteidigung hatte, wurde der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt. Der Grundsatz soll sicher stellen, dass die beschuldigte Person in einem Strafverfahren keinem Nachteil ausgesetzt ist. Erhebt die Staatsanwaltschaft Berufung, muss sie persönlich zur Verhandlung erscheinen. Es liegt dann automatisch ein Fall von notwendiger Verteidigung vor, auch wenn dies im erstinstanzlichen Verfahren vieleicht noch nicht der Fall war. Da im vorliegenden Fall die Vorinstanz irrtümlich nicht dafür sorgte, dass die beschuldigte Person angemessen verteidigt war, wurde der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt. Damit erfüllt das Urteil die Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG nicht, da der Sachverhalt unter der Verletzung der Verteidigungsrechte ermittelt wurde. Deshalb darf es den Vorentscheid auch nicht in rechtlicher Hinsicht prüfen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, aber wohl nicht so, wie es sich die Staatsanwaltschaft vorgestellt hat.

Wochenrückblick… am Montag

In der letzten Woche hat das Bundesgericht einige interessante Entscheide gefällt, wobei die absoluten Blockbuster ausblieben. Aus diesem Grund schauen wir auf diese Woche produktiver bundesgerichtlicher Arbeit zurück und fassen die Entscheide kurz zusammen. Für die jeweilige Zusammenfassung klicken.


Urteil 1C_262/2023: Aufschiebende Wirkung bei Sicherungsmassnahmen

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Dieser Fall lag bereits zum dritten Mal beim Bundesgericht. Wegen einem Verdacht auf eine Alkoholproblematik wurde die Fahreignung des Beschwerdeführers abgeklärt. Das Gutachten fiel negativ aus und es wurde ein Sicherungsentzug angeordnet. Dagegen erhobene Beschwerden hiess das Bundesgericht in den Urteilen 1C_128/2020 und 1C_174/2020 (siehe auch Beitrag vom 22.03.2022) gut, weil die Begutachtung mangelhaft war und weil kein Obergutachten eingeholt wurde. Im nunmehr eingeholten Obergutachten kam der Gutachter zum Schluss, dass die Fahreignung momentan nicht abschliessend beurteilt werden könne. Der Betroffene beantragt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung sowie ein prioritäres behandeln seines Falles. Der Antrag um aufschiebende Wirkung wurde aber abgelehnt, wogegen sich der Beschwerdeführer nun vor Bundesgericht wehrt. Zudem habe die Vorinstanz aus seiner Sicht gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung verstossen.

Der Beschwerdeführer rügt vorliegend (wieder) eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die Vorinstanz die Ablehnung seines Gesuchs um Erteilung der aufschiebenden Wirkung aus seiner Sicht zu kurz, bzw. gar nicht begründete. Das Bundesgericht pflichtet dem Beschwerdeführer zwar zu, dass die von der Vorinstanz vorgenommene Interessensabwägung (Verkehrssicherheit vs. persönliche Freiheit) sehr kurz ausfiel. Es erinnert aber daran, dass verfahrensleitende Verfügungen zur aufschiebenden Wirkung knapp begründet werden können. Zudem ist im Rahmen eines Verfahrens betreffend Sicherungsentzug die aufschiebende Wirkung praxisgemäss in der Regel zu verneinen, da konkrete Anhaltspunkte für eine fehlende Fahreignung ausreichen. Auch dies rechtfertigt, einen den Regelfall abbildenden Entscheid lediglich kurz zu begründen (E. 2.4). Die Verweigerung der aufschiebenden Wirkung verletzt auch keine verfassungsmässigen Rechte, da sich aus dem Obergutachten genug Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers ergeben, auch wenn dieser einen ungetrübten Leumund hat (E. 3). Das Bundesgericht gibt dem Beschwerdeführer nur darin Recht, dass die Vorinstanz das Verfahren unrechtmässig verzögerte. Diese gab als Grund für gewisse Bearbeitungslücken an, dass man auf die Akten habe warten müssen, welche sich beim Bundesgericht befanden. Das lässt das Bundesgericht nicht gelten. Die Akten hätten ja kopiert werden können (E. 4).


Urteil 1C_194/2022: Massnahmedauer und Qualifikation von Widerhandlungen

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Der Beschwerdeführer verursachte im März 2020 auf der Gurnigelstrasse, einer kurvenreichen Passtrasse, wegen nicht angepasster Geschwindigkeit zwei Verkehrsunfälle, wofür er wegen mehrfacher grober Verkehrsregelverletzung sowie Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges mit Strafbefehl verurteilt wurde. Das zuständige Strassenverkehrsamt sanktionierte den Betroffenen mit einem Führerausweis-Entzug von fünf Monaten, wogegen er sich wehrt. Drei Monate seien genug.

Der Beschwerdeführer begründet dies damit, dass die Vorinstanz zu Unrecht die beiden Unfallereignisse je als schwere Widerhandlung qualifiziert hatte. Das Bundesgericht untersucht deshalb, ob die Qualifizierung korrekt war und listet in E. 5.4 exemplarisch bereits gefällte Urteile zur Qualifikation von Widerhandlungen bei nicht angepasster Geschwindigkeit auf:

Schwere Widerhandlung:
Urteil 1C_135/2022: Aquaplaning beim Überholen auf der Autobahn mit 90-100km/h (vgl. auch Beitrag vom 8.10.2022)
Urteil 1C_302/2011: Schleudern auf nasser Autobahneinfahrt wegen zu starker Beschleunigung
Urteil 1C_38/2011: Schleudern mit Unfall auf Autobahn wegen Schneeglätte

Mittelschwere Widerhandlung:
Urteil 1C_525/2012: Unfall auf nasser Autobahn ohne erschwerende Umstände

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung war es in diesem Fall korrekt, dass beide Unfälle als schwer qualifiziert wurden, denn beim ersten Unfall fuhr der Beschwerdeführer mit einer für eine kurvenreiche Passstrasse viel zu hohen Geschwindigkeit. Beim zweiten Unfall kam neben der nicht angepassten Geschwindigkeit noch hinzu, dass das Auto des Beschwerdeführers Unfallschäden hatte, Flüssigkeiten ausliefen und er zu schnell fuhr, um der Polizei zu entfliehen. Die fünfmonatige Warnmassnahme war insofern korrekt.


