Zusammenspiel zwischen Straf- und Administrativ-Verfahren… und mehr

Urteil 1C_246/2024: Ich bin einfach gebunden…

Das Urteil befasst sich mit der allseits bekannten Thematik, nämlich der Bindung der Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt. Interessant ist das Urteil allemal, weil sich das Bundesgericht ziemlich eingehend damit befasst, was bei einer Verfahrenssistierung alles möglich ist. Zudem ist es das erste Mal (soweit ersichtlich), dass sich jemand vor Bundesgericht wehrt, weil sein vorsorglicher Entzug nicht neu beurteilt wurde gemäss Art. 30a Abs. 2 VZV.

More please…

Der Führerausweis auf Probe des Beschwerdeführers wurde vorsorglich entzogen, weil er zwei Verkehrsunfälle verursachte. Diese Massnahme wird zugunsten der Verkehrssicherheit angeordnet, wenn die Annullierung des Führerausweises auf Probe zur Debatte steht (vgl. Urteil 6B_1019/2016 E. 1.4.3).

Eingeheng beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Dualität der Verfahren im Schweizer Recht nach einer Verkehrsregelverletzung. Im Administrativmassnahmen-Verfahren ist die Entzugsbehörde grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden, sodass widersprüchliche Entscheide vermieden werden. Das bedeutet auch, dass sich die betroffene Person gdrs. im Strafverfahren gegen den Vorwurf einer Verkehrsregelverletzung wehren muss, u.a. weil das Strafverfahren besser Gewähr dafür bietet, dass das Ergebnis der Sachverhaltsermittlung näher bei der materiellen Wahrheit liegt. Und auch wenn die Entzugsbehörde im Administrativ-Verfahren das Beschleunigungsgebot beachten muss, so darf sie trotzdem ein sistiertes Verfahren nicht wieder aufnehmen, wenn der Sachverhalt im Strafverfahren noch nicht festgehalten wurde. Ist die betroffene Person der Ansicht, dass ihre Sache zu langsam bearbeitet wird, muss sie primär im Strafverfahren für Beschleunigung sorgen.

Schliesslich verweist das Bundesgericht darauf, dass bei einer Annullierung des Führerausweises auf Probe Zweifel an der charakterlichen Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Die Zweifel an der Fahreignung setzen keine strikten Beweise voraus.


Mehr Urteile im Tikitaka

Urteil 1C_381/2024: Die Staatsanwaltschaft am Fischen?

Anhand einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung befasst sich das Bundesgericht in diesem strafprozessual äusserst knackigen Urteil mit dem Untschied zwischen einer Phishing-Expedition und einem Zufallsfund. Werden Beweise im Rahmen einer Phising-Expedition gefunden, sind diese gänzlich unverwertbar, handelt es sich um Zufallsfunde dürfen die Beweise grds. verwertet werden (Art. 243 Abs. 1 StPO). Vorliegend nahm die Staatsanwaltschaft ein zuvor eingestelltes Verfahren wegen Mordes wieder auf. Im Rahmen der wiederaufgenommenen Untersuchung fand sie „zufällig“ Videos auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers, die Verkehrsregelverletzungen zeigten. Es handelte sich vorliegend nicht um eine Phishing-Expedition, da die Beweisaufnahme nicht „aufs Geratewohl“ (also völlig grundlos) getätigt wurde (ausführlich E. 1.4 f.). Die Wideraufnahme des Verfahrens war allerdings rechtswidrig. Das bedeutet, dass die Beweise nur nach Massgabe von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertet werden dürfen. Qualifiziert grobe und sogar grobe Verkehrsregelverletzungen können unter den Begriff der schweren Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO fallen (vgl. Beitrag vom 04.11.2023). In diesem Sinne wurde der Beschwerdeführer zu Recht wegen den SVG-Delikten verurteilt.


Urteil 6B_53/2024: I really love chattin‘

Der Beschwerdeführer wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er während 30 Sekunden auf der Autobahn auf seinem Handy durch einen Chatverlauf scrollte. Aus seiner muss ein Freispruch her, weil das Beäugen eines Chatverlaufs keine Verrichtung sei, die die Aufmerksamkeit von der Strasse weglenke. Es liegt auf der Hand, dass das Bundesgericht die Verurteilung bestätigte, denn während dem Scrollen fuhr der Beschwerdeführer auch Schlangenlinien. Er war abgelenkt.


Urteile 6B_778/2024, 6B_1241/2023 und 6B_256/2024: Aktueller Stand beim Abstand

Wer auf der Autobahn nur 0.39s (6B_778/2024) oder 0.52s (6B_1241/2023) Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug einhält, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung.

Im Urteil 6B_256/2024 war der Beschwerdeführer auf der A1L Richtung St. Gallen unterwegs. Er führ mit ca. 50km/h und hatte ca. drei Fahrzeuglängen Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug. Als dieses stark abbremste, verursachte der Beschwerdeführer eine Auffahrkollision. Er wurde wegen mangelndem Abstand zu einer Busse wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass auch auf der Autobahn die „1-Sekunden-Regel“ zur Anwendung kommen sollte, wenn die Verkehrsverhältnisse mit dem Verkehr innerhalb einer Ortschaft vergleichbar sind (vgl. dazu etwa Urteil 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das Bundesgericht kontert allerdings die Rechtsansicht des Beschwerdeführers mit Verweis auf die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand (E. 2.3). Egal unter welchen Umständen gilt auf der Autobahn grds. die „Halbe-Tacho-Regel“. Ein Fahrzeuglenker muss immer anhalten können, auch wenn sich der Bremsweg des vorfahrenden Fahrzeuges durch eine Kollision brüsk verkürzt.


