Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

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Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

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Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

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In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

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Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Rückblick: Tödlicher Unfall und Entscheide zur Geschwindigkeit

Die erste Strafkammer des Bundesgerichts hat wieder mal Vollgas gegeben und es sind einige neue Entscheide ergangen. Diesen Urteilen widmen wir uns hier aus Zeitgründen in teilweise stark zusammengefasster Form.

Urteil 6B_16/2023: Fahrlässige Tötung oder qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung (Vorsatz vs. Fahrlässigkeit)

Dieses Urteil befasst sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit bei krassen Verkehrsdelikten. Die Beschwerde der beschuldigten Person bzgl. Strafmass wird zudem gutgeheissen.

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Dieses Urteil befasst sich mit einem tödlichen Verkehrsunfall. Der Betroffene überholte im Januar 2017 unter dem Einfluss von THC wegen einem am Vorabend gerauchten Joints auf der Kantonsstrasse zwischen Chur und Domat/Ems zwei andere Fahrzeuge. Dabei übersah er einen Motorroller, kollidierte mit diesem. Die Lenkerin des Rollers starb noch auf der Unfallstelle. Von der ersten Instanz noch wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, änderte das Kantonsgericht GR dieses Urteil auf Berufung hin u.a. auf fahrlässige Tötung. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Sie beantragt, dass der Beschwerdegegner wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung schuldig zu sprechen sei. Aus ihrer Sicht hat der Beschwerdegegner den Tod der Rollerfahrerin in Kauf genommen. Auch der Betroffene erhebt Beschwerde bzgl. dem Strafmass.

Das Bundesgericht setzt sich exemplarisch mit der Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit (E. 2.2.2) sowie den Strassenverkehrsregeln zum Überholen (E. 2.2.3) auseinander. Es hält auch daran fest, dass Eventualvorsatz bei Unfällen mit Todesfolge nur zurückhaltend und in krassen Fällen anzunehmen ist. Es muss sich aus den Einzelfallumständen ergeben, dass sich der oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (E. 2.2.4). Im vorliegenden Fall verhielt es sich so, dass hinter dem Motorroller noch ein weiteres Fahrzeug dem Beschwerdegegner entgegen fuhr. Für ihn „verschmolzen“ die beiden Fahrzeuge optisch in der Morgendämmerung. Da der Beschwerdegegner die Rollerfahrerin in pflichtwidriger Weise nicht wahrgenommen hat, entschied er sich im Lichte der Rechtsprechung nicht gegen Leib und Leben. Er handelte nicht eventualvorsätzlich (zum Ganzen ausführlich E. 2.4). Auch die weiteren Rügen der Staatsanwaltschaft werden abgelehnt. Sie machte geltend, dass das Überholmanöver auch gegenüber den überholten Fahrzeugen eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung war. Das Bundesgericht bestätigt aber den Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung (E. 3).

Gutgeheissen wird aber die Beschwerde des Betroffenen. Er wurde mit einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten bestraft. Aus Sicht des Bundesgerichts begründete die Vorinstanz diese hohe Strafe zu wenig. Zudem wurde die lange Verfahrensdauer bzw. eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht berücksichtigt (E. 5).


Urteil 6B_1065/2023: Regeln zur Nachfahrmessung ohne kalibriertes Messsystem

Dieses französische Urteil setzt sich exemplarisch mit den Regeln zur Geschwindigkeitskontrolle gemäss Art. 6ff. der Verordnung des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung (VSKV-ASTRA) auseinander, insb. welche Regeln bzgl. der Nachfahrmessung nach Tacho gelten und wann ein „massiver“ Fall gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorliegt.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung. Gemäss einer polizeilichen Nachfahrmessung fuhr er auf einer Autostrasse mit Tempolimite 80 km/h auf einer Strecke von 200 Metern gemäss Tacho des Polizeifahrzeuges mit 145 km/h. Abzugsbereinigt ergab sich daraus eine gefahrenes Tempo von 122 km/h bzw. Geschwindigkeitsüberschreitung von 42 km/h. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass 200m für eine Nachfahrmessung nicht ausreichend seien.

Art. 6 VSKV-ASTRA listet die Messarten auf, welche grundsätzlich für die Messung von Fahrzeug-Geschwindigkeit zu verwenden sind. Die Nachfahrmessung ist eine davon (lit. c Ziff. 2). Gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA sind Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Nachfahrmesssystem auf Fälle von massiver Geschwindigkeitsüberschreitung zu beschränken. Die Regeln zu Geschwindigkeitsmessungen werden wiederum durch die „Weisungen über polizeiliche Geschwindigkeitskontrollen und Rotlichtüberwachung im Strassenverkehr“ konkretisiert. Gemäss Kapitel 20 muss nach Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem zunächst die Genauigkeit des Tachos des Polizeifahrzeuges geprüft und danach noch der Abzug gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. i VSKV-ASTRA vorgenommen werden. Dabei handelt es sich um Empfehlungen, welche das Gericht nicht binden (E. 1.1.4). Knackpunkt ist vorliegend, dass die Weisungen unter Ziff. III.10.1 sagen, dass bei Nachfahrkontrollen u.a. eine genügend lange Messstrecke vorausgesetzt ist, wobei sie auf Anhang 1 der VSKV verweist. Bei 200m ist dort kein Sicherheitsabzug angegeben.

