Der Zwei-Sekunden-Blick

BGE 6B_27/2023: Das Handy im Auto (gutgh. Beschwerde)

Das Mobiltelefon ist heutzutage allgegenwärtig – leider auch am Steuer. Damit befasst sich dieses Urteil, wobei unser höchstes Gericht exemplarisch seine Rechtsprechung zur Aufmerksamkeit im Strassenverkehr zusammenfasst.

Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen einen Strafbefehl, mit welchem sie mit CHF 250 gebüsst wurde. Sie fuhr innerorts, wobei sie mit ca. 50 km/h auf einer Strecke von ca. 20 Metern während ein bis zwei Sekunden ihr Kopf senkte und auf ihr Mobiltelefon blickte. Es herrschte mittleres Verkehrsaufkommen. Die Strafbehörden warfen ihr vor, eine Verrichtung vorgenommen zu haben, welche die Bedienung des Fahrzeuges erschwerte (Art. 3 Abs. 1 VRV). Die Beschwerdeführerin sieht das natürlich ganz anders. Ihr Verhalten sei gar nicht tatbestandsmässig, denn ihre Aufmerksamkeit sei durch den Blick aufs Handy nicht beeinträchtigt worden. So sei auch die Nutzung der Fingerprint-Funktion oder der Face-ID zum Entsperren des Mobiltelefons nicht verboten. Auch wenn das blosse Halten eines Mobiltelefons erlaubt ist (vgl. Urteil 6B_1183/2014), war die Vorinstanz der Meinung das insb. durch das Senken des Kopfes die Aufmerksamkeit beeinträchtigt wurde.

Sein Auto beherrscht man nur, wenn man sich aufmerksam dem Verkehr widmet (Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den Einzelfallumständen. Ist auf der Strasse „weniger los“, werden an die Aufmerksamkeit weniger hohe Ansprüche gestellt. Ob eine Verrichtung die Beherrschung über das Fahrzeug verunmöglicht, hängt von der Verkehrssituation ab und von der Dauer der Verrichtung. Eine weitere Rolle spielt es, ob man seine Körperhaltung ändern muss. Faustregel: Je kürzer die Verrichtung, desto eher legal (zum Ganzen E. 1.3).

Kasuistik – Erlaubt:
Urteil 1C_470/2020 E. 4.2: Blick auf Armaturenbrett, wenn Verkehr ok
Urteil 1C_183/2016 E. 2.1: Blick auf Uhr oder internes Navi, wenn Verkehr ok
Urteil 6P.68/2006 E. 3.3: Zeitunglesen im Stau bei Stillstehen erlaubt
Urteil 6B_1183/2014 E. 1.5: Handy für 15s halten auf Autobahn bei 100km/h erlaubt

Nicht erlaubt:
Urteil 6B_666/2009 E. 1.3: Längerer Blick auf Handy zum SMS schreiben
Urteil 1C_183/2016 E. 2.6: Navi beim Steuer halten und länger draufblicken
Urteil 1C_422/2016 E. 3.3: 7s Blick auf ein Blatt Papier
Urteil 6B_894/2016 E. 3.3: Rechts Mobilgerät bedienen, linke Hand am Kopf
Urteil 6B_1423/2017 E. 3: Lasermessgerät drei Sekunden bedienen
Urteil 1C_566/2018 E. 2.5.2: Papier auf Lenkrad beschreiben

Die Beschwerdeführerin hatte das Lenkrad im Griff. Auch wenn ihr Kopf leicht geneigt war, hatte sie den Verkehr noch im Blick. Die Verrichtung dauerte nur sehr kurz. Das Bundesgericht vergleicht den Blick mit einem Blick in die Seiten- oder den Rückspiegel, welcher auch in Innenstädten wegen Velos und Fussgängern nötig ist. Sofern es also die Verkehrssituation – wie vorliegend – zulässt, erfüllt ein kurzer Blick aufs Handy den Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 VRV nicht (ausführlich E. 1.5).

Das Bundesgericht weist die Sache aber an die Vorinstanz zurück mit folgendem interessanten Hinweis:

Gemäss Ziffer 311 der Bussenliste in der OBV wird die Verwendung eines Telefons während der Fahrt mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 bestraft. „Verwenden“ bedeutet aus Sicht von unseren Bundesrichtern nicht nur das Telefonieren, sondern auch die Nutzung von weiteren Funktionen, wie das Verfassen von Kurznachrichten oder E-Mails oder auch deren Lektüre (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Die Beschwerdeführerin wird wohl mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 davonkommen.

Kleiner Wochenrückblick

Diese Woche sind einige Urteile gefallen, wobei aber keine Blockbuster darunter sind. Deshalb fassen wir diese Urteile summarisch zusammen:

Urteil 6B_1430/2021: Rechtliches Gehör im Berufungsverfahren (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird eine einfache Verkehrsregelverletzung vorgeworfen, weil er im November 2017 mit einem Sattelschlepper einen Selbstunfall verursachte. Nachdem er bereits im Urteil 6B_1177/2019 wegen willkürlicher Beweiswürdigung vor Bundesgericht reüssierte, gelangt er in dieser Sache ein weiteres Mal vor Bundesgericht. Er rügt dabei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die kantonale Berufungsinstanz zunächst eine mündliche Berufungsverhandlung ansetzte und dann doch plötzlich das schriftliche Verfahren anordnete.