Urteil 1C_260/2024: Psychische Krankheiten können vorsorglichen FA-Entzug rechtfertigen

Ein polizeilicher Bericht über den Aufenthalt einer Person in einer psychiatrischen Anstalt kann je nach Krankheitsbild Grund sein für die Anordnung eines vorsorglichen Entzuges und einer Fahreignungsabklärung. Das gilt auch dann, wenn es keinen Vorfall im Strassenverkehr gab, denn zum sicheren und jederzeit situationsadäquaten Führen eines Motorfahrzeuges im öffentlichen Strassenverkehr ist ein komplexes Zusammenspiel von psychischen Funktionen und Fähigkeiten erforderlich, das bei psychischen Erkrankungen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt sein kann. Zu diesen Funktionen gehören unter anderem die Fähigkeit zur realitätsgerechten Wahrnehmung und ungestörten Informationsverarbeitung und -bewertung; weiter zählt dazu die Fähigkeit, auf äussere Reize adäquat und zuverlässig zu reagieren sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten situationsbezogen und angemessen zu steuern.

Dabei kommt auch bei Berufsfahrern der Grundsatz zum Zuge, dass bei der Anordnung einer Fahreignungsabklärung die Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen werden muss, auch wenn dies einem Berufsverbot gleichkommt. Die Wirtschaftsfreiheit wird durch die Massnahme nicht verletzt, auch wenn der automobilistische Leumund bis dahin ungetrübt war.

Schluss mit Halterhaftung, Strafmilderung bei jungen Rasern

Heute widmen wir uns zwei französischen Urteilen des Bundesgerichts, die beide zur amtlichen Publikation vorgesehen sind. Mit einer Laienbeschwerde erhebt eine Person im Urteil 7B_545/2023 erfolgreich Beschwerde gegen eine Ordnungsbusse und im Urteil 6B_1372/2023 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Bestrafung von Rasern gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG.

Urteil 7B_545/2023: Halterhaftung gemäss Art. 7 Abs. 5 OBG (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil beantwortet die Frage, wo die Grenze der Halterhaftung im Ordnungsbussengesetzt zu finden ist. Wird das Verschuldensprinzip verletzt, wenn man eine Busse bezahlen muss, wenn klar feststeht, dass man als Halter selber nicht gefahren ist?

Weiterlesen

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen eine Ordnungsbusse von CHF 240, weil jemand ausserorts mit seinem Auto zu schnell gefahren ist. Er bringt vor, dass er an diesem Tag nicht gefahren ist, sondern sein Auto an vier Verwandte und einige Freunde ausgeliehen habe. Das sah übrigens auch das kantonale Gericht so, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass der Halter eines Fahrzeuges trotzdem gebüsst werden kann. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung der Unschuldsvermutung und dem Verschuldensprinzip, denn nach der Ansicht der kantonalen Instanz verkäme Art. 7 Abs. 5 OBG zu einer reinen Kausalhaftung – Du bist Halter, Du bezahlst Busse.

Auch wenn es sich beim Ordnungsbussenverfahren um ein stark vereinfachtes Verfahren für mindere Straftaten handelt, sind die allgemeinen Prinzipien des Strafgesetzbuches anwendbar. Bei Ordnungsbusse im Strassenverkehr, muss der Halter eines Fahrzeuges, auch juristische Personen, die Busse bezahlen, wenn er in seiner Verantwortlichkeit als Halter nicht mithilft, die lenkende Person zu identifizieren. Die Bestimmung wurde u.a. explizit für Geschwindigkeitsüberschreitungen konzipiert, wo die lenkende Person nicht immer leicht zu identifizieren ist. Wir kennen alle die verschwommenen Fotos der Blitzkästen.

Die Regelung ist verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung sowie den Grundsatz des Verbotes des Selbstbelastungszwangs (vgl. BGE 144 I 242 E. 1).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von Entscheiden in der Vergangenheit darin, dass die kantonalen Instanzen explizit festgehalten haben, dass der Beschwerdeführer das Auto nicht lenkte. Es stellt sich also die grundlegende Frage, ob es mit dem Verschuldensprinzip zu vereinbaren ist, wenn jemand eine Ordnungsbusse bezahlen muss für eine Widerhandlung, die er klar nicht begangen hat.

Das Bundesgericht setzt sich sodann vertieft mit Art. 7 Abs. 5 OBG auseinander, insb. im Lichte des Grundsatzes nulla poena sine culpa. Auch wenn die Materialien dafür sprechen, dass einem Fahrzeughalter eine Busse ohne weiteres auferlegt werden kann, spricht sich die Lehre generell dafür aus, dass eine reine „Kausalhaftung“ das Verschuldensprinzip verstösst. Die strafrechtliche Verantwortung kann auch nicht auf eine andere Person übertragen werden. Auch die bisherige Rechtsprechung hält fest, dass keiner Person eine Ordnungsbusse auferlegt werden kann, nur weil sie formeller Halter eines Fahrzeuges ist.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass Art. 7 Abs. 5 OBG eine Norm mit verwaltungsrechtlichem Charakter ist. Sie enthält eine subsidiäre Pflicht des Fahrzeughalters, den Behörden mitzuteilen, wer mit seinem Fahrzeug herumdüst. Die Norm dient damit der Verkehrssicherheit, aber die Regel kann nicht als Grundlage für die Verhängung einer Strafe betrachtet werden.

Da es damit nicht möglich ist, dem Halter die Ordnungsbusse aufzuerlegen, schlägt das Bundesgericht vor, dass man wiederum unter Strafe stellen sollte, wenn der Fahrzeughalter die Identität der lenkenden Person nicht bekannt gibt.