Die kantonalen Instanzen waren der Meinung, dass 200m als Strecke für eine Nachfahrmessung ausreichen, auch weil die Weisungen des ASTRA nicht verbindliches Recht sind und das Gericht die Beweise frei würdigen kann. Der Beschwerdeführer sieht das natürlich diametral anders. Insb. die Messtrecke von nicht mal 200m sei zu kurz, weshalb diese Messung nicht verwertet werden dürfe.

Zunächst hält das Bundesgericht fest, dass Anhang 1 der VSKV-ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist (vgl. Art. 8 Abs. 1 lit. h vs. lit i; E. 1.4.1). Ebenfalls stellt es klar, dass Ziffer III.10 der Weisungen des ASTRA nicht auf Nachfahrmessungen ohne kalibriertes Messsystem anwendbar ist, sondern nur die Regeln in Ziffer III.20. Entgegen den Vorbringen braucht es keine Mindeststrecke für die Messung und das Gericht muss die Beweise frei würdigen (E. 1.4.2).

Der Beschwerdeführer rügt sodann, dass keine massive Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 7 Abs. 3 VSKV-ASTRA vorläge. Aus seiner Sicht kann es sich bei dieser Formulierung nur um Raserdelikte handeln. Dem widerspricht das Bundesgericht. Es geht hier darum „wichtige Fälle“ von Geschwindigkeitsdelikten zu erfassen. Wenn man, wie im vorliegenden Fall, die Höchstgeschwindigkeit um mehr als 50% überschreitet und eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist die Voraussetzungen eines „wichtigen“ bzw. massiven Falles erfüllt (zur ausführlichen Auslegung E. 2.4).


Urteile 6B_13-16/2024: Wo steht denn hier ne Tafel? (gutgh. Beschwerde)

Diese Urteile wurden auch schon in der Presse erwähnt, z.B. 20min. Es geht um eine Geschwindigkeitstafel bei einer Baustelle am Kerenzerberg, die nach Ansicht des Obergerichts Kt. GL so platziert war, dass sie von den Verkehrsteilnehmern nicht habe wahrgenommen werden können. Das Bundesgericht sieht das anders, weshalb wohl ca. 600 geblitzte Motorfahrzeugführer ihre Busse doch bezahlen müssen.

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Wir machen es hier besonders kurz: Signale müssen von den Verkehrsteilnehmern beachtet werden (Art. 27 Abs. 1 SVG). Das geht soweit, dass man auch rechtswidrig aufgestellte Signale (z.B. wenn Signale nicht ordentlich gemäss Art. 107ff. SSV veröffentlicht wurden) beachten muss. Signale vermögen Fahrzeuglenker nur zu verpflichten, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie leicht und rechtzeitig erkannt werden können. Der Standort von Signalen richtet sich nach Art. 103 SSV.

Die fragliche Signaltafel zur Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts auf 50 km/h stand im vorliegenden Fall am rechten Strassenrand etwas nach der Mitte einer Haarnadelkurve. Die Vorinstanz war der Meinung, dass insb. Motorradfahrer beim Befahren einer Linkskurve ihren Blick auf die weiterführende Strasse und nicht auf den rechten Fahrbahnrand richten. Zudem spreche der Umstand, dass ca. ein Viertel aller kontrollierten Lenker zu schnell waren, dafür, dass die Tafel schlecht sichtbar war. Das Bundesgericht sieht das anders. Die Tafel sei schon von weitem ersichtlich gewesen und auch wenn sie rechtswidrig aufgestellt worden wäre, hätte die Signalisationstafel wegen dem Vertrauensgrundsatz trotzdem beachtet werden müssen. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird insofern gutgeheissen.


Urteil 6B_731/2022: Das trügerische Radarfoto (gutgh. Beschwerde)

Auch in diesem Fall wehrt sich der Beschwerdeführer gegen die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Vorinstanz verfiel in Willkür, als sie davon ausging, dass das Radarfoto den Beschwerdeführer zeige.

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Vorliegend geht es um eine Tempoüberschreitung von 22 km/h innerorts, also um eine einfache Verkehrsregelverletzung bzw. eine Übertretung. Das Bundesgericht prüft hier, ob der Sachverhalt von der Berufungsinstanz willkürfrei festgestellt wurde (Art. 398 Abs. 4 StPO).