Urteil 1C_354/2022: Verhältnis zwischen Regeln zum FAP und der Auslandtat

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Der Beschwerdeführer ist vorbelastet mit einer mittelschweren Widerhandlung, weil er ein Kleinmotorrad der Kat. A1 lenkte, obwohl er nur im Besitz der Fahrberechtigung der Kat. M war. Im Juli 2020 überschritt der Beschwerdeführer, zwischenzeitlich im Besitz des Führerausweises auf Probe für die Kat. A und B, in Österreich die innerorts geltende Geschwindigkeit von 40 km/h um 57 km/h. Dafür wurde er mit einem Fahrverbot von zwei Wochen belegt. Dafür wurde er mit einem Fahrverbot von fünf Monaten wegen einer schweren Widerhandlung sanktioniert. Der Beschwerdeführer geht aber von einer mittelschweren Widerhandlung aus und möchte eine 14-tägige Warnmassnahme.

Begeht eine Person eine Widerhandlung im Ausland wird der Führerausweis gemäss Art. 16cbis SVG entzogen, wenn im Ausland ein Fahrverbot angeordnet wurde und die Widerhandlung nach CH-Recht mittelschwer oder schwer war. Die Bemessung der Entzugsdauer richtet sich nach Art. 16cbis Abs. 2 SVG. Die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbotes auf die betroffene Person sind angemessen zu berücksichtigen. Die Mindestentzugsdauer darf unterschritten werden. Die Entzugsdauer darf bei Personen, zu denen im Informationssystem Verkehrszulassung keine Daten zu Administrativmassnahmen enthalten sind, die am Begehungsort im Ausland verfügte Dauer des Fahrverbots nicht überschreiten. Von dieser Sonderregelung profitieren allerdings nur Ersttäter. Sobald man einen auch nicht kaskadenwirksamen Eintrag im IVZ-Massnahmen hat, darf die zuständige Behörde über das im Ausland angeordnete Fahrverbot hinausgehen (E. 3; s. dazu auch den Beitrag vom 22.09.2022).

Zunächst bestätigt das Bundesgericht die Vorinstanz mit Verweis auf seine gefestigte Rechtsprechung zum Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts ab 25 km/h grds. eine schwere Widerhandlung vorliegt (E. 4.2/3).

Der Beschwerdeführer stellt sich sodann auf den Standpunkt, dass er als Inhaber eines Führerausweises auf Probe nach Art. 15a SVG zu beurteilen sei. Nur wer als Inhaber eines Führerausweises auf Probe Widerhandlungen während der Probezeit begeht, muss mit den Konsequenzen von Art. 15a SVG rechnen. Art. 16cbis SVG könne nach seinem Rechtsverständnis nur bei definitiven Führerausweisen angewendet werden. Dass im vorliegenden Fall aber auch Widerhandlungen berücksichtigt wurden, welche der Beschwerdeführer vor dem Erhalt des Führerausweises auf Probe beging, hält er für rechtswidrig. Das Bundesgericht hält dem entgegen, dass Art. 15a SVG für Inhaber des Führerausweises auf Probe hinsichtlich der Bemessung einer Massnahme nur eine teilweise spezifische Regelung enthält. Sie geht zwar der Kaskadenfolge von Art. 16c Abs. 2 lit. b-e SVG vor, nicht aber den übrigen Bestimmungen von Art. 16 ff. SVG. Da es aber für die Privilegierung von Ersttätern bzw. für die Bindung der zuständigen Behörde an das ausländische Fahrverbot nicht darauf ankommt, ob die Vorbelastung kaskadenwirksam ist, kann der Beschwerdeführer aus Art. 15a SVG nichts zu seinen Gunsten ableiten.

Das bedeutet konkret: Nur eigentliche Ersttäter kommen in den Genuss der privilegierenden Regelung von Art. 16cbis Abs. 2 SVG. Sobald man eine Vorbelastung hat, egal ob als Inhaber des probehaften oder definitiven Führerausweises, ist die Behörde nicht an die Dauer des ausländischen Fahrverbotes gebunden.


Urteil 7B_180/2022: „Ich stand unter Schock!“

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Der Beschwerdeführer verursachte einen Verkehrsunfall, indem er mit einem Inselschutzpfosten kollidierte. Nach dem Unfall fuhr er mit seinem stark beschädigten Auto einfach weiter, ohne sich um den Schaden zu kümmern. Er wurde deshalb u.a. wegen pflichtwidrigen Verhalten sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit bestraft. Dagegen wehrt sich der Beschwerdeführer. Er stellt sich auf den Standpunkt, aufgrund eines durch die Kollision hervorgerufenen schweren Schockzustandes oder zumindest einer schweren akuten Belastungsreaktion nicht mehr in der Lage gewesen zu sein, die Situation richtig einzuschätzen und einer entsprechenden Einsicht gemäss richtig zu handeln. Nach seiner Ansicht war er nicht schuldfähig (Art. 19 StGB), was von den Strafbehörden gutachterlich hätte festgestellt werden müssen (Art. 20 StGB).

Ein Gutachten zur Schuldfähigkeit muss nur angeordnet werden, wenn ernsthafte Zweifel an dieser bestehen. Bei der Prüfung dieser Zweifel ist zu berücksichtigen, dass für die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit nicht jede geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen, genügt. Der Betroffene muss vielmehr, zumal der Begriff des normalen Menschen nicht eng zu fassen ist, in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen. Seine Geistesverfassung muss mithin nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss der „Rechts-„, sondern auch der „Verbrechensgenossen“ abweichen. Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen beizuziehen, ist daher erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder ein völlig unübliches Verhalten. Zeigt das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat, dass ein Realitätsbezug erhalten war, dass er sich an wechselnde Erfordernisse der Situation anpassen, auf eine Gelegenheit zur Tat warten oder diese gar herbeiführen konnte, so hat keine schwere Beeinträchtigung vorgelegen (E. 4.1).

Vorliegend ging die Vorinstanz von einem „heftigen Schreck“ des Beschwerdeführers aus, welche sie als normale Reaktion auf einen Unfall bezeichnete. Ein blosser Schreck reicht aber noch nicht aus, um ernsthaft an der Schuldfähigkeit einer Person zu zweifeln.

Fahreignung und Alter

Urteil 1C_508/2022: Wenn die Zweifel da sind…

Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Das BFS beschreibt die Form der Altersentwicklung der Schweiz als „Tanne„. Die Baby-Boom-Generation kommt in die Jahre. Das bedeutet natürlich, dass immer mehr ältere Menschen auf Schweizer Strassen unterwegs sind. Auch wenn das Thema nicht unbedingt neu ist (vgl. dazu die Beiträge „Altersbedingte Fahreignung“ vom 16. Februar 2019 und „Voraussetzungen der Kontrollfahrt“ vom 13. September 2021), ist dieses Urteil gesellschaftspolitisch dennoch sehr aktuell. Es setzt sich damit auseinander, wann bei älteren Personen Zweifel an der Fahreignung berechtigt sind und ob Sicherungsmassnahmen ältere Bevölkerungsschichten diskriminieren.