Kleine Sidenote: Interessanterweise stellt es auch fest, dass es in der Schweiz eine solche Regelung noch nicht gäbe, obwohl genau diese Pflicht in §15 des Verkehrsabgabegesetzes des Kantons Zürich festgehalten ist. Widerhandlungen werden gemäss §18 mit Busse bestraft. Das Bundesgericht selber hat über diese Regelung befunden in Urteil 6B_680/2007 sowie Urteil 6B_512/2008.


Urteil 6B_1372/2023: Der gute Leumund gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG (amtl. Publ.)

Dieses Urteil gibt die Antwort darauf, ob für die Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG vorausgesetzt ist, dass jemand tatsächlich seit 10 Jahren im Besitz einer Fahrerlaubnis ist oder nicht.

Weiterlesen

Wegen einem Raserdelikt im Mai 2022 wurde der Beschwerdegegner (geb. 2001) zunächst mit einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten bestraft. Diese Sanktion wurde von der Berufungsinstanz in Genf unter Anwendung von Art. 90 Abs. 3ter SVG in eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen geändert. Sie begründete dies damit, dass der Beschwerdegegner das Raserdelikt mit einem Motorrad auf der Autobahn beging, ohne dass Dritte konkret gefährdet wurden. Zudem war sein verkehrsrechtlicher Leumund ungetrübt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde, Art. 90 Abs. 3ter SVG sei verletzt worden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG bei Personen, die weniger lange als 10 Jahre im Besitz einer Fahrerlaubnis nicht angwendet werden kann, und schon gar nicht bei Inhabern eines Führerausweises auf Probe. So sehen es auch die Empfehlungen der SSK vor.

Gemäss Art. 90 Abs. 3ter SVG kann die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe nach einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung unterschritten werden, wenn der Täter nicht innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer, respektive mit Verletzung oder Tötung anderer verurteilt wurde. Vorliegend kommt der Grundsatz der lex mitior zur Anwendung, weil die am 1. Oktober 2023 eingeführte Bestimmung von Art. 90 Abs. 3ter SVG eine mildere Bestrafung von Rasern ermöglicht.

Da sich das Bundesgericht bis heute noch nicht vertieft mit Art. 90 Abs. 3ter SVG auseinandergesetzt hat, beschäftigt es sich nun vertieft mit der Norm nach dem Methodenpluralismus, aber natürlich ausgehend vom Gesetzestext und insb. wie die Zeitperiode von 10 Jahren vor der Tat zu verstehen ist.

Die Lehre sieht, in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, dass die Regel von Art. 90 Abs. 3ter SVG zu einer Ungleichbehandlung abhängig des Alters der betroffenen Person führt. Trotzdem lehnt sie die Empfehlungen der SSK ab, weil sie dem klaren Wortlaut der Bestimmung widersprechen. Den Materialen ist zu entnehmen, dass – nach einem politischen Hickhack – die Norm eingeführt wurde, damit die Gerichte bei der Bestrafung von Rasern ein grösseres Ermessen haben.

Auch wenn das Bundesgericht erkennt, dass Art. 90 Abs. 3ter SVG einige Probleme mit sich bringt (insb. bzgl. dem Alter der lenkenden Personen), hält es fest, dass der Gesetzgeber den Gerichten einen grösseren Ermessensspielraum einräumen wollte bei der Sanktionierung von Rasern. Auch der klare Text der Bestimmung setzt nicht voraus, dass jemand tatsächlich eine Fahrberechtigung hatte. Das macht auch Sinn, denn eine Person kann auch ohne Fahrberechtigung gegen das SVG verstossen.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Und die SSK muss wohl über die Bücher und ihre Empfehlungen anpassen.

Anklagegrundsatz und automatische Fahrzeugfahndung

Urteil 7B_286/2022: Anklagegrundsatz und der subj. Tatbestand bei SVG-Delikten (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wie genau muss die anklagende Strafbehörde den subjektiven Tatbestand bei SVG-Delikten umschreiben? Das Urteil liefert die Antwort.

Weiterlesen

Der Beschwerdeführer übersah bei einem Bahnübergang das Wechselblinklicht, worauf es trotz Notbremsung des Zuges zu einer Kollision kam. Er wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer Geldstrafe bestraft, wobei im Strafbefehl stand, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gehandelt habe. Auf Einsprache hin, wurde der Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen, vom Obergericht allerdings wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft, ohne dass es eine Verbesserung der Anklageschrift (Strafbefehl) gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO  gegeben hätte. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes.

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) muss der Sachverhalt in einer Anklage vor Gericht so genau umschrieben werden, dass die beschuldigte Person weiss, um was es eigentlich geht. Der Grundsatz ist damit fundamental für die Verteidigung der beschuldigten Person (E. 2.1.1). Gemäss Art. 100 Ziff. 1 SVG ist sowohl die vorsätzliche als auch fahrlässige Begehung von SVG-Delikten möglich. Äussert sich die Anklage nicht ausdrücklich darüber, ob eine Verkehrsregelverletzung vorsätzlich begangen wurde, darf von einer fahrlässigen Tatbegehung ausgegangen werden. Abgeleitet wird dies aus der allgemeinen Pflicht, dass Verkehrsteilnehmer immer aufmerksam sein müssen (E. 2.1.2).

Um es kurz zu machen: Im vorliegenden Fall entschied die Berufungsinstanz, dass sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig macht. Sie stützte sich dabei auf den Strafbefehl, welcher aber aber von Vorsatz ausging. Der Staatsanwaltschaft wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre Anklage zu verbessern. Damit verletzte die Vorinstanz aber Art. 405 Abs. 1 i.V.m. 339 Abs. 3 StPO.


Urteil 1C_63/2023: Automatische Fahrzeugfahndung (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich u.a. ausführlich mit den Voraussetzungen an die gesetzlichen Grundlagen, die für eine automatische Fahrzeugfahndung nötig sind.