Der Beschwerdeführer bestreitet, das Auto im Zeitpunkt der Verkehrsregelverletzung gefahren zu sein. Das Radarfoto zeigt eine männliche Person mit einer Gesichtsmaske. Im Verlaufe des Verfahrens musste der Beschwerdeführer Passfotos sämtlicher männlicher Mitarbeiter einreichen, die mit dem geblitzten Auto fahren durften. Das erstinstanzliche Gericht stellte zunächst fest, dass anhand der Passfotos nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob der Beschwerdeführer selber gefahren sei. Bei der Hauptverhandlung war das Gericht allerdings der Meinung, ihn anhand eines Passfotos als Lenker erkannt zu haben. Dieses Passfoto zeigte aber den Bruder des Beschwerdeführers. Der Umstand, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer auf einem Passfoto zu erkennen glaubte, das nachweislich einen der anderen potentiellen Fahrer abbildet, muss gleichzeitig und unweigerlich massgebliche Zweifel an der Richtigkeit der Identifikation auf dem Radarbild begründen. Damit wurde der Sachverhalt aber willkürlich festgestellt. Die Sache wird zurückgewiesen.

Vertrauensgrundsatz und die unklare Verkehrssituation

Urteil 6B_272/2024: Vertrau mir doch!

Ein Busfahrer wehrt sich gegen eine Busse wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung. Er ist mit seinem Linienbus in Rapperswil-Jona auf einen Kreuzungsbereich eingefahren, ohne zu bremsen oder zu verlangsamen. Dabei handelt es sich um eine Kreuzung, von welcher bekannt ist und die Buschauffeure auch entsprechend geschult werden, dass andere Verkehrsteilnehmer sich nicht immer an Lichtsignale halten. Es kam, wie es kommen musste, es gab auf der Kreuzung ein Kollision und der Busfahrer wurde wegen einer Vortrittsmissachtung bestraft. Er habe sich in dieser speziellen Situation nicht auf den Vertrauensgrundsatz gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG verlassen dürfen. Im Gegenteil lag aus Sicht der Vorinstanz ein Anwendungsfall von Art. 26 Abs. 2 SVG vor. Der Buschauffeur hätte nämlich besonders vorsichtig sein müssen, weil es Anzeichen dafür gab, dass sich Verkehrsteilnehmer nicht richtig verhalten würden. Das sieht dieser natürlich überhaupt nicht so, obwohl er einige Verkehrsteilnehmer wahrnahm, die sich nicht an die Lichtsignale hielten. Den von links kommenden Unfallgegner sah er aber nicht (stark zusammengefasst E. 1.1 – 1.2).

Die Frage hier lautet also, wann liegt eine Situation vor, in welcher man sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, obwohl man kein Fehlverhalten eines Unfallbeteiligten feststellt?

Grundsätzlich darf man ja darauf vertrauen, dass sich auf der Strasse alle richtig verhalten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Dieser Grundsatz wird aber dadurch relativiert, dass dies nicht gilt, wenn sich jemand nicht richtig verhält. Dann muss man besondere Vorsicht walten lassen (Art. 26 Abs. 2 SVG). Es gibt aber Situationen, die so unübersichtlich sind, dass man generell defensiv fahren muss bzw. sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann. Das BGer definiert das so (E. 1.3.1):

„Ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers kann sich aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage aufdrängen, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts der besonderen Gefahrenneigung risikoarmes Verhalten gefordert.“

Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer ungebremst in eine Kreuzung, bei welcher bekannt ist, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht immer an die Regeln halten. Aus diesem Grund durfte der Busfahrer nicht darauf vertrauen, dass sich alle richtig verhalten, auch wenn er den Unfallgegner nicht gesehen hat. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Grundsatz der Formstrenge im Strafverfahren und weitere Urteile

Urteil 7B_211/2022: Einstellen oder nicht, das ist hier die Frage (gutgh. Beschwerde).

Dieses strafprozessual ziemlich komplexe Urteil beantwortet die Frage, was passiert, wenn ein Sachverhalt sowohl Übertretungs- als auch Vergehenstatbestände erfüllt, die Übertretungen aber bereits verjährt sind. Darf man dann für das Vergehen noch bestraft werden, wenn der Sachverhalt der Übertretungen in engem Zusammenhang stehen mit jenem des Vergehens? Konkret geht es um das Verursachen eines Bagatellunfalls (Art. 90 Abs. 1 SVG), dem darauffolgenden pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG) sowie der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG).