Der Beschwerdeführer (geb. 1935) wurde aufgrund seiner Fahrweise einer Polizeikontrolle unterzogen, nach welcher die Polizisten die Abklärung der Fahreignung empfahlen. Die Polizisten konnten beobachten, wie der Beschwerdeführer ca. 30 km/h anstatt der erlaubten 50 km/h und Schlangenlinien fuhr. Zudem befuhr er mehrmals fast das Trottoir. Bei einer Tankstelle hielt der Beschwerdeführer sein Fahrzeug plötzlich ohne ersichtbaren Grund. Bei einem anschliessenden Wendemanöver heulte der Motor laut auf und es roch nach verbrannter Kupplung. Während der Polizeikontrolle verhielt sich der Beschwerdeführer uneinsichtig und etwas verwirrt. Einen Grund für sein Wendemanöver konnte er nicht angeben. Aufgrund dieser Schilderungen wurde ein vorsorglicher Entzug sowie eine Fahreignungsabklärung bei einem Arzt oder einer Ärztin der Stufe 3 angeordnet.

Der Beschwerdeführer bestreitet zunächst diverse Punkte im Polizeirapport. Weder habe er Erinnerungslücken gehabt, noch sei es überhaupt technisch möglich bei seinem Fahrzeug, den Motor aufheulen zu lassen. Auch habe er keine Verkehrsregel verletzt. Er bestreitet den Sachverhalt und stellt sich auf den Standpunkt, dass der Polizeirapport ungeeignet sei, um an seiner Fahreignung zu zweifeln (E. 4.2. und E.4.3.1).

Das Bundesgericht erinnert zunächst daran, dass für die Anordnung einer Fahreignungsabklärung nur Zweifel nötig sind. Die Anordnung einer Fahreignungsabklärung und dem damit (meistens) zusammenhängenden vorsorglichen Entzug der Fahrerlaubnis sind gerechtfertigt, wenn die ihnen zugrunde liegenden Zweifel an der Fahreignung auf konkreten Anhaltspunkten beruhen. Polizeirapporte können ohne weiteres als Grundlage für ebendiese Anhaltspunkte dienen (E. 4.3.1). Ebenfalls ist es für die Anordnung einer Fahreignungsabklärung nicht nötig, dass Verkehrsregeln verletzt wurden (vgl. Urteil 1C_146/2010 E. 2.3). Aufgrund der Anhaltspunkte im Polizeirapport bzw. der Fahrweise des Beschwerdeführers durfte ohne weiteres eine Fahreignungsabklärung angeordnet werden (E. 4.4), ebenso der vorsorgliche Führerausweis-Entzug (E. 4.5).

Schliesslich stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass er wegen seines Alters diskriminiert werde (Art. 8 Abs. 2 BV) und eine Verletzung seines Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) vorläge. Bzgl. seinem Alter stellt er sich auf den Standpunkt, dass bei einer jüngeren Person bei der gleichen Fahrweise keine Sicherungsmassnahmen angeordnet worden wären. Ihm hingegen werfe man eine „schleichende Verblödung“ und Demenzerkrankung vor. Das Bundesgericht stützt allerdings die Ansicht der Vorinstanz, dass das Alter des Beschwerdeführers bei der Beurteilung des Falles berücksichtigt werden muss. Es ist allgemein bekannt, dass die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sowie die Konzentrationsfähigkeit des Menschen mit zunehmendem Alter abnehmen. Da die Massnahme primär dem legitimen Zweck der Verkehrssicherheit dient, darf das Alter bei der Fallbeurteilung berücksichtigt werden, ohne dass gegen das Diskriminierungsverbot verstossen wird (E. 4.6.1). Da die Polizeikontrolle ebenfalls der Verkehrssicherheit diente und auf genügend gesetzlichen Grundlagen beruht, wurde das Privatleben des Beschwerdeführers durch die Kontrolle nicht verletzt.

Wo sind die Kontrollschilder?

Urteil 6B_1020/2023: Mittäterschaft beim Nichtabgeben von Kontrollschildern trotz behördlicher Aufforderung nach Art. 97 Abs. 1 lit. b SVG bei Geschäftsfahrzeugen durch GL-Mitglieder? (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer ist Verwaltungsratsmitglied mit Einzelunterschrift einer Firma, auf welche ein Mercedes eingelöst war. Da die Verkehrsabgaben für dieses Fahrzeug nicht bezahlt wurden, setzte das Strassenverkehrsamt Kt. FR eine zehntägige Frist, um entweder die Steuern zu bezahlen oder die Kontrollschilder der Behörde zukommen zu lassen. Da der behördlichen Aufforderung keine Folge geleistet wurde, wurde der Beschwerdeführer mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse bestraft, wegen Mittäterschaft beim Missbrauch von Kontrollschildern. Der Beschwerdeführer ist aber der Ansicht, dass ihn keine Schuld träfe, weil nicht er, sondern ein Dritter materieller Halter des Fahrzeuges gewesen sei.

In objektiver Hinsicht setzt die Strafnorm von Art. 97 Abs. 1 lit. b SVG voraus, dass ein Kontrollschild ungültig ist und dass eine Behörde die Rückgabe des Kontrollschildes fordert. Die Strafnorm dient der Durchsetzung dieser Aufforderung. Damit betroffene Personen die Kontrollschilder schnellstmöglich zurückgeben und nicht etwa noch weiter herumfahren, handelt es sich bei der Straftat um ein Vergehen und nicht etwa um eine Übertretung (E. 2.1). Bevor Kontrollschilder polizeilich eingezogen werden, muss eine kurze Frist angesetzt werden (Art. 107 Abs. 3 VZV). Der Halter eines Fahrzeuges ergibt sich gemäss Art. 78 Abs. 1 VZV aus den tatsächlichen Verhältnissen. Der Gesetzgeber geht also vom materiellen Halterbegriff aus, und nicht etwa vom formellen. Halter ist grundsätzlich, wer das Fahrzeug benutzt und z.B. auch Reparatur- oder Benzinkosten übernimmt. Formeller Halter ist die Person, die im Fahrzeugausweis steht (vgl. dazu auch BGE 144 II 281 E. 4.3.1).