Weiterlesen

Im Oktober 2022 beschloss der Kantonsrat des Kantons Luzern verschiedene Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes. Unter anderem schuf er in §4quinqies PolG/LU die gesetzlichen Grundlagen für die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle stellen sich verschiedene Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass es sich bei der automatischen Verkehrsüberwachung um einen schweren Eingriff in unter anderem die Grundrechte der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung handle und die vom Kanton Luzern geschaffene gesetzliche Grundlage zu wenig bestimmt ist. Die Bestimmung ermögliche nach Ansicht der Beschwerdeführer auch eine automatisierte Gesichtserkennung. Die Tragweite der Norm sei unklar. Zudem würden Daten auf Vorrat gespeichert, ohne dass sie für ein Strafverfahren relevant wären.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits in BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218 zur automatisierten Fahrzeugfahndung.

Die automatisierte Fahrzeugfahndung ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 2 BV garantierte informationelle Selbstbestimmung. Mit solchen System faktisch eine unbegrenzte Erhebung von Daten möglich, der unzählige Personen betrifft und ohne Anfangs-Verdacht erfolgt. Oder anders gesagt: Es besteht das Risiko eines Missbrauchs solcher Systeme. Deshalb müssen die gesetzlichen Grundlagen folgende Details hinreichend bestimmen:

– Verwendungszweck der Daten
– Umfang der Erhebung
– Aufbewahrung und Löschungsmodalitäten
– Bestimmung des Datenabgleichs
– Unverzügliche Löschung von unbenötigten Daten
– Es bedarf ein gewichtiges öffentliches Interesse
– Es darf keine Totalüberwachung vorliegen

Das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 3.2.2).

Im folgenden stellt sich die Frage, ob der Kanton Luzern seine Gesetzgebungskompetenz überschritt. Denn die Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgung (repressive Polizeiarbeit) liegt bei der Eidgenossenschaft, welche mit der StPO davon umfassend Gebrauch gemacht hat. Die Verantwortung für präventive Polizeiarbeit liegt hingegen bei den Kantonen, wobei sich diese Aufgabengebiete teils überschneiden können (dazu ausführlich E. 3.5). Der Kanton Luzern verzichtete vorliegend darauf, die Prävention als Zweck für die Fahrzeugfahndung in das Gesetz zu nehmen. Aus Sicht des Bundesgerichts liegt damit der Schwerpunkt der Fahrzeugfahndung bei der Strafverfolgung. Da hat der Kanton aber gar keine Gesetzgebungskompetenz. Es bräuchte eine Regelung in der StPO (E. 3.5.3). Die Norm ist unter dem Strich ein unverhältnismässiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Nicht nur ermöglicht sie eine automatisierte Gesichtserkennung, sie lässt ausdrücklich auch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Die generelle Speicherung der Daten auf Vorrat bis zu 100 Tagen verstösst ebenfalls gegen die obgenannten Voraussetzungen. Und schliesslich fehlen noch genauere Bestimmungen, mit welchen Datenbanken ein Datenabgleich erfolgen darf (E. 3.6).

Die entsprechende Norm (und weitere) wird aufgehoben.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_1346/2023: Pflichtwidriges Verhalten und Vereitelung

Wer nach einem Unfall mit Sachschaden, nach Hause geht, weil er kein Mobiltelefon dabei hat und dann aber zunächst zur Toilette geht und ein Gläschen Gin trinkt bzw. nicht sofort die Polizei informiert, macht sich gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG strafbar (E. 3). Wer zudem einen Verkehrsunfall verursacht, muss immer mit einer Atemalkoholprobe rechnen. Genehmigt man sich nach dem Unfall ein Gläschen, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG.

Urteil 1C_599/2024: Unvorsichtiger Spurwechsel

Wer bei einem Spurwechsel mit dem Auto wegen fehlender Aufmerksamkeit beinahe mit einem Scooter kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung.

Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

Weiterlesen


Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

Weiterlesen


Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

Weiterlesen


Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

Weiterlesen


Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

Weiterlesen

Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

Weiterlesen

Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

Weiterlesen

In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

Weiterlesen

Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Jagd auf Verkehrssünder mit Drohne und mehr

Urteil 1C_683/2023: Verfolgungsjagd mit Drohne

Drohnen sind schon lange in der Gesellschaft angekommen. Sie werden für „Dronies“, also Selfies mit Drohne, eingesetzt, stören Badegäste am Traumstrand oder schwirren den Touristen auf der Ski-Piste nach. Neuerdings werden sie auch von der Polizei zur Verfolgung von SVG-Delikten eingesetzt. Und genau daran stört sich der Beschwerdeführer. Ihm wurde wegen einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung von 57.6 bzw. 95.6 km/h ausserorts der Führerausweis vorsorglicherweise entzogen. Seine Fahrt wurde von der Polizei mit einer Drohne aufgenommen. Die Geschwindigkeit wurde anhand des Videos mit einer Weg-Zeit-Berechnung eruiert. Die Strecke mass die Polizei ganz altmodisch mit einem Messrad. Die Dauer der Fahrt errechnete die Polizei anhand der Videoaufnahmen (zur Berechnung E. 3.2). Aus Sicht des Beschwerdeführers wurde der Sachverhalt willkürlich festgestellt. Er bringt vor, dass die Quarzuhr der Drohne für die Zeitberechnung, sowie die Satelliten, mit welchen die Quarzuhr eingestellt wird, nicht vom METAS geprüft und geeicht sind. So verlangt es grundsätzlich Art. 5 der Geschwindigkeitsmessmittel-Verordnung. Auch die Messung einer Wegstrecke mittels Messrad sei nirgends gesetzlich geregelt. Da allerdings bei vorsorglichen Massnahmen nur die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten gerügt werden kann (Art. 98 BGG), wird auf die Rügen zur Verletzung von Bundesrecht nicht eingegangen.