Die Berufungsverhandlung ist grds. mündlich durchzuführen. Das schriftliche Verfahren kann nur in den Fällen von Art. 406 StPO angeordnet werden, z.B. wenn Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils bilden und keine reformation in peius droht (Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO). Die schriftliche Durchführung des Verfahrens muss mit Art. 6 EMRK zu vereinbaren sein, d.h. sich auf Fragen beschränken, die eine Anhörung der beschuldigten Person unnötig erscheinen lassen. Das Gericht muss dies von Amtes wegen prüfen (zum Ganzen E. 1.2.1). Das schriftliche Verfahren richtet sich nach Art. 406 Abs. 3 StPO, d.h. die appellierende Person muss die Gelegenheit haben, ihre Berufung schriftlich zu begründen. Es ist offensichtlich, dass die Gerichte im Rahmen des rechtlichen Gehörs die beschuldigte Person anhören müssen. Ist ein kantonales Urteil mangelhaft begründet, weist das Bundesgericht diesen zurück (Art. 112 Abs. 3 BGG).

Im vorliegenden Fall ordnete die Vorinstanz zunächst eine mündliche Verhandlung an, verlangte vom Beschwerdeführer eine schriftliche Berufungsbegründung, wobei sie darauf hinwies, dass dieser an der Verhandlung noch Ergänzungen anbringen könne. Der Beschwerdeführer reichte daraufhin eine „summarische“ Berufungsbegründung ein. Darauf wechselte die Vorinstanz in schriftliche Verfahren, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, sich zu äussern oder seine Berufungsbegründung zu ergänzen. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Urteil 6B_26/2022: Kein milderes Recht für Personenwagen mit Anhänger

Seit Januar 2021 dürfen Personenwagen mit Anhänger auf der Autobahn 100 km/h schnell fahren (Art. 5 Abs. 2 lit. c VRV). Der Beschwerdeführer überschritt im März 2019 auf der Autobahn mit einem Anhänger die damals für diese Fahrzeugkombination geltende Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 36 km/h, wofür er zunächst wegen grober, dann im Rechtsmittelverfahren wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse von CHF 600.00 bestraft wurde. Da mittlerweile die Bestimmungen für Personenwagen mit Anhänger änderten, verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer Ordnungsbusse von CHF 180.00. Da man mit Anhängern bis 3.5 t heute 100 km/h fahren darf, überschritt er die Geschwindigkeit nach heutigem und milderem Recht nur noch um 16km/h, womit aus seiner Sicht eine Ordnungsbusse fällig würde (Ziffer 303.3.d).

Die Anwendung des milderen Rechts nach Art. 2 Abs. 2 StGB gilt nicht uneingeschränkt. Damit die lex mitior angewendet wird, muss die Gesetzesänderung aufgrund einer ethischen Neubewertung des verbotenen Verhaltens erfolgt sein (zum Ganzen E. 1.2.2; s. auch der Beitrag vom August 2022). Auch wenn das Bundesgericht der Begründung der Vorinstanz nicht folgt (E. 1.3), weist es die Beschwerde dennoch ab, denn aus seiner Sicht erfolgte die Änderung der Höchstgeschwindigkeit für Anhänger nicht wegen einer „ethischen Neubewertung“. Es verweist auch auf einen älteren Entscheid, nach welchem die Änderung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn nicht bedeutet, dass Widerhandlungen vor der Änderung nicht trotzdem bestraft werden müssen (BGE 123 IV 84 E. 3b).

Urteil 6B_1201/2021: Die Havarie des modernen Autos

Der Beschwerdeführer überschritt innerorts die Geschwindigkeit um 27 km/h, wofür er wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch, subsidiär die Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, weil sein Fahrzeug einer „Havarie“ unterlegen sei. Das Bundesgericht verweist natürlich zunächst auf den bei Geschwindigkeitsüberschreitungen geltenden Schematismus, wonach die vorliegende Schnellfahrt grds. den objektiven und subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfüllt. Liegen allerdings aussergewöhnliche Umstände vor, ist es möglich, dass der Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt ist.

Der Beschwerdeführer behauptete, dass die „automatische Geschwindigkeitserkennung“ seines Autos, auf welche er sich bis jetzt immer verlassen konnte, nicht funktionierte und er, weil er so total von der „Havarie“ seines Autos überrascht war, erst einige Sekunden später reagieren konnte. Sein Verhalten war insofern nicht rücksichtslos, womit der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht erfüllt sei. Einen Beweis für die „Havarie“ brachte der Beschwerdeführer allerdings nicht bei. Ebensowenig wandte er sich nachher an einen Garagisten. Auch wenn sein Fahrzeug eine Fehlfunktion erlitt, hätte der Beschwerdeführer viel schneller reagieren müssen, denn man muss trotz Assistenzsysteme stets aufmerksam sein und Signale beachten.

Verantwortung des Geschäftsführers

Urteil 6B_1066/2022: Tödlicher Unfall beim Kuppeln

Dieses Urteil befasst sich mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Geschäftsführers eines Logistik-Unternehmens, wenn einer seiner Mitarbeiter bei einem Unfall ums Leben kommt. Ausgangslage ist ein tragischer Unfall. Ein Mitarbeiter des Beschwerdegegners kam bei einem Kupplungsmanöver ums Leben, als er einen Anhänger an sein Zugfahrzeug ankuppeln wollte. Anstatt mit dem Zugfahrzeug rückwärts auf den gesicherten Anhänger zuzufahren, liess er entgegen den SUVA-Richtlinien den Anhänger auf das Zugfahrzeug zurollen. Die Deichsel des Anhängers verfehlte die Kupplung des Zugfahrzeuges und der Mitarbeiter wurde zwischen dem Anhänger und dem Zug-LKW eingeklemmt. Dabei zog er sich tödliche Verletzungen zu.

Der Geschäftsführer wurde erstinstanzlich vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen wehrt sich die Witwe des Verstorbenen. Sie verlangt die Verurteilung des Beschwerdegegners sowie eine Genugtuung.