Der Beschwerdeführer stellt sich im Wesentlichen auf den Standpunkt, dass er nicht materieller Halter des Fahrzeuges war. Dieses war im Besitz einer Drittperson, welche dies auch schriftlich bestätigte. Die kantonalen Instanzen waren zwar ebenfalls der Meinung, dass der Beschwerdeführer nicht materieller Halter des Autos war, aber dass er dennoch an der Straftat mitwirkte. Denn trotz mehrer Schreiben seitens der kantonalen Behörde, blieb der Beschwerdeführer während ca. fünf Monate untätig und teilte z.B. auch die Koordinaten des materiellen Halters nicht mit. Durch seine Untätigkeit nahm der Beschwerdeführer in Kauf, dass die Kontrollschilder nicht rechtzeitig zurückgegeben würden. Zudem trifft ihn als Verwaltungsratsmitglied der Firma auch eine Mitwirkungspflicht bei der Feststellung des Halters eines Geschäftsfahrzeuges (Art. 78 Abs. 2 VZV). Und schliesslich hätte der Beschwerdeführer besonders aufmerksam sein müssen, denn es war nicht das erste Mal, dass er in eine solche Geschichte verstrickt war (E. 2.3).

Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass nur der materielle Halter eines Fahrzeuges den Straftatbestand von Art. 97 Abs. 1 lit. b SVG erfüllen kann. Dem widerspricht allerdings das Bundesgericht. Dem klaren Gesetzestext kann entnommen werden, dass die Strafnorm nicht nur von einem Halter erfüllt werden kann (wie z.B. Art. 93 Abs. 2 lit. b, 96 Abs. 3 oder 99 Abs. 2 SVG). Zudem würde die Rechtsansicht des Beschwerdeführers die kantonalen Behörden vor grosse Probleme stellen. Denn immer dort, wo die formelle und die materielle Halterschaft nicht übereinstimmen und die Behörde den materiellen Halter gar nicht kennt, würde dies eine Bestrafung nach Art. 97 Abs. 1 lit. b SVG verunmöglichen. Vorausgesetzt ist – wir erinnern uns – dass der Halter aufgefordert wurde, die Kontrollschilder zurückzugeben. Kennt die Behörde wie i.c. den materiellen Halter gar nicht, könnte sie diesen auch nie auffordern, die Schilder zurückzugeben, was der ratio legis der Strafnorm widersprechen würde. Aus Sicht des Bundesgerichts hätte der Beschwerdeführer der kantonalen Behörde gemäss Art. 74 Abs. 5 VZV mitteilen müssen, dass seine Firma nicht materielle Halterin des Mercedes war, als die Behörde die Rückgabe der Schilder forderte. Indem der Beschwerdeführer den Behörden über mehrere Monate nicht dabei half, die Schilder einzuziehen, machte er sich nicht nur der Mittäterschaft schuldig, sondern er erfüllte Art. 97 Abs. 1 lit. b SVG als unmittelbarer Täter.

Fazit: Juristische Personen, welche als formelle Halter in Fahrzeugausweisen von Geschäftsfahrzeugen eingetragen sind, müssen gut darüber Bescheid wissen bzw. den Behörden Auskunft darüber geben können, wer materieller Halter des Autos ist. Ansonsten macht sich die zuständige Person nach Art. 97 Abs. 1 lit. b SVG strafbar, wenn die Kontrollschilder mangels Kooperation nicht eingezogen werden können.

Bonus-Urteile

Urteil 1C_179/2023: Wer mit einem Motorrad mangels genügendem Abstandes mit dem Heck eines vorfahrenden Fahrzeuges kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung. Mit entsprechenden Vorbelastungen führt das zu einem Führerausweis-Entzug für immer.


Urteil 1C_139/2023: Wenn eine Person mit Kokain beim Autofahren erwischt wird und der Konsum ebenfalls erwiesen ist, muss deren Fahreignung abgeklärt und der Führerausweis vorsorglich entzogen werden. Ergibt die Abklärung, dass die Fahreignung nicht gegeben ist, muss der Führerausweis sicherheitshalber entzogen werden, bis die Voraussetzungen für die Wiederzulassung erfüllt sind. Die Behörden sind an entsprechende Gutachten gebunden. Es verstösst auch nicht gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip, wenn für die Wiederzulassung zum Strassenverkehr gefordert wird:

– Haaranalysen zum Nachweis einer Alkoholtotal- und einer Betäubungsmittelabstinenz
– Sozialtherapie bzgl. Alkohol- und Drogenkonsum während mind. 6 Monate.

Dass die Beschwerdeführerein beruflich auf ihre Fahrerlaubnis angewiesen ist, spielt bei Sicherungsmassnahmen keine Rolle.


Urteil 6B_1082/2022: Wer in einem Fahrzeug als Beifahrer die Handbremse zieht, weil betroffene Person der Meinung ist, der Lenker fahre zu schnell, wodurch es zu einem Unfall kommt, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung. Auch wenn der Lenker stark alkoholisiert war, handelt man weder in rechtfertigendem, noch in entschuldbarem Notstand, wenn man die Handbremse zieht, um das Auto zu stoppen.

Kleiner Ferienrückblick

Da liegt man gemütlich am Stand auf einer subtropischen Insel und kann nur an eines denken: Was gibt es bloss für Neuigkeiten in der Schweiz zum Strassenverkehr. Wir schauen zurück auf die letzten paar Wochen und fassen Aktuelles kurz zusammen. Da die Leserschaft hier aus eingefleischten SVG-Nerds besteht, dürften die meisten Neuerungen sowieso schon bekannt sein.

Änderung des SVG per 1. Oktober 2023

Viele der Änderungen haben wir entweder schon im Blog behandelt, oder sie wurden in der Presse bereits ausführlich diskutiert. Deshalb hier nur noch die summarische Auflistung:

  • Mehr richterliches Ermessen bei der Sanktionierung von Raserdelikten
    In Einzelfällen kann die Mindeststrafe von einem Jahr unterschritten werden, was auch zu einem kürzeren Führerausweisentzug führt.
  • Widerhandlungen mit FAP
    Die „Lex Freysinger“ hat ihren Spiessrutenlauf hinter sich. Eine leichte Widerhandlung führt nicht mehr zur Verlängerung der Probezeit oder dessen Annullation.
  • Erleichterungen für Blaulichtorganisationen
    Damit Ordnungskräfte ihre (Hilfs-)Einsätze wahrnehmen können, wird das Gesetz angepasst.
  • Halterhaftung für juristische Personen bei Ordnungsbussen
    Im Urteil 6B_252/2017 entschied das BGer, dass für Ordnungsbussen für juristische Personen die gesetzliche Grundlage fehlt. Diese wird nun nachgereicht (Art. 7 Abs. 1 OBG)
  • Regulierung von Fahrzeugen mit Automatisierungssystem in Art. 25a