Zulässig ist allerdings die Rüge der Willkür. Mit seinen Vorbringen alleine gelingt es dem Beschwerdeführer aber nicht, eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung darzulegen, denn allfälligen Messungenauigkeiten wurden mit Sicherheitsmargen Rechnung getragen. Auch dass das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist, hindert die zuständige Behörde nicht daran, Sicherungsmassnahmen anzuordnen, denn bei diesen greift die Unschuldsvermutung bekanntlich nicht (E. 3.4).

Fazit: Ein Drohnenvideo der Polizei kann also anlass dazu geben, dass ernsthafte Zweifel an der charakterlichen Fahreignung einer Person bestehen.

Urteil 6B_178/2024: Die mündliche Berufungsverhandlung (gutgh. Beschwerde)

In diesem Urteil geht es um eine strafprozessuale Thematik, die die Berufungsinstanzen immer wieder vor Probleme stellt (siehe auch den Beitrag vom 3. Januar 2021). Da dieses Thema hier auch schon gefeatured wurde, machen wirs kurz. Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich und kann gemäss Art. 406 StPO nur in eng begrenzten Fällen schriftlich durchgeführt werden, nämlich grundsätzlich dann, wenn der Sachverhalt nicht umstritten ist. Ist dieser umstritten, müssen für die schriftliche Durchführung eines Berufungsverfahrens folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (Art. 406 Abs. 2 StPO):

1. Schriftliches Einverständnis der Parteien.
2. Anwesenheit der beschuldigten Person nicht nötig.
3. Urteil eines Einzelgerichts ist Gegenstand der Berufung.
4. Keine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

Im vorliegenden Fall teilte die Berufungsinstanz mit, dass das Verfahren mündlich durchgeführt und der Beschwerdeführer vorgeladen werde. Entgegen dieser Ankündigung wechselte die Berufungsinstanz später aber ohne Orientierung der Parteien in das schriftliche Verfahren und fällte ihr Urteil. Damit verletzte es den Gehörsanspruch des Beschwerdeführers sowie den Grundsatz von Treu und Glauben und das Gebot der Verfahrensfairness. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Falsche Geschwindigkeitsmessung!

Urteil 7B_246/2022: Bitte etwas mehr Reflexion! (gutgh. Beschwerde)

Schnellfahren gehört zur Massendelinquenz im Strassenverkehr. Die pragmatische Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Geschwindigkeitsüberschreitung sowie der Schematismus zum Schnellfahren sorgen dafür, dass Beschwerden bei Geschwindigkeitsüberschreitungen regelmässig abgelehnt werden. Umso erstaunlicher ist es, dass es i.c. dem Beschwerdeführer gelungen ist, vor Bundesgericht zu reüssieren. Aus seiner Sicht wurde die Messung falsch durchgeführt, denn auf den Fotos des mobilen Blitzkastens sei eine Reflexion zu sehen, die die Messung fehlerhaft macht.

Im kantonalen Verfahren verlangte der Beschwerdeführer also ein Gutachten darüber, ob die Messung korrekt war und damit auch als Beweis verwertbar. Indem aber die kantonalen Behörden dieses Gutachten nicht einholten, wurde aus Sicht des Beschwerdeführers aber das rechtliche Gehör sowie das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verletzt.

Kontrollen im Strassenverkehr richten sich nach der Strassenverkehrs-Kontrollverordnung (Art. 1 SKV). Bei diesen Kontrollen können technische Hilfmittel, wie eben Blitzkästen bei Geschwindigkeitsmessungen, eingesetzt werden, wobei das ASTRA die Einzelheiten zu diesen Messungen regelt (Art. 9 SKV). Für Geschwindigkeitsmessungen hat das ASTRA die „Weisung über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ vom 22. Mai 2008 erlassen. In Ziffer 6.1 heisst es zum Einsatzort unter anderem:

„Radargeräte sind so aufzustellen und zu betreiben, dass Reflexionsfehlmessungen, verursacht durch metallische Flächen oder Gitter, vermieden werden. Dieser Möglichkeit ist bei der Aufstellung und Wahl der Empfindlichkeit des Gerätes durch die Kontrollperson besondere Beachtung zu schenken.“

Im vorliegenden Fall war erstellt, wo der Blitzkasten stand (E. 3.4.1), das Gerät war geeicht und funktionierte korrekt. Ebenso war die Messung ohne Zweifel dem Auto des Beschwerdeführers zuzuordnen (E. 3.4.3).

Nun kommt aber die Krux zur Reflexion: Der Beschwerdeführer machte zu Recht geltend, dass einer der Polizisten angab, dass die Radarbilder eine geringfügige Reflexion zeigten, die mutmasslich wegen einer Kilometrierungstafel entstanden. Da Reflexionen gemäss den obigen Weisungen zu einer Fehlmessung führen können, verletzte die Vorinstanz das rechtliche Gehör, indem sie auf dieses Vorbringen des Beschwerdeführers nicht weiter einging. Die Beschwerde wird gutgeheissen, damit ein Gutachten Aufschluss darüber geben kann, ob die Messung der Geschwindigkeit fehlerhaft war.

Beispielbild

Beispielbild von hier

Grundsatz der Formstrenge im Strafverfahren und weitere Urteile

Urteil 7B_211/2022: Einstellen oder nicht, das ist hier die Frage (gutgh. Beschwerde).

Dieses strafprozessual ziemlich komplexe Urteil beantwortet die Frage, was passiert, wenn ein Sachverhalt sowohl Übertretungs- als auch Vergehenstatbestände erfüllt, die Übertretungen aber bereits verjährt sind. Darf man dann für das Vergehen noch bestraft werden, wenn der Sachverhalt der Übertretungen in engem Zusammenhang stehen mit jenem des Vergehens? Konkret geht es um das Verursachen eines Bagatellunfalls (Art. 90 Abs. 1 SVG), dem darauffolgenden pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG) sowie der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG).