Gemäss Art. 117 StGB wird bestraft, wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht. Der Tatbestand setzt den Tod einer Person, eine Sorgfaltspflichtverletzung und den Kausalzusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Tod voraus. Vorliegend geht es um ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt. Fahrlässig handelt kurz gesagt, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt und dabei das erlaubte Risiko überschreitet. Bei einem Unterlassungsdelikt bleibt pflichtwidrig untätig, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist (Art. 11 Abs. 2 StGB). Der eingetretene Erfolg muss für den Täter vorherseh- und damit auch vermeidbar sein (E. 2.1.1).

Die Staatsanwaltschaft warf dem Beschwerdegegner und Geschäftsführer der Transportfirma vor, dass dieser den Verstorbenen nicht genügend instruiert habe. Zudem habe er aus Sicht der Anklage den Verstorbenen beim fatalen Kupplungsmanöver nicht überwacht. Der Verstorbene war zudem erst im Besitze eines Lernfahrausweises für Anhänger, weshalb er noch enger hätte überwacht werden müssen. Auch die Beschwerdeführerin bringt hervor, dass ihr verstorbener Gatte besonders eng durch den Beschwerdegegner hätte überwacht werden müssen, da Ersterer zweimal durch die Führerprüfung der Kat. CE gefallen ist. Aus ihrer Sicht hätte der Verstorbene nur noch LKW ohne Anhänger fahren dürfen.

Der Beschwerdegegner stellt sich dagegen auf den Standpunkt, dass Neulinge in seiner Firma stets durch erfahrene Mitarbeiter eingearbeitet und instruiert werden. Er persönlich hatte dem Verstorbenen das korrekte Kuppeln erklärt und es mit ihm geübt. Sogar am Unfallort übten sie zusammen das Kuppeln. Diese Aussagen wurden von weiteren Mitarbeitern gestützt. Nach der Vorinstanz kann dem Beschwerdegegner auch nicht vorgeworfen werden, dass der Verstorbene alleine unterwegs war. Andernfalls würde das faktisch dazu führen, dass LKW-Fahrer immer von ihren Vorgesetzten oder anderen Personen begleitet werden müssten. Auch wenn LKW-Fahrer nur den Lernfahrausweis für das Mitführen von Anhängern haben, benötigen diese nicht unbedingt eines Spezialbehandlung. Die Zeugen sagten zugunsten des Beschwerdegegners aus, dass dieser bei fehlerhaftem Verhalten stets und sofort eingegriffen habe und seinen Vorsichtspflichten nachgekommen sei. Es sei deshalb auch unerklärlich, wieso der Verstorbene die SUVA-Richtlinien zum Ankuppeln des Anhängers nicht einhielt (E. 2.3).

Der Beschwerdegegner hielt seine Sorgfaltspflichten also ein und wurde zu Recht freigesprochen. Im Umkehrschluss wurde die Zivilforderung der Beschwerdeführerin abgewiesen. Nur im Kostenpunkt reüssiert die Beschwerdeführerin. Zu Unrecht wurden ihr die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt.

Sorgfaltspflicht beim Losfahren

Urteil 6B_677/2021: Tragischer Todesfall auf dem Parkplatz (gutgh. Beschwerde)

Im September 2013 ereignete sich ein tragischer Unfall. Der Beschwerdegegner überfuhr auf einem Parkplatz seinen Stiefvater, der zwei Stunden später an den Folgen des Unfalles verstarb. Die kantonalen Instanzen sprachen den Beschwerdegegner vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Dagegen wehren sich die Angehörigen des Opfers und verlangen, dass der Beschwerdegegner wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen sei. Es geht vorliegend um die Frage, ob der Beschwerdegegner den Tod seines Stiefvaters bei genügender Sorgfalt hätte vermeiden können.

Der Unfall passierte, als sich der Beschwerdegegner mit dem Opfer und weiteren Personen verabredete. Das Tatfahrzeug schien einen technischen Mangel zu haben, machte komische Geräusche und man wollte diese gemeinsam erörtern. Währenddem sich der Beschwerdegegner kurz vom Auto entfernte, legte sich das Opfer darunter, um den Geräuschen nachzugehen. Als der Beschwerdegegner das Fahrzeug parkieren wollte, stieg er ein und überrollte das Opfer. Die Vorinstanz war der Meinung, dass man in einer solchen Situation nicht damit rechnen müsse, dass sich jemand bereits unter dem Fahrzeug befindet, ohne den Lenker vorzuwarnen. Es sei lebensfremd in solchen Situationen ein Kontrollgang um ein Fahrzeug zu verlangen. Der Beschwerdegegner konnte das Opfer von der Fahrerposition nicht sehen.

Die fahrlässige Tötung nach Art. 117 StGB setzt die Verletzung einer Sorgfaltspflicht voraus. Der Erfolg, der Tod eines Menschen, muss für den Täter vorherseh- und vermeidbar gewesen sein (ausführlich zur Fahrlässigkeit E. 3.2). Im Strassenverkehr richten sich die Sorgfaltspflichten nach dem SVG und seinen Verordnungen. Wer sich in den Verkehr einfügt, darf andere Strassenbenützer nicht gefährden (Art. 36 Abs. 4 SVG). Wer z.B. von einem unübersichtlichen Parkplatz losfährt, muss nötigenfalls eine Hilfsperson herbeiziehen, die das Fahrmanöver überwacht (Art. 15 Abs. 3 VRV). Nach der Rechtsprechung muss sich ein Fahrer, der im toten Winkel aufgrund der Umstände mit Personen rechnen muss, seine Körperposition ändern, um eben diese toten Winkel einzusehen (vgl. BGE 107 IV 55 E. 2c). Die Aufmerksamkeit hat der Lenker nach den Umständen dorthin zu richten, wo am ehesten Gefahrenquellen drohen. Hat der Lenker aber seine Pflichten erfüllt, darf er sein Fahrmanöver ohne weitere Überwachung des sichttoten Bereichs ausführen (E. 3.3).