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Der Beschwerdeführer touchierte mangels Aufmerksamkeit beim Rückwärtsfahren auf einem Parkplatz ein anderes Fahrzeug, wobei Sachschaden entstand. Danach entfernte er sich von der Unfallstelle und trank zuhause Bier und wohl auch ein bisschen Schnaps. Mit Strafbefehl wurde er mit einer bedingten Geldstrafe bestraft. Im gerichtlichen Verfahren wurde die Verjährung der Übertretungs-Tatbestände, also dem Verursachen der Bagatellkollision (Art. 90 Abs. 1 SVG) sowie dem pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG), festgestellt. An der Verurteilung wegen der Vereitelung wurde aber festgehalten.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass das Strafverfahren mit der Verjährung der Übertretungs-Tatbestände hätte eingestellt werden müssen. Indem die Vorinstanz dies nicht tat, verletzte sie Art. 329 Abs. 4 und 5 StPO sowie den in Art. 2 Abs. 2 StPO geregelten Grundsatz der Formstrenge. Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass die Sachverhalte des Unfalles, des pflichtwidrigen Verhaltens und der Vereitelung so eng miteinander verknüpft sind, dass eine Einstellung nicht möglich war. Dies hätte den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzt. Denn wäre bzgl. dem Unfall und dem pflichtwidrigen Verhalten eine (Teil)Einstellung erfolgt, wäre eine Verurteilung wegen der Vereitelung nicht mehr möglich gewesen.

Kann kein Urteil ergehen, muss das Gericht das Verfahren einstellen. Dies ist der Fall, wenn ein Prozesshindernis besteht (Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO). Der Eintritt der Verfolgungsverjährung stellt ein solches Prozesshindernis dar und muss von Amtes wegen geprüft werden. Gemäss Art. 329 Abs. 5 StPO kann die Einstellung zusammen mit dem Urteil ergehen, wenn ein beim Gericht hängiges Verfahren nur in einzelnen Anklagepunkten eingestellt werden soll (E. 2.3.1).

Eine Teileinstellung ist aber nur dann möglich, wenn das Gericht mehrere Lebensvorgänge beurteilt, die für sich einer separaten Erledigung zugänglich sind. Wenn es nur um die Beurteilung wegen einem Lebenssachverhalt geht, ist eine teilweise Einstellung nicht möglich. Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Das würde den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzen (E. 2.3.2 und E. 2.3.3). Im Strafverfahren gilt zudem der Grundsatz der Formstrenge, d.h. Strafverfahren können nur nach den von der StPO vorgesehen Regeln erledigt werden (dazu ausführlich E. 2.3.4).

Das Bundesgericht stellt sich auf den Standpunkt, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanz die verschiedenen Tatvorwürfe zwar Teil eines übergeordneten Gesamtgeschehens bilden. Trotzdem lassen sich die einzelnen Vorwürfe klar gegeneinander abgrenzen. Zuerst der Unfall, dann das pflichtwidrige Verhalten und schliesslich die Vereitelung durch Konsum alkoholischer Getränke zuhause. Damit wäre wohl eine Teil-Einstellung möglich gewesen. Dies hätte das erstinstanzliche Gericht aus Sicht des Bundesgericht machen müssen. Indem dieses es unterliess, das Strafverfahren bzgl. der verjährten Übertretungen einzustellen, verletzte es den Grundsatz der Formstrenge (E. 2.4.4). Zudem wurde vorliegend auch die Unschuldsvermutung verletzt. Denn bei der Begründung der Vereitelung führte die Vorinstanz aus, dass der Beschwerdeführer den Bagatellunfall schuldhaft verursachte, obwohl er dafür nie rechtskräftig verurteilt wurde.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache zurückgewiesen. Bei den Übertretungen muss die Vorinstanz das Strafverfahren einstellen. Bzgl. Vereitelung muss sie prüfen, ob eine Verurteilung unter Beachtung des Anklagegrundsatzes und der Unschuldsvermutung noch möglich ist.

Honorable Mentions

Unter dieser Rubrik werden einfach die Urteile aufgelistet, die keine augenöffenden Inhalte bieten. Sie dient bestenfalls dazu, dass man die eigene Urteilssammlung auf den neuesten Stand bringen kann. Es besteht dabei auch kein Anspruch auf Vollständigkeit…

Urteil 1C_482/2023: Abstand

Wer mit auf der Autobahn dem vorfahrenden Fahrzeug bei 90 km/h mit einem Abstand von 20 Metern folgt (entspricht 0.8 s), begeht eine mittelschwere Widerhandlung. Diese wird mit mind. einem Monat Führerscheinentzug sanktioniert. Der Entscheid enhält in E. 2.2 eine gute Auflistung der Rechtsprechung zu verschienen Fällen von Abstandsunterschreitungen.

Urteil 6B_55/2024: Geschwindigkeit

Wer innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 28 km/h überschreitet, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG. In E. 2.3. äussert sich das Bundesgericht exemplarisch zum allseits bekannten und in der Rechtsprechung fest verankerten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten. Der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfordert eine Rücksichtslosigkeit der beschuldigten Person. Diese liegt auch vor, wenn der Täter die gefahrene Strecke noch als Ausserortsstrecke mit einem Tempolimit von 80 km/h kannte und mangels genügender Aufmerksamkeit übersah, dass sich die Signalisation bzgl. Geschwindigkeit auf der gefahrenen Strecke zwischenzeitlich änderte.