Weiterlesen

Der Beschwerdeführer touchierte mangels Aufmerksamkeit beim Rückwärtsfahren auf einem Parkplatz ein anderes Fahrzeug, wobei Sachschaden entstand. Danach entfernte er sich von der Unfallstelle und trank zuhause Bier und wohl auch ein bisschen Schnaps. Mit Strafbefehl wurde er mit einer bedingten Geldstrafe bestraft. Im gerichtlichen Verfahren wurde die Verjährung der Übertretungs-Tatbestände, also dem Verursachen der Bagatellkollision (Art. 90 Abs. 1 SVG) sowie dem pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG), festgestellt. An der Verurteilung wegen der Vereitelung wurde aber festgehalten.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass das Strafverfahren mit der Verjährung der Übertretungs-Tatbestände hätte eingestellt werden müssen. Indem die Vorinstanz dies nicht tat, verletzte sie Art. 329 Abs. 4 und 5 StPO sowie den in Art. 2 Abs. 2 StPO geregelten Grundsatz der Formstrenge. Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass die Sachverhalte des Unfalles, des pflichtwidrigen Verhaltens und der Vereitelung so eng miteinander verknüpft sind, dass eine Einstellung nicht möglich war. Dies hätte den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzt. Denn wäre bzgl. dem Unfall und dem pflichtwidrigen Verhalten eine (Teil)Einstellung erfolgt, wäre eine Verurteilung wegen der Vereitelung nicht mehr möglich gewesen.

Kann kein Urteil ergehen, muss das Gericht das Verfahren einstellen. Dies ist der Fall, wenn ein Prozesshindernis besteht (Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO). Der Eintritt der Verfolgungsverjährung stellt ein solches Prozesshindernis dar und muss von Amtes wegen geprüft werden. Gemäss Art. 329 Abs. 5 StPO kann die Einstellung zusammen mit dem Urteil ergehen, wenn ein beim Gericht hängiges Verfahren nur in einzelnen Anklagepunkten eingestellt werden soll (E. 2.3.1).

Eine Teileinstellung ist aber nur dann möglich, wenn das Gericht mehrere Lebensvorgänge beurteilt, die für sich einer separaten Erledigung zugänglich sind. Wenn es nur um die Beurteilung wegen einem Lebenssachverhalt geht, ist eine teilweise Einstellung nicht möglich. Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Das würde den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzen (E. 2.3.2 und E. 2.3.3). Im Strafverfahren gilt zudem der Grundsatz der Formstrenge, d.h. Strafverfahren können nur nach den von der StPO vorgesehen Regeln erledigt werden (dazu ausführlich E. 2.3.4).

Das Bundesgericht stellt sich auf den Standpunkt, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanz die verschiedenen Tatvorwürfe zwar Teil eines übergeordneten Gesamtgeschehens bilden. Trotzdem lassen sich die einzelnen Vorwürfe klar gegeneinander abgrenzen. Zuerst der Unfall, dann das pflichtwidrige Verhalten und schliesslich die Vereitelung durch Konsum alkoholischer Getränke zuhause. Damit wäre wohl eine Teil-Einstellung möglich gewesen. Dies hätte das erstinstanzliche Gericht aus Sicht des Bundesgericht machen müssen. Indem dieses es unterliess, das Strafverfahren bzgl. der verjährten Übertretungen einzustellen, verletzte es den Grundsatz der Formstrenge (E. 2.4.4). Zudem wurde vorliegend auch die Unschuldsvermutung verletzt. Denn bei der Begründung der Vereitelung führte die Vorinstanz aus, dass der Beschwerdeführer den Bagatellunfall schuldhaft verursachte, obwohl er dafür nie rechtskräftig verurteilt wurde.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache zurückgewiesen. Bei den Übertretungen muss die Vorinstanz das Strafverfahren einstellen. Bzgl. Vereitelung muss sie prüfen, ob eine Verurteilung unter Beachtung des Anklagegrundsatzes und der Unschuldsvermutung noch möglich ist.

Honorable Mentions

Unter dieser Rubrik werden einfach die Urteile aufgelistet, die keine augenöffenden Inhalte bieten. Sie dient bestenfalls dazu, dass man die eigene Urteilssammlung auf den neuesten Stand bringen kann. Es besteht dabei auch kein Anspruch auf Vollständigkeit…

Urteil 1C_482/2023: Abstand

Wer mit auf der Autobahn dem vorfahrenden Fahrzeug bei 90 km/h mit einem Abstand von 20 Metern folgt (entspricht 0.8 s), begeht eine mittelschwere Widerhandlung. Diese wird mit mind. einem Monat Führerscheinentzug sanktioniert. Der Entscheid enhält in E. 2.2 eine gute Auflistung der Rechtsprechung zu verschienen Fällen von Abstandsunterschreitungen.

Urteil 6B_55/2024: Geschwindigkeit

Wer innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 28 km/h überschreitet, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG. In E. 2.3. äussert sich das Bundesgericht exemplarisch zum allseits bekannten und in der Rechtsprechung fest verankerten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten. Der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfordert eine Rücksichtslosigkeit der beschuldigten Person. Diese liegt auch vor, wenn der Täter die gefahrene Strecke noch als Ausserortsstrecke mit einem Tempolimit von 80 km/h kannte und mangels genügender Aufmerksamkeit übersah, dass sich die Signalisation bzgl. Geschwindigkeit auf der gefahrenen Strecke zwischenzeitlich änderte.