Die Beschwerdeführer bringen – kurz gesagt – vor, dass die Vorinstanzen den Sachverhalt willkürlich festgestellt haben, indem sie nicht mit der nötigen Tiefe der Frage nachgegangen sind, ob der Beschwerdegegner beim Einsteigen in das Fahrzeug seinen davorliegenden Stiefvater hätte sehen können. Das Bundesgericht stimmt dem zu, denn die Vorinstanzen hatten sich zuwenig mit den damals herrschenden Lichtverhältnissen und dem zeitlichen Ablauf des Unglücks auseinandergesetzt. Die Schlussfolgerung der Vorinstanzen, dass keine Sorgfaltspflichtsverletzung vorliegt, war damit rechtsfehlerhaft (dazu ausführlich E. 3.5).

Rasen in der Not

Urteil 6B_322/2022: Geschwindigkeit und Notstand (gutgh. Beschwerde)

Ein tolles Urteil unserer höchsten Richter, da es sehr übersichtlich deren Rechtsprechung zur gerechtfertigten Geschwindigkeitsüberschreitung zusammenfasst.

Der Beschwerdegegner wurde auf der Autobahn mit 200km/h geblitzt. Die Gerichte des Kantons Zürichs sprachen den Beschwerdegegner vom Vorwurf der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung frei. Der Beschwerdegegner machte im Strafverfahren einen Notstand geltend. Seine Frau leide an einer Herzerkrankung. Sie verspürte auf der Heimfahrt plötzlich Symptome, weshalb der Beschwerdegegner schnellstmöglich nach Hause fahren wollte, wo sich die Medikamente der Frau befanden. Gegen den Freispruch wehrt sich die Staatsanwaltschaft.

Begeht man eine Straftat, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person, also z.B. das Leben der Gattin, aus einer unmittelbaren und nicht andes abwendbaren Gefahr zu retten, handelt man rechtmässig, wenn man dadurch höherwertige Interessen wahrt (Art. 17 StGB). Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen sollte ein Notstand nur zurückhaltend angenommen werden, da durch Schnellfahren meistens eine Vielzahl von unbeteiligten Person konkret oder abstrakt gefährdet werden. Je höher dabei die gefahrene Geschwindigkeit, desto eher ist es nur dem Zufall geschuldet, dass sich die Gefahr eines schweren Unfalles nicht verwirklicht (E. 2.2.1).

Die Straftatbestände in Art. 90 SVG sind abstrakte Gefährdungsdelikte. Die grobe Verkehrsregelverletzung setzt eine erstliche Gefahr, die qualifiziert grobe das Risiko eines Unfalles mit Todesopfern oder schwerverletzten Personen voraus (E. 2.2.2). Daraus schliesst das Bundesgericht, dass das geschützte Rechtsgut der groben und qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung nicht nur die Verkehrssicherheit ist, sondern unmittelbar auch Leib und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer. Lediglich bei der einfachen Verkehrsregelverletzung steht das Rechtsgut des „reibungslosen Ablaufs der Fortbewegung auf öffentlichen Strassen“ im Vordergrund, während Individualinteressen wie Leib und Leben oder Eigentum nur mittelbar geschützt werden (E. 2.4.1). Da sich im vorliegenden Fall also gleichwertige Rechtsgüter – Leben Gattin vs. Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer – gegenüberstehen, stellt das Bundesgericht die Frage in den Raum, ob die Annahme eines Notstandes überhaupt möglich ist. Es umschifft die Frage aber gekonnt, da die Voraussetzungen des Notstandes sowieso nicht erfüllt sind (E. 2.4.4).

Zur Kasuistik:

Urteil 1C_345/2012: GÜ von 31km/h in 30er Zone gerechtfertigt bei Vater, der ins Krankhaus muss, weil sein Neugeborenes schwere Atemaussetzer habe.
Urteil 6B_7/2010: GÜ innerorts um 25km/h nicht gerechtfertigt bei Tierarzt, der zu einer Kuh mit akuter Euterentzündung brauste.
Urteil 6A.28/2003: GÜ von 58km/h auf Autobahn nicht gerechtfertigt von Lenker, der glaubte verfolgt zu werden, wobei der Verfolger ein ziviles Polizeiauto war.
BGE 106 IV 1: GÜ innerorts um 60km/h gerechtfertigt, da der Lenker seinen Nachbar mit unerträglichen Kopfschmerzen ins Spital fuhr. Heute wohl überholter Entscheid

Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft argumentierte aus Sicht des Bundesgerichts zu Recht, dass auf dem Radarfoto keine Anzeichen für ein Unwohlsein der Gattin zu sehen waren. Irritierend war auch, dass der Beschwerdegegner nach dem Blitzen sein Tempo reduzierte und sich an das Tempolimit hielt. Obwohl er nach eigener Aussage um das Leben seiner Frau fürchtete, gefährdete der Beschwerdegegner gleichzeitig deren Leben mit einer Raserfahrt (E. 2.4.4). Ein Notstand setzt sodann voraus, dass die drohende Gefahr für das Leben der Gattin nicht andes abwendbar war. Zu Recht führt die Staatsanwaltschaft aus, dass es keinen Sinn ergibt, wenn der Beschwerdegegner ca. 30km nach Hause fährt, anstatt in das nur 11km entfernt gelegene nächste Krankenhaus. Indem die Vorinstanz diesen Umstand nicht würdigte, verletzte sie den Grundsatz der absoluten Subsidiarität (E. 2.4.5). Und schliesslich verletzt das kantonale Urteil den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Der Zeitgewinn von höchstens einigen Minuten steht in keinem Verhältnis zur massiv übersetzten Geschwindigkeit (E. 2.4.6).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.