Weitere Infos:
Medienmitteilung ASTRA vom 16.8.2023

Einige erwähnenswerte neue Urteile

  • Urteil 1C_104/2023: Rechtsüberholen und seine Folgen
    Ein als einfache Verkehrsregelverletzung bestraftes Rechtsüberholen (zwei Fahrzeuge gleichzeitig auf dreispuriger Autobahn) ist eine mittelschwere Widerhandlung. Mit den entsprechenden Vorbelastungen führt das zu einem Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit. Das Überholmanöver konnte nach der neueren Rechtsprechung auch nicht unter den Ordnungsbussentatbestand subsumiert werden, da der Beschwerdeführer auf einer dreispurigen Autobahn ohne zu blinken von der linken auf die rechte Spur wechselte und bei mittlerer Verkehrsauslastung gleich vier Fahrzeuge überholte.
  • Urteil 6B_1137/2022: Das ultimative Drängeln
    Wer auf der Autobahn ein vorfahrendes Fahrzeug mit der Frontstossstange „antütscht“, um dessen Fahrer zu einem Spurwechsel zu „überzeugen“ und sodass dieser verunfallt, begeht eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung.
  • Urteil 6B_254/2023: Denkt an den Wald!
    Auch wenn die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 km/h ausserorts u.a. im Rahmen der Debatte zum „Waldsterben“ eingeführt wurde und es dem Wald heute wieder gut geht, heisst das natürlich nicht, dass die Tempolimite heute keine Relevanz mehr hat. Denn die Regeln zur Höchstgeschwindigkeit dienen natürlich vorwiegend der Verkehrssicherheit. Insofern ist eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 34km/h ausserorts eine grobe Verkehrsregelverletzung. Zum Thema: Artikel Tagesanzeiger vom 6.1.2015: „Wie das Waldsterben die Schweizer Strassen sicherer machte“
  • Urteil 1C_630/2022: Signale bitte beachten
    Wer auf der Autobahn übersieht, dass die linke Spur gesperrt ist, zum Überholen ansetzt und danach verunfallt, sodass sogar Strassenarbeiter in Sicherheit hechten müssen, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. eine schwere Widerhandlung.
  • Urteil 6B_1059/2022: Ordnungsbusse oder nicht?
    Der Beschwerdegegner überschritt auf der Autobahn bei einer Baustelle die Höchstgeschwindigkeit von 60km/h um 21km/h. Dafür wurde er von der Berufungsinstanz mit einer Ordnungsbusse von CHF 260 bestraft. Die Staatsanwaltschaft erhebt Beschwerde gegen dieses Urteil. Grds. ist die Staatsanwaltschaft der Meinung, dass das Gefährdungspotential unter diesen Umständen nicht mit den Ordnungsbusstentatbeständen verglichen werden kann und deshalb von einer einfachen Verkehrsregelverletzung ausgegangen werden muss. Sie beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts, nach welcher Abschnitte der Autobahn, die von einer Geschwindigkeitsbegrenzung unterhalb von 120 km/h betroffen sind, hinsichtlich des Gefahrenpotentials mit einer Ausserortsstrecke vergleichbar sind und deshalb bezüglich Geschwindigkeitsüberschreitungen im Regelfall die von der Rechtsprechung für Ausserortsstrecken entwickelten Grundsätze anzuwenden sind (Urteile 6B_444/2016 E. 1.3.1 und 6B_973/2020 E. 2.1).
    Das Ordnungsbussenverfahren muss angewendet werden, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind. Überschreitungen der Tempolimite auf Autobahnen um 21-25km/h werden grds. mit einer Ordnungsbusse von CHF 260 bestraft (Ziff. 303.3e Anhang 1 der OBV). Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft verletzte das Anklageprinzip, weil in ihrer Anklage (bzw. dem Strafbefehl) keinerlei Hinweise auf eine erhöht abstrakte oder gar konkrete Gefährdung von Personen entnommen werden konnte. Die Beschwerde wird insofern abgewiesen.

Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part III

Urteil 6B_658/2022: Vorsicht Spaziergänger (gutgh. Beschwerde der Staatsanwaltschaft)

Dieses Urteil befasst sich mit einem tragischen Unfall, bei welchem ein Fussgänger verstarb, nachdem er von einem Fahrrad erfasst wurde. Der Fussgänger und seine Frau gingen auf einer Strasse in der Region Lavaux am rechten Rand einer Mauer entlang. In gleicher Richtung befuhr der Beschwerdegegner mit seinem Fahrrad die Strasse mit ca. 50 km/h. Als er in eine leichte Rechtskurve fuhr, sah er plötzlich den Spaziergänger, welcher dabei war, von rechts auf die linke Strassenseite zu wechseln. Der Beschwerdegegner schrie, um die Aufmerksamkeit des Fussgängers auf sich zu ziehen. Der Beschwerdegegner wollte dann zwischen dem Fussgänger und der Mauer durchfahren, wobei er immer noch ca. 46 km/h fuhr. Im gleichen Moment entschied sich der Fussgänger wieder nach rechts an die Mauer zu gehen. Der Fahrradfahrer kollidierte mit dem Fussgänger. Dieser vertarb später im Spital, der Fahrradfahrer zog sich schwere Verletzungen zu. In zweiter Instanz wurde der Fahrradfahrer vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen wehren sich die Witwe sowie die Staatsanwaltschaft.

Wie schon in Part I und II setzt auch die fahrlässige Tötung gemäss Art. 117 StGB eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus. Diese bemisst sich im Strassenverkehr nach den Verkehrsregeln. Auch in Part III stellt sich die Frage, ob dieser Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang für den Fahrradfahrer vorherseh- sowie vermeidbar war oder ob er die grenze des erlaubten Risikos noch nicht überschritten hat. Ebenso stellt sich hier die Frage, ob das Verhalten des Verstorbenen den Kausalverlauf unterbrechen konnte. Das Bundesgericht verweist auch hier wieder darauf, dass es nicht total unverhersehbar ist, dass sich Menschen auf der Fahrbahn befinden, auch wenn sie komische Dinge tun, wie z.B. aus einem Sack gefallene Herdöpfel aufsammeln (E. 2.1).