Urteil 7B_221/2022: Das Handy am Steuer

Wer während dem Autofahren für ca. 3 Sekunden auf das Handy schaut und die Navigations-App mit dem Daumen bedient, begeht eine einfache Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) durch Vornahme einer Verrichtung, die die Bedienung des Fahrzeuges erschwert (Art. 3 Abs. 1 VRV). Dieser Entscheid hilft weiter dabei abzugrenzen, wann das Verwenden von Handys beim Autofahren als einfache Verkehrsregelverletzung zu bestrafen ist und wann lediglich eine Ordnungsbusse vorliegt. Eine Ordnungsbusse gibt es z.B. wenn man bei günstigen Verkehrsverhältnissen für zwei Sekunden auf das Handy schaut (vgl. dazu den Beitrag vom 31. Mai 2023 zu Urteil 6B_27/2023).

Ihr macht da nicht mit!

Urteil 7B_167/2022: Ausstand einer ganzen Behörde

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen eines Raserdelikts. Das Obergericht des Kt. ZH ordnete im Verfahren ein Gutachten betreffend die Geschwindigkeitsmessung an. Für die Erstattung des Gutachtens wurden Testfahrten mit dem Originalradargerät auf dem Flughafen Dübendorf organisiert, wofür der Gutachter Mitarbeiter der Kantonspolizei Zürich als Hilfspersonen beizog.

Das passt dem Beschwerdeführer gar nicht. Er ist der Meinung, dass die Polizei ein Interesse daran hat, dass das Gutachten gegen ihn ausfalle und will deshalb, dass die Mitarbeiter der Kantonspolizei Zürich und insb. deren Verkehrsabteilungen in Ausstand treten müssen. Nur so könne eine faire Begutachtung erfolgen. Er beruft sich dabei auf Art. 56 StPO. Die Polizisten hätten aus seiner Sicht ein Eigeninteresse (lit. a) am Ausgang des Strafverfahrens, seien in der gleichen Sache tätig gewesen (lit. b) und es gäbe auch noch andere Gründe für den Ausstand der gesamten Polizei (lit. f). Aus Sicht der Vorinstanz ging es aber nur um die Nachstellung der automatischen Erfassung der gefahrenen Geschwindigkeit durch das Messgerät, worauf Polizisten keinen Einfluss haben. Zudem sei die Mitwirkung der Polizei bei den Testfahrten nachvollziehbar.

Der Beschwerdeführer übersieht in seiner Rüge, dass sich Ausstandsbegehren nur gegen Einzelpersonen, aber nicht gegen ganze Behörden richten können. Wenn man ein Ausstandsbegehren gegen eine Behörde richtet, muss trotzdem ersichtlich sein, welches Mitglied der Behörde konkret befangen sein soll. Bei der Erstellung des Gutachtens waren zudem andere Polizisten behilflich, als jene, die die fragliche Geschwindigkeitsmessung durchführten. Eine Vorbefassung gemäss Art. 56 Abs. 1 lit. b StPO liegt damit nicht vor (E. 3).

Auch ein Eigeninteresse müsste bei einer Einzelpersonen vorliegen, damit ein Ausstandsgesuch erfolgreich sein kann. Die generelle Behauptung, dass die Polizei daran interessiert sei, mutmasslich schlechte Geschwindigkeitsmessgeräte im Einsatz zu halten, reicht natürlich nicht, um ein Eigeninteresse gemäss Art. 56 Abs. 1 lit. a StPO zu begründen (E. 4).

Und schliesslich bestand entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers auch kein anderer Ausstandsgrund gemäss Art. 56 Abs. 1 lit. f StPO. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass die Polizei für die verfahrensleitende Staatsanwaltschaft Aufträge ausführe und deshalb der Anschein einer Abhängigkeit und/oder Parteilichkeit bestehe. Da aber die Kantonspolizisten vom Gutachter als Hilfspersonen herbeigezogen wurden, liegt eine solche Parteilichkeit eben nicht vor. Zudem können Mitglieder von Polizeikorps gemäss Art. 183 Abs. 2 StPO als Sachverständige eingesetzt werden.

Bonus: Parkbusse von CHF 40 aufgehoben

Urteil 7B_205/2022: Nicht genau hingeschaut

In diesem kuriosen Fall wird eine Parkbusse von CHF 40 aufgehoben, weil der Sachverhalt willkürlich festgestellt wurde. Die Zivilperson, welche im oberen Fricktal die Busse ausstellte, sagte vor Gericht aus, dass sie sich die parkierten Fahrzeuge sowie deren Radstellungen ohne Notizen merken könne und deshalb genau wusste, dass der Beschwerdeführer zu lange parkierte. In einem vergleichbaren Verfahren sagte die gleiche Person allerdings diametral das Gegenteil, nämlich dass sie sich nie merke welche Autos wo und wie parkieren würden. Die Akten dieses anderen Verfahrens wurde aber trotz Antrags des Beschwerdeführers nicht beigezogen, damit die Glaubhaftigkeit der Aussagen der die Bussen austellenden Person hätte überprüft werden können. Damit wurde der Untersuchungsgrundsatz verletzt und der Sachverhalt willkürlich festgestellt. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Grobe Verkehrsregelverletzung als „schwere Straftat“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO

Urteil 6B_821/2021: Wenn das Rasen in der Familie liegt (tlw. gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, welche Anforderungen an Zwangsmassnahmen wie Hausdurchsuchungen zu stellen sind. Zudem konkretisiert es die Rechtsprechung dahingehend, was im SVG-Bereich eine „schwere Straftat“ ist, welche eine Verwertung unrechtmässig erlangter Beweise trotzdem möglich macht (Art. 141 Abs. 2 StPO), insb. wenn es sich bei der schweren Tat um eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. ein Vergehen handelt.