Rückblick April und Mai 2022

Da der Blog ferienbedingt einige Wochen ruhen musste und das Bundesgericht zwischenzeitlich keine „Blockbuster“ vom Stapel gelassen hat, widmen wir uns einigen SVG-Entscheiden aus den Monaten April und Mai im Rahmen eines Rückblicks, wobei wir die Entscheide auf das Wesentliche reduzieren. Gefeatured sind folgende Urteile:

Urteil 6B_1504/2021: Die Hundeleine als Verkehrshindernis
Urteil 1C_589/2021: Mittelschwere Widerhandlung
Urteil 6B_1235/2021: Fahrrad touchieren im Kreisel

Urteil 6B_1504/2021: Die Hundeleine als Verkehrshindernis

Dieser Entscheid ist insofern interessant, weil es sich um einen nicht ganz alltäglichen Sachverhalt zwischen einer Fussgängerin und einem Fahrrad handelt. Beim Wandern mit ihren zwei Hunden neben einer Strasse, kam der Beschwerdeführerin eine andere Hundehalterin auf der anderen Strassenseite entgegen. Der Hund der Beschwerdeführerin ging über die Strasse und spannte die Hundeleine über die Fahrbahn. Ein Fahrradfahrer fuhr in die Hundeleine, wodurch die Beschwerdeführerin zu Boden geworfen wurde und sich verletzte. Der Fahrradfahrer wurde zunächst wegen fahrlässiger Körperverletzung und pflichtwidrigem Verhalten nach Unfall bestraft. Die kantonalen Instanzen sprachen ihn aber von der fahrlässigen Körperverletzung frei. Dagegen wehrt sich die Beschwerdeführerin, wohl im Hinblick auf ihre Zivilforderungen.

Der Entscheid widmet sich der Frage, ob der Fahrradfahrer aufmerksam war bzw. sein Fahrrad richtig beherrschte, ob er seine Geschwindigkeit den Umständen angepasst habe, ob er genügend Rücksicht gegenüber den Fussgängern genommen habe und letztlich ober damit rechnen musste, dass der Hund der Beschwerdeführerin plötzlich über die Stasse läuft (zum rechtlichen Teil ausführlich E. 3.1).

Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, dass der Fahrradfahrer den Unfäll hätte vermeiden können, wenn er seine Aufmerksamkeit dem Geschehen vor ihm gewidmet hätte. So hätte er denn aus den Umständen auch damit rechnen müssen, dass eine Hundeleine über die Strasse gespannt sein könnte. Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass der Fahrradfahrer nicht mit einer beinahe unsichtbaren Leine habe rechnen müssen. Eine über die Strasse gespannte Hundeleine liege ausserhalb der Gefahren, welche man vernünftigerweise erwarten müsse. Die Beschwerdeführerin stützt sich u.a. darauf, dass man wissen müsse, dass in einem Schutzgebiet eine Leinenpflicht für Hunde gilt und insofern bei Hunden stets mit einer gespannten Leine rechnen müsse. Das Bundesgericht widerspricht aber dieser Ansicht und stützt die Meinung der Vorinstanz. Nur weil ein Hund eine Strasse überquert, muss nicht generell mit einer gespannten Leine gerechnet werden. Die Beschwerde wird abgewiesen bzw. der Freispruch der Fahrradfahrers bestätigt.

Urteil 1C_589/2021: Mittelschwere Widerhandlung

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen einmonatigen Ausweisentzug. Er wurde zuvor wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer Busse von CHF 400 bestraft. Gemäss rechtskräftigem Strafbefehl überfuhr der Beschwerdeführer auf der Autobahn die Mittelleitlinie, sodass ein nachfahrendes Patroullienfahrzeug abbremsen musste. Er schwankte mehrmals in der Spur hin und her, wechselte die Fahrspur ohne zu blinken und er blätterte in einem Order auf seinen Knien.

Die Administrativbehörde ist grds. an den Sachverhalt im Strafbefehl gebunden, es sei denn es liegen klare Anhaltspunkte dafür vor, dass die Sachverhaltsfeststellungen des Strafverfahrens unzutreffend sind. Dies war im vorliegenden Fall allerdings nicht der Fall, zumal die Widerhandlungen mit einem Video festgehalten wurden.

Das Bundesgericht bestätigt die Vorinstanzen in der Annahme einer mittelschweren Widerhandlung. Der Beschwerdeführer äusserte sich nicht ausdrücklich zu der von ihm geschaffenen Gefährdung. Er beruft sich auf seine berufliche Massnahmeempfindlichkeit und führt auch aus, dass ihn die Massnahme schlimmer treffe, als eine in der Stadt wohnende Person. Darauf geht das Bundesgericht natürlich nicht ein. Auch kann er sich nicht auf die Motion 17.3520 von Nationalrätin Graf-Litscher berufen, da diese noch gar nicht umgesetzt ist.

Die Gefährdung erfüllt den Tatbestand von Art. 16b SVG.

Aus meiner Sicht dürfte wohl auch das Verschulden als nicht mehr leicht zu qualifizieren sein, wenn der Beschwerdeführer während der Fahrt in einem Ordner blättert.