Die Verkehrsregeln gelten grds. auch für Fahrradfahrer (Art. 1 Abs. 2 SVG), so auch dass man seine Geschwindigkeit stets den Umständen anpassen muss (Art. 32 Abs. 1 SVG). Das bedeutet, dass man die Höchstgeschwindigkeit (als Motorfahrzeugführer) nicht immer ausreizen darf. Man muss sich u.a. am Verkehrsaufkommen und den Sichtverhältnissen orientieren. Die Geschwindigkeit muss so angepasst sein, dass man stets innerhalb der überblickbaren Distanz anhalten kann (vgl. Art. 4 Abs. 1 VRV). Auch auf grossen Durchgangsstrassen muss man als Verkehrsteilnehmer grds. damit rechnen, dass in einer nicht einsehbaren Kurve ein langsames Landwirtschaftsfahrzeug oder ein stehendes Auto mit Panne auftauchen kann (zum Ganzen ausführlich E. 2.2.2). An Expertisen sind Gerichte grds. gebunden. Wären die Schlussfolgerungen eines Experten aber überhaupt nicht nachvollziehbar, würde das Abstellen auf die Expertise gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung verstossen (E. 2.2.3).

Die Vorinstanz war (stark zusammengefasst) der Meinung, dass der Unfall letztlich aufgrund unglücklicher Zusammenhänge geschah, insb. im Umstand, dass der Spaziergänger in letzter Sekunde wieder einen Schritt zurückmachte und sich damit in die Fahrbahn des Beschwerdegegners begab. Eine Sorgfaltspflichtsverletzung nahm sie nicht an (E. 2.3). Eine Expertise kam (ebenfalls stark zusammengefasst) zu Schluss, dass eine Notbremsung nicht gereicht hätte, um den Unfall zu vermeiden. Die Aufprallgeschwindigkeit wäre aber nicht ca. 46 km/h, sondern 29 km/h gewesen. Mit einer Geschwindigkeit von 37.5 km/h hätte der Fahrradfahrer noch bremsen können. Die Expertise bezeichnete es als nachvollziehbar, dass unter diesen Umständen ein Ausweichmanöver versucht wurde. Allerdings hätte es gemäss Expertise wohl auch einen Unfall gegeben, wenn der Beschwerdegegner gar nicht reagiert hätte und der Verstorbene normal weitergelaufen wäre (E. 2.4).

Darauf stützt sich schliesslich auch das Bundesgericht. Wenn es den Verkehrsunfall so oder so gegeben hätte, dann war die Geschwindigkeit des Beschwerdegegners nicht angepasst. Der Beschwerdegegner hätte eine nicht einsehbare Rechtskurve nicht mit knapp 50 km/h befahren dürfen, so dass er nicht mehr auf Sicht anhalten konnte. Der Beschwerdegegner kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Expertise sein Ausweichmanöver als nachvollziehbar bezeichnete. Denn er selbst hat sich durch das Nichtanpassen der Geschwindigkeit erst in diese Gefahrensituation gebracht (ausführlich und umschweifend E. 2.6). Letztlich war es auch nicht dermassen ausserordentlich, dass ein Spaziergänger auf einer touristischen Route im Lavaux an einem Sonntagabend die Strassenseite wechselt. Insofern wurde der adäquate Kausalzusammenhang durch das Verhalten des Verstorbenen nicht unterbrochen. Das gleiche gilt für den Ausweichschritt in die Fahrbahn des Beschwerdegegners (E. 2.7).

Der Freispruch der Vorinstanz verstösst damit gegen Bundesrecht, womit die Beschwerden gutgeheissen werden.

Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part II

Urteil 6B_239/2022: Vorsicht Lotsen (teilw. gutgh. Beschwerde)

Weil es gut zum aktuellen Thema passt, holen wir dieses bereits etwas ältere Urteil aus dem Backlog und fassen es hier auch kurz zusammen.

Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung veruteilt. Er fuhr am Morgen in Basel auf der Missionsstrasse. Dabei sahr er, wie der Geschädigte auf die Strasse trat, um einen Lieferwagen auf die Strasse zu lotsen. Der Beschwerdeführer passierte den Geschädigten dann mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h mit so geringem Abstand, dass dessen Bein vom Fahrzeug erfasst wurde. Der Geschädigte stürzte zu Boden und erlitt einen Bruch des Sprunggelenks. Die kantonalen Instanzen hiessen zudem die Zivilforderung des Geschädigten im Grundsatze gut und auferlegten dem Beschwerdeführer eine Haftungsquote von 100%.

Der Geschädigte bringt zunächst vor, dass der Beschwerdeführer bzgl. der zivilrechtlichen Haftungsquote gar kein rechtlich geschütztes Interesse mehr habe, denn dessen Motorhaftpflichtversicherung gab bereits eine Haftungsanerkennung zur vollen Quote ab, aus reiner Kausalhaftung. Auch wenn dem so wäre, hat der Beschwerdeführer nach Ansicht des Bundesgerichts aber trotzdem ein rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde bzgl. den zivilrechtlichen Folgen des Unfalles, auch wenn seine MFH die Haftung zur vollen Quote anerkannte. Es kann nämlich sein, dass die MFH nach der Schadenregulierung gegenüber dem Beschwerdeführer Regressansprüche geltend macht (Art. 65 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 14 Abs. 2 VVG), worauf sich die gerichtlich festgestellte Haftungsquote auswirkt (E. 3.3).

Neben einer Verletzung des Anklageprinzips (E. 4) und einer willkürlichen Sachverhaltsdarstellung (E. 5) rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 125 StGB. Aus seiner Sicht trägt der Geschädigte die Schuld am Unfall bzw. seiner Körperverletzung, denn dieser sei nicht zur Verkehrsregelung berechtigt gewesen, sei grundlos auf die Strasse gestanden und habe sich rückwärts und damit unvorsichtig in den Verkehr hineinbewegt (E. 6.1).

Eine fahrlässige Körperverletzung setzt eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus, die sich im Strassenverkehr nach dem Strassenverkehrsgesetz bemisst. Strafbar ist das Verhalten des Unfallverursachers, wenn dieser den Unfall vorhersehen und insofern vermeiden hätte können. Trägt das Opfer eine Mitschuld am Unfall in Form eines Verhaltens, mit welchem schlicht nicht gerechnet werden muss, kann dies den adäquaten Kausalverlauf unterbrechen (zum Ganzen E. 6.2.2).

Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG ist gegenüber allen Verkehrsteilnehmern ausreichend Abstand zu wahren. Zudem muss man die Geschwindigkeit den Umständen anpassen. Man darf zwar darauf vertrauen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten. Der Vertrauensgrundsatz gilt allerdings nicht uneingeschränkt (Art. 26 SVG).