Der Vater des Beschwerdeführers wurde von der Polizei dabei erwischt, wie er mit einem Motorrad ausserorts die Geschwindigkeit um 79km/h überschritt. Die Staatsanwaltschaft ordnete danach eine Hausdurchsuchung an, bei welcher ein Go-Pro gefunden wurde, auf welcher Video-Aufnahmen diverser SVG-Delikte des Beschwerdeführers gespeichert waren, u.a. auch Raserdelikte. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass die Hausdurchsuchung nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil das Raserdelikt seines Vaters erwiesen war und es keinen hinreichenden Anfangsverdacht auf weitere Delikte gab. Die Hausdurchsuchung war aus seiner Sicht eine „fishing expedition“, weshalb die gefundenen Videos nicht als Beweise verwertet werden dürfen. Die kantonalen Instanzen allerdings waren den Meinung, dass Raserfahrten fast immer auf weitere Straftaten schliessen lassen und dass es notorisch sei, dass Raser ihre Fahrten oftmals audiovisuell festhalten, weshalb die Hausdurchsuchung rechtens war.

Eine Hausdurchsuchung ist eine Zwangsmassnahme, weshalb für ihre Durchführung die Voraussetzungen von Art. 197 Abs. 1 StPO erfüllt sein müssen. Insb. ist für die Anordnung ein hinreichender Tatverdacht vorausgesetzt. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können. Eine reine Vermutung, ein Generalverdacht oder eine Beweisaufnahme aufs Geratewohl genügen zur Begründung einer Hausdurchsuchung jedoch nicht. Werden bei einer rechtmässig angeordneten Hausdurchsuchung Beweismittel gefunden, die auf weitere Straftaten hinweisen, kann ohne Weiteres ein neues Strafverfahren hinsichtlich der Zufallsfunde eröffnet werden (Art. 243 StPO). Bestand allerdings für die ursprüngliche Zwangsmassnahme, i.e. der Hausdurchsuchung, kein genügender Anfangsverdacht, gilt diese als „fishing expedition“. Auf diese Weise erlangte Beweismittel sind grds. nicht verwertbar (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Um es kurz zu machen: Das Raserdelikt des Vaters des Beschwerdeführers war grds. bewiesen. Es gab keine konkrete Hinweise oder Indizien auf weitere SVG-Delikte. Gemäss Vorinstanz wurde die Hausdurchsuchung aufgrund „unspezifischer Vermutungen“ angeordnet. Das reicht allerdings nicht aus, um „auf gut Glück“ nach Beweisen für weitere SVG-Delikte des Vaters zu forschen. Die Hausdurchsuchung war insofern unrechtmässig und bei den Video-Aufnahmen der SVG-Delikte des Beschwerdeführers handelt es sich somit um „fruits of a poisonous tree“, also grds. nicht verwertbare Beweismittel (E. 1.4). Gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise aber trotzdem verwertet werden, wenn damit schwere Straftaten aufgeklärt werden können. In erster Linie kommen bei der schweren Straftat Verbrechen in Frage. Allerdings wird die schwere Straftat nicht abstrakt, sondern an den Umständen des Einzelfalles eruiert. Auch Vergehen können schwere Straftaten gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO sein (E. 1.5.1).

Die sichergestellten Video-Aufnahmen beinhalten div. SVG-Delikte. Der Beschwerdeführer wurde im Strafverfahren u.a. wegen mehrfacher qualifiziert grober, mehrfacher grober Verkehrsregelverletzung sowie dem Fahren ohne Berechtigung verzeigt. Für die qualifiziert groben Verkehrsregelverletzungen (Tempoexzess ausserorts um 62km/h auf einer kurvigen und unübersichtlichen Bergstrasse sowie Tempoexzess innerorts um 57km/h) können die Videoaufnahmen ohne weiteres verwendet werden, da es sich dabei um schwere Straftaten handelt (E. 1.5.3).

Teilweise anders verhält es sich bei den groben Verkehrsregelverletzungen. Eine solche wurde bisher vom Bundesgericht noch nicht als „schwere Straftat“ bewertet. Zwei der Vergehen des Beschwerdeführers hebt das Bundesgericht hervor:

Just nach dem oben erwähnten Raserdelikt (Tempoexzess um 57km/h) überholte der Beschwerdeführer ein drittes Fahrzeug und beendete das Überholen nur knapp vor einem entgegenkommenden Motorradfahrer. Bei einer anderen Fahrt fuhr der Beschwerdeführer in einer unübersichtlichen Rechtskurve vollständig auf der linken Fahrbahn. Wäre ein Fahrzeug entgegengekommen, wäre eine Kollision unausweichlich gewesen. Dabei fuhr er auch ohne Berechtigung. Auch wenn die Vorinstanz diese beiden Manöver als grobe Verkehrsregelverletzung qualifizierte, handelt es sich dabei um „schwere Straftaten“. Zwar unterscheiden sich die Tatbestände von Art. 90 Abs. 2 und 3 SVG hinsichtlich des Ausmasses der Rechtsgutgefährdung. Während die grobe Verkehrsregelverletzung eine ernstliche Gefahr voraussetzt, fordert Abs. 3 das Risiko eines Unfalles mit Todesopfern oder Schwerverletzten. Beide oben genannten groben Verkehrsregelverletzungen hätten aber schlimme Folgen haben können. Bei einer Frontalkollision mit dem Motorradfahrer bzw. einem anderen Verkehrsteilnehmer auf der linken Fahrbahn ist es notorisch, dass es Schwerverletzte oder Tote geben kann. Deshalb betrachtet das Bundesgericht auch diese groben Verkehrsregelverletzungen als „schwere Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO. Die Videoaufnahmen durften also bzgl. diesen Vergehen (und dem Fahren ohne Berechtigung) verwertet werden, nicht aber für die übrigen groben Verkehrsregelverletzungen, weil es bei diesen keine „besonderen Vorkommnisse“ gab (E. 1.5.4).