Urteil 6B_1235/2021: Fahrrad touchieren im Kreisel

Der Beschwerdeführer wehrt sich in diesem Entscheid gegen die Verurteilung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln. Er überholte in einem Kreisel eine Velofahrerin und bog unmittelbar danach ab, sodass die rechte Fahrzeugseite das Vorderrad des Fahrrads touchierte. Die Fahrradfahrerin konnte einen Sturz verhindern, indem sie vom Velo sprang.

Der Beschwerdeführer rügt, dass der Anklagegrundsatz verletzt sei, weil sich der Strafbefehl nicht zum subjektiven Tatbestand äussere. Die Anklageschrift bzw. der Strafbefehl umschreibt die angeklagte Tat. Eine grobe Verkehrsregelverletzung kann auch fahrlässig begangen werden, wobei grobe Fahrlässigkeit vorliegen muss. Handelt der Täter unbewusst fahrlässig, setzt die grobe Verkehrsregelverletzung eine Rücksichtslosigkeit voraus. Die Anklage wegen grober Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG muss eine hinreichende Darstellung des Tatbestandsmerkmals der „ernstlichen Gefahr für die Sicherheit anderer“ enthalten. Ebenso muss klar sein, ob der angeklagten Person Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorgeworfen wird. Wird jemand wegen einer SVG-Widerhandlung angeklagt, ist von einer fahrlässigen Tatbegehung auszugehen, es sei denn die Anklage beinhalte den Vorwurf von Vorsatz. Die Rechtsprechung begründet dies damit, dass die vorsätzliche und fahrlässige Verkehrsregelverletzung gleichermassen strafbar sind. Schildert die Anklage also kein bewusstes Verhalten, ist i.d.R. von einem Fahrlässigkeitsdelikt auszugehen. Die Schilderung des objektiven Tatgeschehens reicht nach der Rechtsprechung für eine Anklage wegen vorsätzlicher Tatbegehung aus, wenn sich daraus Umstände ergeben, aus denen auf einen vorhandenen Vorsatz geschlossen werden kann. Es ist also nicht nötig, dass sich die Anklage bei SVG-Delikten explizit dazu äussert, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorgeworfen wird. Der Anklagegrundsatz wurde insofern nicht verletzt und das Fahrmanöver erfüllt den Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG (zum Ganzen ausführlich E. 3).

Von Schematismen…

Die meisten Leser:innen hier dürften mit den Schematismen im Strassenverkehrsrecht so vertraut sein, wie mit ihrer linken hinteren Hosentasche. Die Schematismen gehören seit je her zur gefestigten SVG-Rechtsprechung. Auch wenn hier keine bahnbrechenden Entwicklungen zu erwarten sind, ist es doch immer wieder interessant zu sehen, mit welchen Argumenten Prozessierende vor Bundesgericht scheitern. Wir fassen hier gleich an paar Entscheide der letzten Monate zusammen mit Fokus auf das jeweilige Hauptargument:

BGE 6B_1037/2020: Abstand bei geringer Geschwindigkeit

Die meisten hier kennen den Schematismus beim Hintereinanderfahren auf der Autobahn. Wer weniger als 0.6s zum vorfahrenden Fahrzeug hat, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung. Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer mit einem Abstand von 0.55s, dies allerdings bei nur 65-69km/h. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er nicht viel schneller gefahren sei, als man das auch in der Stadt tue, womit sein Handeln nicht rücksichtslos war.

Das Bundesgericht aber pflichtet der Vorinstanz bei, dass hier nicht von der geltenden „1/6-Tacho-Regel“ abgewichen werden muss. Auch allfällige Assistenzsysteme des Autos befreien den Beschwerdeführer nicht davon, einen ausreichenden Abstand einzuhalten. Es mag zwar sein, dass insb. innerorts von der generellen 2-Sekunden-Regel abgewichen werden kann (vgl. BGE 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das ändert aber nichts zu den Regeln für die Autobahn. Das Bundesgericht weist denn auch das Argument zurück, dass die Zwei-Sekunden-Regel aufgrund der Verkehrsdichte gar nicht mehr realisierbar sei.

BGE 6B_884/2021: Fragliche Messmethoden

Der Beschwerdeführer wurde ausserorts mit 30km/h geblitzt, eine grobe Verkehrsregelverletzung. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die Messung mit dem Lasermessgerät nicht gesetzeskonform durchgeführt wurde. Ob die Messung korrekt war, wurde im kantonalen Verfahren gutachterlich geprüft. Der Gutachter konnte aufgrund des Videos die gefahrene Geschwindigkeit nicht zweifelsfrei ermitteln. Es konnte ebenfalls nicht genau erstellt werden, ob das Lasermessgerät die gemessene Geschwindigkeit auf- oder abrundet. Gemäss Art. 8 der VSKV-ASTRA muss der Geschwindigkeitsmesswert auf die nächste ganze Zahl abgerundet werden und danach der Sicherheitsabzug vorgenommen werden. Deshalb, so der Beschwerdeführer, hätte man den vom Messgerät angezeigte Wert von 114 km/h auf 113 km/h abrunden müssen, womit er nach Sicherheitsabzug „nur“ 109 km/h gefahren wäre und damit eine einfach Verkehrsregelverletzung begangen hätte.

Das Bundesgericht bestätigt hier die Meinung der Vorinstanz, dass die Geschwindigkeitsmessung korrekt durchgeführt wurde. Die Vorinstanz war der Ansicht, dass mit der Eichung des Messgeräts bereits erstellt sei, dass dieses die gemessene Geschwindigkeit abrunde. Zudem stellt sich die Vorinstanz auf den Standpunkt, dass die grundsätzlich die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit massgeblich sei. Minimale technische Abweichungen würden bereits vom Sicherheitsabzug nach der ASTRA-Verordnung umfasst. Zwar bezeichnet das Bundesgericht die Ansicht der Vorinstanz, dass die gesetzlich geforderte Abrundung bereits im Sicherheitsabzug enthalten sei als „zweifelhaft“, führt danach aber trotzdem aus, dass die Vorinstanz willkürfrei davon ausgehen dürfte, dass die Messung korrekt war. Dies, obwohl der Rundungsalgorithmus des Messgeräts bis zum Schluss nicht bekannt war (E. 2.6.4.).