Laut der Vorinstanz bemerkte der Beschwerdeführer den Lotsen auf der Strasse und er interpretierte die Situation auch richtig. Tortzdem setzte er seine Fahrt mit 30 bis 35 km/h fort und fuhr am Geschädigten nur mit 50 cm vorbei. Dabei wurde der Geschädigte vom Fahrzeug des Beschwerdeführers erfasst. Der Beschwerdeführer hätte den Unfall ohne weiteres vermeiden können, wenn er gestoppt und das Manöver der Lieferwagen abgewartet hätte oder zumindest sein Tempo massiv reduziert und in grösserem Abstand am Lotsen vorbeigefahren wäre. Eine „eigenverantwortlich gewollte Selbstgefährdung“ des Lotsen, die den Kausalverlauf unterbrechen würde, nahm die Vorinstanz nicht an (E. 6.3).

Das Bundesgericht stimmt der Vorinstanz grds zu. Es verweist aber auch darauf, dass die Grösse des seitlichen Abstands, der gegenüber Fussgängern einzuhalten ist, nicht allgemein zahlenmässig festgelegt werden kann. Sie richtet sich vielmehr unter anderem nach der Breite der Fahrbahn, den Verkehrs- und Sichtverhältnissen, der Geschwindigkeit des Fahrzeugs sowie dem Alter und dem Verhalten der Fussgänger. In einer engen Gasse in einem tessiner Bergdorf kann ein halber Meter bei entsprechend langsamem Tempo ausreichend sein. In anderen Konstellationen, höhere Geschwindigkeit, grosse Strasse sowie dem Umstand, dass sich ein Fussgänger auf ein nahes Vorbeifahren nicht gefasst ist, sind 50 cm dann wieder zu wenig. Der Beschwerdeführer hätte also entweder warten, oder den Abstand oder sein Tempo anpassen müssen. Der Unfall war vermeidbar, womit eine Sorgfaltspflichtsverletzung vorliegt (E. 6.4.2).

Das Bundesgericht setzt sich dann noch mit der Frage auseinander, ob bei Selbstgefährdungen durch Fussgänger im Strassenverkehr stets von einer stillschweigenden Einwilligung in Körperverletzungen ausgegangen werden kann. Im Gegensatz zu gewissen Sportarten ist dies im Strassenverkehr allerdings nicht der Fall. Wer sich als Fussgänger verkehrsregelwidrig auf die Fahrbahn begibt, willigt daher nicht ein, von einem Fahrzeug angefahren und verletzt zu werden (E. 6.4.3).

Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung ist also korrekt. Die Beschwerde wurde aber gutgeheissen, weil die Vorinstanz ohne hinreichende Begründung von einer Haftungsquote von 100% zu Lasten des Beschwerdeführers ausging (E. 7) und weil die festgesetzte Parteientschädigung für den Privatkläger nicht nachvollziehbar war (E. 8).

Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part I

Urteil 6B_286/2022: Vorsicht Kinder (gutgh. Beschwerde von den Privatklägern und der Staatsanwaltschaft)

Der Sachverhalt stark zusammengefasst: Der Beschwerdegegner und Unfallverursacher fuhr mit seinem Fahrzeug trotz Entzug des Führerausweises und in angetrunkenem Zustand (0.97%) nach Hause. Bei einer Schule und obwohl er Kinder am Strassenrand bemerkte, reduzierte der Beschwerdegegner seine Geschwindigkeit nicht und fuhr ca. 45 bis 50 km/h. Weil er von den Scheinwerfern eines nachfolgenden Fahrzeuges via Rückspiegel geblendet wurde, bemerkte er nicht, dass ein fünfjähriges Kind vor ihm mit seinem Trottinet einen Fussgängerstreifen passierte, von rechts nach links. Der Beschwerdeführer erfasste das Kind ungebremst, wodurch es 25 m weggeschleudert wurde. Es wurde lebensgefährlich verletzt. Gemäss einem unfallanalytischen Gutachten kam das Kind hinter einer Mauer hervor, von welcher es vor dem Unfall ca. 1-5s partiell verdeckt wurde. Ganz verdeckt war das Kind aber nicht. Wenn der Beschwerdegegner 35 km/h gefahren wäre, hätte es wohl kein Unfall gegeben. Zudem habe die Angetrunkenheit keinen Einfluss auf die Reaktionsfähigkeit gehabt. Von der ersten Instanz wurde der Beschwerdegegner u.a. wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung verurteilt. Im Berufungsverfahren hingegen wurde der Beschwerdegegner aber von diesem Vorwurf freigesprochen. Dagegen wehrt sich die Privatklägerschaft sowie die Staatsanwaltschaft.

Die fahrlässige schwere Körperverletzung ist ein Offizialdelikt (Art. 125 Abs. 2 StGB). Es wird eine Sorgfaltspflichtsverletzung vorausgesetzt, die bei Strassenverkehrsdelikten anhand der Verkehrsregeln beurteilt wird. Man stellt sich die Frage, ob der Verkehrsunfall für den Verursacher vorhersehbar und insofern vermeidbar war (zum Ganzen ausführlich E 4.1).

Im Strassenverkehr gilt der Vertrauengrundsatz, d.h. man darf grundsätzlich davon ausgehen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die Verkehrsregeln halten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Gegenüber Kinder gilt aber eine erhöhte Sorgfaltspflicht, womit der Vertrauensgrundsatz ihnen gegenüber grundsätzlich nicht gilt („Le principe de la confiance ne s’applique donc pas à l’égard de ces personnes“; E: 4.2.1; Art. 26 Abs. 2 SVG).

Ein Fahrzeuglenker muss sein Auto stets beherrschen (Art. 31 Abs. 1 SVG), seine Geschwindigkeit den Umständen anpassen (Art. 32 Abs. 1 SVG), wobei bei Fussgängerstreifen wiederum eine erhöhte Sorgfaltspflicht gilt (Art. 33 Abs. 2 SVG). Dass bedeutet, dass der Autofahrer den Fussgängerstreifen und angrenzenden Trottoirs eine erhöhte Aufmerksankeit schenken, so dass er Fussgängern den Vortritt gewähren kann. Die erhöhte Sorgfaltspflicht geht sogar soweit, dass der Autofahrer darauf gefasst sein muss, dass sich Fussgänger regelwidrig verhalten und z.B. bei einem mit Mittelinsel getrennten Fussgängerstreifen ohne anzuhalten einfach durchlaufen (E. 4.2.4).