Urteil 7B_221/2022: Das Handy am Steuer

Wer während dem Autofahren für ca. 3 Sekunden auf das Handy schaut und die Navigations-App mit dem Daumen bedient, begeht eine einfache Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) durch Vornahme einer Verrichtung, die die Bedienung des Fahrzeuges erschwert (Art. 3 Abs. 1 VRV). Dieser Entscheid hilft weiter dabei abzugrenzen, wann das Verwenden von Handys beim Autofahren als einfache Verkehrsregelverletzung zu bestrafen ist und wann lediglich eine Ordnungsbusse vorliegt. Eine Ordnungsbusse gibt es z.B. wenn man bei günstigen Verkehrsverhältnissen für zwei Sekunden auf das Handy schaut (vgl. dazu den Beitrag vom 31. Mai 2023 zu Urteil 6B_27/2023).

Rückblick auf die letzten Wochen des Werkelns unserer Bundesrichter

Nach einer gewissen Down-Time schauen wir zurück, was beim Bundesgericht in Sachen SVG so los war. Die absoluten Blockbuster waren nicht dabei. Dafür dienen die neuen Urteile gut für eine gemütliche Lektüre am Cheminée…

Urteil 1C_340/2022: Da muss man halt die Schulbank drücken

Dieses Urteil befasst sich exemplarisch mit dem Verkehrsunterricht nach Art. 40 VZV und unter welchen Voraussetzungen dieser angeordnet werden kann. Spoiler: Die Hürden sind tief.

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Die Beschwerdeführerin ist innerorts 16 km/h zu schnell gefahren. Diese leichte Widerhandlung wurde wegen den Vorbelastungen mit einem Führerausweis-Entzug sanktioniert. Zudem wurde die Beschwerdeführerin zum Besuch eines Verkehrsunterrichts verpflichtet.

Zunächst stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, dass es sich bei ihrer Geschwindigkeitsüberschreitung um einen besonders leichten und damit nicht zu bemassnahmenden Fall handelt. Ein besonders leichter Fall liegt allerdings nur vor, wenn Verschulden und Gefährdung besonders leicht sind (E. 3.1). Nach dem in der Rechtsprechung entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten, besteht aber bei einer Tempoüberschreitung innerorts um 16 km/h immer die naheliegende Gefahr eines Verkehrsunfalles, z.B. mit Fussgängern (E. 3.3), weshalb von einer leichten Widerhandlung ausgegangen werden muss.

Die Beschwerdeführerin möchte nicht am Verkehrsunterricht teilnehmen. Sie kenne die Verkehrsregeln. Nach ihrer Ansicht sei der pädagogische Wert der Nachschulung fraglich und habe hauptsächlich pönalen Charakter.

Gemäss Art. 40 VZV bezweckt der Verkehrsunterricht, dass die betroffene Person durch gezielte Nachschulung zu korrektem Verhalten im Strassenverkehr angehalten wird (Abs. 2). Vorausgesetzt ist, dass die betroffene Person wiederholt gegen das SVG verstossen hat (Abs. 3). Der Besuch des Verkehrsunterrichts kann alleine oder mit anderen Massnahmen angeordnet werden (Abs. 4).

Eine wiederholte Verkehrsregelübertretung liegt schon dann vor, wenn jemand innert kurzer Zeit zweimal gegen Verkehrsregeln verstossen hat. Ob es sich dabei um dieselben oder verschiedene Regeln handelte, ist unerheblich. Die Massnahme muss verhältnismässig sein, also auch dazu geeignet, dass die betroffene Person künftig nicht mehr gegen Verkehrsregeln verstösst. Die Hürden dazu sind aber tief. Der Besuch des Verkehrsunterrichts ist schon dann gerechtfertigt, wenn aus den Umständen geschlossen werden muss, dass der betroffenen Person der Zweck einzelner Verkehrsvorschriften nicht einsichtig ist und sie sich deswegen der Gefahren nicht bewusst ist, die sie durch deren Übertretung für andere Verkehrsteilnehmende schafft (E. 5.1).

Da die Beschwerdeführerin innert sieben Jahren viermal zu schnell fuhr, durfte daraus geschlossen werden, dass die bisherigen Massnahmen keine erzieherische Wirkung zeigten. Aus diesem Grund ist es vorliegend gerechtfertigt, dass die Beschwerdeführerin am Verkehrsunterricht teilnehmen muss, auch weil sie nur beschränkte Einsicht in ihr Fehlverhalten zeigte. Anders kann z.B. ein Fall beurteilt werden, wenn jemand nach zwei Widerhandlungen bereits Einsicht und Reue zeigt. Dann ist ein Verkehrsunterricht als Massnahme nicht mehr nötig, um die betroffene Person zu verkehrskonformem Verhalten zu erziehen (vgl. dazu Urteil 1C_330/2011 E. 4).