BGE 6B_1066/2021: Radarfoto und Halterindiz

Der Beschwerdeführer wurde innerorts mit mit 66 km/h geblitzt. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die kantonalen Instanzen den Sachverhalt willkürlich festgestellt haben, indem sie von seiner Lenkerschaft ausgegangen seien. Aus seiner Sicht sei nämlich das Radarfoto von geringer Qualität und er habe die Fahrt stets bestritten. Die Vorinstanz hingegen stellt sich aufgrund einer Mehrzahl von Indizien auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer gefahren sei, nämlich weil der Beschwerdeführer Halter des Autos ist, wegen seinen Aussagen, dem Radarfoto sowie weiteren Radarfotos von anderen mit dem gleichen Auto begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die Haltereigenschaft bei einem Strassenverkehrsdelikt, das von einem nicht eindeutig identifizierbaren Fahrzeuglenker begangen worden ist, ein Indiz für die Täterschaft sein. Das Gericht kann im Rahmen der Beweiswürdigung ohne Verletzung der Unschuldsvermutung zum Schluss gelangen, der Halter habe das Fahrzeug selber gelenkt, wenn dieser die Tat bestreitet und sich über den möglichen Lenker ausschweigt. Nichts anderes kann gelten, wenn der Halter zwar Angaben zum Lenker macht, diese aber unglaubhaft oder gar widerlegt sind. Sich auf das Aussageverweigerungsrecht zu berufen oder die Möglichkeit ins Spiel zu bringen, nicht gefahren zu sein, hindert das Gericht nicht daran, eine Täterschaft anzunehmen.

Der Beschwerdeführer hat sich darauf beschränkt, seine Täterschaft zu bestreiten, ohne plausible Angaben zu einem anderen Lenker zu machen. Deshalb durfte die Vorinstanz aufgrund des Radarfotos und seiner Haltereingeschaft willkürfrei davon ausgehen, dass er auch gefahren ist.

Konkurrenz zwischen Art. 91 Abs. 2 lit. a und b SVG

BGE 6B_1429/2020: Besoffen und Müde

Der Beschwerdeführer wurde für Fahren in fahrunfähigem Zustand wegen Alkohol (Art. 91 Abs. 2 lit. a SVG) und weiteren Gründen, i.c. Müdigkeit (Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG), mit einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen bestraft. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die Annahme der Vorinstanz, es läge eine echte Konkurrenz vor und dass er nach beiden litterae zu bestrafen sei, falsch ist. Nach seiner systematischen Auslegung, stelle Art. 91 Abs. 2 SVG ein Straftatbestand dar, womit die Anwendung von Art. 49 StGB und das Fällen einer Gesamtstrafe i.c. falsch sei. Insofern sei auch seine Strafe (nach unten) anzupassen.

Das Bundesgericht musste diese Frage noch nicht beantworten. Es befasst sich in der Folge mit der Lehre, welche die Frage nach der Konkurrenz kontrovers diskutiert. Nach den einen Autoren stelle das Fahren in fahrunfähigem Zustand ein „einheitliches Konzept“ dar, wobei es keine Rolle spiele, ob nur einer oder mehrere Gründe für die Fahrunfähigkeit vorlägen. Andere Autoren sprechen sich dafür aus, dass eine echte Konkurrenz vorläge, u.a. weil sonst der Gesetzgeber die beiden Tatbestände nicht explizit geregelt hätte und die Annahme einer unechten Konkurrenz in gewissen Beispielen auch zu inkonsequenten Lösungen führt (zum Ganzen E. 1.6).

Das BGer befasst sich sodann mit der unechten Konkurrenz, u.a. mit der Spezialität und der Konsumtion. Bei Spezialität findet nur die spezielle Regel Anwendung, z.B. Mord vor vorsätzlicher Tötung. Bei der Konsumtion wird ein Tatbestand vom anderen konsumiert, z.B. die Körperverletzung von der vorsätzlichen Tötung. Nach der grammatischen Auslegung liegt aber bei der Fahrunfähigkeit wegen Alkohol und jener aus anderen Gründen keine unechte Konkurrenz vor. Im Gegenteil, schliessen sich die beiden Tatbestände gegenseitig aus. Auch in historischer Hinsicht wurden die Tatbestände immer separat behandelt. Denn wer unter Alkoholeinfluss autofährt und dann z.B. noch ein Betäubungsmittel oder ein Medikament konsumiert, handelt quasi mit doppelter Delinquenz, auch wenn das Resultat das gleiche ist, nämlich die Fahrunfähigkeit. Aus diesem Grund widerspricht es auch nicht dem Bundesrecht, wenn das Vorliegen mehrerer Gründe für Fahrunfähigkeit strenger bestraft wird, als wenn nur ein Grund vorliegt (E. 1.7).