Der Verkehrsunfall geschah um 20.45 Uhr. Deshalb ging die Vorinstanz davon aus, dass der Beschwerdegegner nicht unbedingt mit einem Kind auf einem Trottinett rechnen musste. Auch dass das Kind partiell von einer Mauer verdeckt war und mit 11 km/h um einiges schneller unterwegs war, als ein Fussgänger, liess den Unfall als unvermeidbar erscheinen. Autofahrer müssten aus Sicht der Vorinstanz am Unfallort generell 35k km/h fahren oder systematisch anhalten am Fussgängerstreifen. Insofern lag aus vorinstanzlicher Sicht keine Sorgfaltspflichtsverletzung vor bzw. war der adäquate Kausalverlauf unterbrochen (E. 4.3).

Das Bundesgericht sieht das anders. Wenn ein Autofahrer in eine Verkehrssituation kommt, wo er aufgrund der Umstände bzw. schlechten Sichtverhältnissen Fussgänger eher spät sehen kann, muss er seine Geschwindigkeit anpassen. Der Beschwerdegegner kannte zudem die Unfallstelle und sah zuvor auch noch spielende Kinder, obwohl bereits 20.45 Uhr war. Auch dass der Unfallort in der Nähe eines Schul-Sportplatzes war, spricht gegen den Beschwerdegegner. Unter diesen Umständen hätte der Beschwerdegegner seine Geschwindigkeit anpassen müssen, sodass er einem Fussgänger hätte den Vortritt gewähren können. Der Unfall war für ihn vorherseh- und insofern auch vermeidbar. Das gilt auch, wenn ein Kind mit einem Trottinett schneller als Schrittgeschwindigkeit unterwegs war.

Der Beschwerdegegner hätte also als ortskundiger seine Geschwindigkeit anpassen müssen. Die Beschwerden der Staatsanwalt- und Privatklägerschaft werden gutgeheissen.

Der Zwei-Sekunden-Blick

Urteil 6B_27/2023: Das Handy im Auto (gutgh. Beschwerde)

Das Mobiltelefon ist heutzutage allgegenwärtig – leider auch am Steuer. Damit befasst sich dieses Urteil, wobei unser höchstes Gericht exemplarisch seine Rechtsprechung zur Aufmerksamkeit im Strassenverkehr zusammenfasst.

Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen einen Strafbefehl, mit welchem sie mit CHF 250 gebüsst wurde. Sie fuhr innerorts, wobei sie mit ca. 50 km/h auf einer Strecke von ca. 20 Metern während ein bis zwei Sekunden ihr Kopf senkte und auf ihr Mobiltelefon blickte. Es herrschte mittleres Verkehrsaufkommen. Die Strafbehörden warfen ihr vor, eine Verrichtung vorgenommen zu haben, welche die Bedienung des Fahrzeuges erschwerte (Art. 3 Abs. 1 VRV). Die Beschwerdeführerin sieht das natürlich ganz anders. Ihr Verhalten sei gar nicht tatbestandsmässig, denn ihre Aufmerksamkeit sei durch den Blick aufs Handy nicht beeinträchtigt worden. So sei auch die Nutzung der Fingerprint-Funktion oder der Face-ID zum Entsperren des Mobiltelefons nicht verboten. Auch wenn das blosse Halten eines Mobiltelefons erlaubt ist (vgl. Urteil 6B_1183/2014), war die Vorinstanz der Meinung das insb. durch das Senken des Kopfes die Aufmerksamkeit beeinträchtigt wurde.

Sein Auto beherrscht man nur, wenn man sich aufmerksam dem Verkehr widmet (Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den Einzelfallumständen. Ist auf der Strasse „weniger los“, werden an die Aufmerksamkeit weniger hohe Ansprüche gestellt. Ob eine Verrichtung die Beherrschung über das Fahrzeug verunmöglicht, hängt von der Verkehrssituation ab und von der Dauer der Verrichtung. Eine weitere Rolle spielt es, ob man seine Körperhaltung ändern muss. Faustregel: Je kürzer die Verrichtung, desto eher legal (zum Ganzen E. 1.3).

Kasuistik – Erlaubt:
Urteil 1C_470/2020 E. 4.2: Blick auf Armaturenbrett, wenn Verkehr ok
Urteil 1C_183/2016 E. 2.1: Blick auf Uhr oder internes Navi, wenn Verkehr ok
Urteil 6P.68/2006 E. 3.3: Zeitunglesen im Stau bei Stillstehen erlaubt
Urteil 6B_1183/2014 E. 1.5: Handy für 15s halten auf Autobahn bei 100km/h erlaubt

Nicht erlaubt:
Urteil 6B_666/2009 E. 1.3: Längerer Blick auf Handy zum SMS schreiben
Urteil 1C_183/2016 E. 2.6: Navi beim Steuer halten und länger draufblicken
Urteil 1C_422/2016 E. 3.3: 7s Blick auf ein Blatt Papier
Urteil 6B_894/2016 E. 3.3: Rechts Mobilgerät bedienen, linke Hand am Kopf
Urteil 6B_1423/2017 E. 3: Lasermessgerät drei Sekunden bedienen
Urteil 1C_566/2018 E. 2.5.2: Papier auf Lenkrad beschreiben
Urteil 7B_221/2022 E. 4: Drei Sekunden-Blick und Manipulation mit Daumen 

Die Beschwerdeführerin hatte das Lenkrad im Griff. Auch wenn ihr Kopf leicht geneigt war, hatte sie den Verkehr noch im Blick. Die Verrichtung dauerte nur sehr kurz. Das Bundesgericht vergleicht den Blick mit einem Blick in die Seiten- oder den Rückspiegel, welcher auch in Innenstädten wegen Velos und Fussgängern nötig ist. Sofern es also die Verkehrssituation – wie vorliegend – zulässt, erfüllt ein kurzer Blick aufs Handy den Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 VRV nicht (ausführlich E. 1.5).

Das Bundesgericht weist die Sache aber an die Vorinstanz zurück mit folgendem interessanten Hinweis:

Gemäss Ziffer 311 der Bussenliste in der OBV wird die Verwendung eines Telefons während der Fahrt mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 bestraft. „Verwenden“ bedeutet aus Sicht von unseren Bundesrichtern nicht nur das Telefonieren, sondern auch die Nutzung von weiteren Funktionen, wie das Verfassen von Kurznachrichten oder E-Mails oder auch deren Lektüre (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Die Beschwerdeführerin wird wohl mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 davonkommen.