Urteil 6B_723/2023: Ein „Nein“ reicht aus

Dieses Urteil befasst sich damit, ab welcher Handlungs-Intensität eine Atemalkoholprobe als vereitelt gilt.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit. Eine Drittperson meldete der Polizei, dass eine offensichtlich angetrunkene Person mit dem Auto von einer Lokalität nach Hause gefahren ist. Als die Polizei später beim Beschwerdeführer zuhause ankam, stand der Fahrzeug vor seinem Wohnhaus. Als die Polizei dann eine Atemalkoholprobe durchführen wollte, verweigerte der Beschwerdeführer diese mehrmals, indem er dazu „Nein“ sagte.

Den Tatbestand der Vereitelung gemäss Art. 91a Abs. 1 SVG erfüllt, wer sich vorsätzlich einer Atemalkoholprobe oder einer anderen Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit widersetzt. In dieser Situation muss die Polizei die betroffene Person auf die rechtlichen Folgen der Vereitelung aufmerksam machen (s. Art. 13 SKV). Sich im Sinne von Art. 91a Abs. 1 SVG zu widersetzen, bedeutet, sich so zu verhalten, dass eine angeordnete Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit zumindest vorerst nicht vollzogen werden kann. Die Tathandlung des Widersetzens kann in einem aktiven oder passiven Widerstand bzw. einer entsprechenden Verweigerung an der Mitwirkung an oder Duldung der Untersuchungsmassnahme bestehen. Auch passiver Widerstand setzt jedoch ein aktives Störverhalten von einer gewissen Intensität voraus. Unter diesen Voraussetzungen kann ein verbaler Widerstand den Tatbestand erfüllen (E. 2.3.3).

Gemäss dem korrekt festgestellten Sachverhalt lenkte der Beschwerdeführer sein Fahrzeug ca. 10 Minuten vor dem Eintreffen der Polizei, womit ein genügender Bezug zum Strassenverkehr bestand, auch wenn die Polizei den Beschwerdeführer erst zu Hause kontrollierte. Als die Polizei die Atemalkoholprobe durchführen wollte, verweigerte der Beschwerdeführer diese, indem er dazu mehrfach „Nein“ sagte. Seine verbale Weigerung, an der Atemalkoholprobe mitzuwirken, war damit von genügender Intensität, um den Straftatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG zu erfüllen (E. 2.7).

Die Beschwerde wird abgewiesen.


Urteil 1C_628/2022: Haare lügen nicht

In diesem Urteil geht es um die Frage, ob gewisse Ungereimtheiten bei der Auswertung einer Haaranalyse deren Verwertung als Beweis willkürlich macht.

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Nach einem Sicherungsentzug im Jahr 2014 wegen einer Alkohol- und Betäubungsmittelproblematik wurde dem Beschwerdeführer die Fahrerlaubnis im Februar 2022 wieder erteilt, unter der Auflage eine Alkohol- und Betäubungsmitteltotalabstinenz einzuhalten. Im Juni 2022 wurde im Rahmen der Auflagenkontrolle eine Haarprobe genommen, welche ergab, dass der Beschwerdeführer Kokain konsumiert habe. Die Fahrerlaubnis wurde daraufhin gemäss Art. 17 Abs. 5 SVG wieder entzogen.

Der Beschwerdeführer bemängelt die Auswertung der Haarprobe als offensichtlich unrichtig. So wurde aufgeführt, dass er das Medikament Concerta einnehme, obwohl er als ADHS-Betroffener Ritalin bekomme. Zudem bemängelt er, dass ihm die Auswertung einerseits eine Alkoholabstinenz attestiere, denn Ethylglucuronid (Stoffwechselprodukt von Alkohol) wurde nicht nachgewiesen. Zugleich ergab aber die Auswertung, dass in seinen Haaren Cocaethylen nachgewiesen wurde, ein Stoffwechselprodukt, dass nur beim kombinierten Konsum von Alkohol und Kokain entsteht. Daraus schliesst er, dass möglicherweise die Haarproben verwechselt wurden.

Motorfahrzeugführer müssen fahrgeeignet sein, d.h. unter anderem frei von Süchten (Art. 14 Abs. 2 lit. c SVG). Nach einem Sicherungsentzug wegen einer Suchtproblematik wird i.d.R. zum Nachweis der Heilung eine mindestens einjährige Kontrollierte Abstinenz verlangt. Vermag eine Person eine Abstinenzauflage nicht einzuhalten, muss die Fahrerlaubnis ohne weitere (verkehrsmedizinische) Abklärungen wieder entzogen werden (E. 2.2). Gutachterliche Haaranalysen sind ein geeignetes Mittel für Abstinenzkontrollen und für Behörden und Gerichte grds. verbindlich, sofern das Abstützen auf ein offensichtlich unrichtiges Gutachten nicht willkürlich ist (E. 3.2).