Daraus folgt, dass zwischen Art. 91 Abs. 2 lit. a und b SVG echte Konkurrenz besteht und damit eine Gesamtstrafe zu bilden ist. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Strafzumessung

BGE 6B_778/2020: Zweimal in der Probezeit

Der Beschwerdeführer wurde aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln verurteilt, wobei eine frühere bedingte Geldstrafe widerrufen und eine Gesamtstrafe von 120 Tagessätzen verhängt wurde. Die Berufungsinstanz reduzierte die Geldstrafe auf 80 Tagessätze. Der Beschwerdeführer verlangt aber 40 Tagessätze. Er rügt, dass die Vorinstanz eine willkürliche Strafzumessung vorgenommen habe. Diese wiederum ist der Ansicht, dass ein schweres Verschulden vorliege, zumal der Beschwerdeführer erst seit sieben Monate im Besitz des FAP und somit kein geübter Automobilist war. Die erneute Delinquenz innerhalb der Probezeit zeige zudem, dass der Beschwerdeführer durch die erste Bestrafung nicht eines besseren belehrt wurde (E. 2.1/2).

Die Strafzumessung liegt im Ermessen des Sachgerichts, wobei das BGer nur eingreift, wenn ein Ermessensmissbrauch vorliegt. Muss ein Gericht ein Urteil begründen, so muss es gemäss Art. 50 StGB auch seine Überlegungen zur Strafzumessung nachvollziehbar darlegen (E. 2.3).

Die Argumente des Beschwerdeführers vermögen das BGer nicht zu überzeugen. Weder die Eizelfallumstände, gute Sicht, trockene Fahrbahn, wenig Verkehrsteilnehmer, Ausserortsstrasse, noch der Umstand, dass seine Mutter zuhause zusammengebrochen sei, vermögen einen Ermessensmissbrauch der Vorinstanz zu begründen. Auch der Hinweis auf die Strafzumessungsempfehlungen der SSK durch den Beschwerdeführer ist unbehelflich, denn wie er selber erkennt, handelt es sich dabei um unverbindliche Empfehlungen.

Das BGer weist die Beschwerde ab.

Oster-Rundschau neue BGE

Liebe Verkehrsrechtsenthusiast*innen

In letzter Zeit musste der Schreiberling den Blog aus familiären Gründen etwas vernachlässigen. Deshalb fassen wir die Entscheide der letzten Wochen in einer Art Rundschau kurz zusammen.

BGE 1C_298/2020: Verkehrspsychologische Abklärung
Die Teilnahme an einem illegalen Rennen in Deutschland berechtigt zur Anordnung einer psychologischen Fahreignungsabklärung. Interessant: Der vorsorgliche Entzug wurde von der Vorinstanz aufgehoben.

BGE 1C_415/2020: Dauer der Massnahme, Bindung an das Strafurteil
Das Strassenverkehrsamt ist an den Strafbefehl gebunden. Man kann nicht erst im Administrativverfahren die Beweisverwertung einer privaten Dashcamaufnahme anprangern. Das hätte im Strafverfahren gemacht werden müssen.
In der Einzelfallbeurteilung zur Dauer der Massnahme war es gerechtfertigt, wegen mehrern groben Verkehrsregelverletzungen den Führerschein für fünf Monate zu entziehen, auch wenn der Beschwerdeführer einen unbescholtenen Leumund hatte und beruflich auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.

BGE 1C_319/2020: Fahreignung aus medizinischen Gründen
Der Verdacht auf ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, eine Polyneuropathie (Erkrankung des Nervensystems) und erhöhter Alkoholkonsum berechtigen zur Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Die Fahrerlaubnis war nicht vorsorglich entzogen.

BGE 6B_716/2020: Die abgeurteilte Sache in Europa
Dieses äusserst interessante und komplexe Urteil beschäftigt sich mit der Frage, wann nach dem Schengener Durchfühurngsübereinkommen in Europa eine abgeurteilte Sache vorliegt, also die Schweiz eine Person nicht mehr bestrafen kann, weil bereits ein ausländisches Urteil vorliegt. Grundlage ist ein Raserdelikt in der Schweiz. Zumindest über einen Teil des Sachverhalts (Fahren ohne Berechtigung) erliess die deutsche Staatsanwaltschaft ohne grössere Abklärungen eine Einstellung. Die Schweiz erklärte bei der Ratifikation des SDÜ gemäss Art. 55 SDÜ aber, nicht an Art. 54 SDÜ gebunden zu, wenn die Tat ganz in der Schweiz begangen wurde, was hier der Fall war. Die Schweizer Strafbehörden durften den Beschwerdeführer also wegen Rasens verurteilen.

BGE 6B_1125/2020: Tödliches Überholmanöver
Bei einem Überholmanöver übersieht der Beschwerdeführer ein entgegenkommendes Mofa. Dessen Lenker stirbt tragischerweise an den Unfallfolgen. Zu Recht wurde der Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der Entscheid befasst sich exemplarisch mit den Voraussetzungen der Fahrlässigkeit und der Aufmerksamkeit nach Art. 31 SVG.

BGE 6B_1147/2019: Motorradunfall bei Nässe, angemessene Geschwindigkeit
Bei einem Überholmanöver auf regennasser Autobahn mit ca. 120km/h verlor der Beschwerdeführer die Kontrolle über sein Motorrad. Er stellt sich auf den Standpunkt wegen einer Asphaltfuge und nicht etwa wegen dem Regen gestürzt zu sein. Das sei nicht vermeidbar gewesen. Die Geschwindigkeit muss allerdings den Umständen angepasst werden. So verhielt sich der Beschwerdeführer pflichtwidrig, indem er die zulässige Geschwindigkeit bei nasser Fahrbahn und schlechter Sicht ausfuhr und just vor einer Kurve zu einem Überholmanöver ansetzte. Als erfahrener Motorradfahrer hätte er vorhersehen können, dass sein Motorrad bei nasser Fahrbahn wegrutschen kann. Mit einer Anpassung der Geschwindigkeit hätte der Unfall vermieden werden können.