Der Beschwerdeführer wies nach, dass er gemäss seinen behandelnden Ärzte nicht mit Concerta therapiert wurde. Die Auswertung der Haaranalyse war in diesem Punkt offensichtlich falsch. Da aber Concerta und Ritalin den gleichen Wirkstoff „Methylphenidat hydrochlorid“ beinhalten und dieser sowieso nicht für die Beurteilung der Fahreignung des Beschwerdeführers hinzugezogen wurde, fiel dieser Umstand nicht ins Gewicht. In Bezug auf das Cocaethylen führt das Bundesgericht aus, dass es sich dabei um einen anderen Metaboliten handelt, wie beim Ethylglucuronid. Generell besteht beim Nachweis von Metaboliten in Haaren eine Messunsicherheit von +/-30%. Es ist insofern möglich, dass der Beschwerdeführer Alkohol getrunken hat, dieser aber nicht mehr nachweisbar ist. Es gelingt dem Beschwerdeführer deshalb nicht nachvollziehbar aufzuzeigen, wie das Ergebnis der Haaranalyse widersprüchlich bzw. unhaltbar sein soll (E. 3.4.2).

Alles in allem durfte die Vorisntanz auf die Haaranalyse abstützen, ohne dabei in Willkür zu verfallen.


Urteil 1C_485/2023: Selbstunfall wegen Doppelsehen ist mittelschwere Widerhandlung

Tja, der Titel sagt es bereits, dieser Entscheid befasst sich damit, ob nach einem Selbstunfall wegen einem Doppelsehens wegen Unterzuckerung noch eine leichte Widerhandlung angenommen werden kann oder eben nicht.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen einmonatigen Führerausweis-Entzug. Im Mai 2022 erlitt er beim Autofahren einen Rückgang seines Blutzuckerspiegels mit einer anschliessenden Sehstörung (Doppelsehen). Seine Fahrt setzte er dennoch fort. In einem Kreisel streifte er sodann den Rand der Mittelinsel. Bei der Ausfahrt aus dem Kreisel kollidierte er mit einem Bienenpfosten, wo sein Fahrzeug stecken blieb.

Vor Bundesgericht verlangt der Beschwerdeführer in Annahme einer leichten Widerhandlung eine Verwarnung. Es erstaunt nicht, dass das Bundesgericht die Meinung der Vorinstanz schützt, dass die Gefährdung bei dieser Sachlage mittelschwer war. Der Beschwerdeführer fuhr mit seinem Auto weiter, obwohl ihm wegen dem Abfall seines Blutzuckerspiegels unwohl war und er Doppelbilder sah. Trotz seines Unwohlseins setzte er seine Fahrt über eine Strecke von mehr als 250m fort und überquerte dabei noch zwei Fussgängerstreifen, obwohl er ohne weiteres hätte parkieren können. Da die Gefährdung mittelschwer war, musste sich die Vorinstanz auch nicht mehr vertieft mit dem Verschulden des Beschwerdeführers auseinandersetzen. Auch wenn dieses leicht gewesen wäre, wäre trotzdem der Auffangtatbestand der mittelschweren Widerhandlung zum Zug gekommen. Auch seine persönlichen Umstände, dass er z.B. seine ältere Partnerin mit dem Auto herumfahren muss, vermag hier nichts zu ändern (E. 2).

Vorsicht Meinung: Der Beschwerdeführer kann sich mit einem Monat Führerausweis-Entzug glücklich schätzen. Wer trotz Unwohlseins und Doppelsehen nicht sofort anhält und weiterfährt, befindet sich in fahrunfähigem Zustand aus medizinischen Gründen. Es ist deshalb erstaunlich, dass der Beschwerdeführer nicht gemäss Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG bestraft wurde. Theoretisch wäre es auch möglich gewesen, dass die Administrativ-Behörde den Sachverhalt rechtlich anders beurteilt hätte. Bei dieser Sachlage wäre die Annahme einer schweren Widerhandlung ebenfalls vertretbar gewesen.

Endspurt zum Jahresende mit spannenden Bundesgerichtsurteilen

Zum Jahresende hat das Bundesgericht noch einmal Vollgas gegeben und einige interessante Urteile zum Strassenverkehrsrecht veröffentlicht. Einige davon dürften die SVG-Cracks hier weniger überraschen. Als Lektüre ist aber insb. Urteil 1C_550/2022 zu empfehlen, da es sich zu einer interessanten Konstellation im Zusammenhang mit der charakterlichen Fahreignung beim Kaskadensicherungsentzug äussert. Viel Spass beim Lesen und gutes (metaphorisches) Rutschen.

Urteil 1C_550/2022: Der Entzug der Spezialkategorien und die Folgen in der Kaskade

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob ein Entzug der Spezialkategorien F, G und M gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV ebenfalls mitzuzählen ist, wenn aufgrund der Kaskade ein Kaskadensicherungs-Entzug ansteht.

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Der Beschwerdegegner blickt auf eine reichhaltige SVG-Geschichte zurück:

25. November 2009 – Geschwindigkeitsüberschreitung – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1 Monat
24. Juni 2013 – Geschwindigkeitsüberschreitung – leichte Widerhandlung – Verwarnung
26. Mai 2014 – Auffahrkollision – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1.5 Monate
11. Oktober 2014 – nicht gesicherte Ladung auf Anhänger von Traktor – mittelschwere Widerhandlung – Zusatzmassnahme zur vorgenannten Massnahme, Entzug der Spezialkategorien F, G und M, Kat. B weiterhin fahrberechtigt.
19. Oktober 2019 – Lenken eines nicht betriebssicheren Traktors – mittelschwere Widerhandlung – Kaskadensicherungsentzug gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG.

Die kantonalen Instanzen hoben den Kaskadensicherungsentzug auf. Dagegen führt das Strassenverkehrsamt Beschwerde beim Bundesgericht. Es stellt sich auf den Standpunkt, dass dem Beschwerdegegner gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG der Führerausweis nun zum vierten Mal wegen einer mittelschweren Widerhandlung entzogen werde, weshalb ein Kaskadensicherungsentzug angeordnet werden muss. Bei diesem besteht sodann die gesetzliche Vermutung der fehlenden charakterlichen Fahreignung gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG. Das Strassenverkehrsamt stützte sich bei seiner Begründung für den Sicherungsentzug auch auf das Urteil 1C_248/2020, gemäss welchem auch Zusatzmassnahmen bei der Anordnung eines Kaskadensicherungsentzugs berücksichtigt werden müssen (E. 4.3).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich zum im Urteil 1C_248/2020 behandelten Sachverhalt aber darin, dass vorliegend bei der mittelschweren Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 nur die Spezialkategorien entzogen wurden.

Ein (Kaskaden)Sicherungsentzug aus charakterlichen Gründen greift schwer in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person ein. Deshalb darf ein Sicherungsentzug nur dann angeordnet werden, wenn aufgrund des Verhaltens der betroffenen Person klar ist, dass diese auch künftig gegen die Verkehrsregeln verstossen wird. In anderen Worten muss eine Rückfallgefahr bestehen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG so auszulegen, dass die Vorbelastungen nur zu einem Kaskadensicherungsentzug führen können, wenn sie mit einer Hauptkategorie, also z.B. Kat. A oder B, begangen wurden. Denn nur dann kommt der Warnmassnahme „generelle Wirkung“ zu, indem der erzieherische Warnentzug gemäss Art. 33 Abs. 1 VZV über sämtliche Kategorien erfolgt. Im vorliegenden Fall betraf der Warnentzug bzgl. der Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 aber nur die Spezialkategorien F, G und M. Weil dabei die Kat. B nicht entzogen wurde, hatte die Massnahme keine „generelle Wirkung“ bzw. nur eine sehr eingeschränkte erzieherische Wirkung, weshalb sie bei der Prüfung eines Kaskadensicherungsentzugs gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG nicht berücksichtigt werden darf.

Die Beschwerde des Strassenverkehrsamtes wird deshalb abgewiesen.

Vorsicht Meinung: Dieser Entscheid ist nur schwierig nachvollziehbar. Denn einerseits stellt sich die Frage, wie diese Rechtsprechung handzuhaben ist, wenn jemand nur im Besitz von Spezialkategorien ist, denn dort hätte ein Warnentzug wiederum „generelle Wirkung“. D.h. theoretisch wäre es möglich, dass eine Person, die nur Spezialkategorien hat, anders behandelt würde, als jene, die noch über Hauptkategorien verfügt. Zudem können Widerhandlungen mit einem landwirtschaftlichen Fahrzeug der Kat. G weitaus gefährlicher sein, als solche mit einem Fahrzeug der Kat. B. Im vorliegenden Fall hat die betroffene Person ohne weiteres bewiesen, dass sie nicht gewillt ist, die Verkehrsregeln einzuhalten. Eine sichernde Massnahme wäre angebracht gewesen.


Urteil 6B_500/2023: Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit

Dieses Urteil befasst sich mit der Abgrenzung zwischen (eventual)vorsätzlicher und (bewusst) fahrlässiger Tötung nach einem Strassenverkehrsdelikt.

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Der Beschwerdegegner fuhr im September 2021 ausserorts hinter einem anderen Auto her. Als dieses wegen zwei Fussgängern auf der rechten Strassenseite und einem entgegenkommenden Lieferwagen seine Fahrt verlangsamte, setzte der Beschwerdegegner zum Überholen an. Beim Überholmanöver gab es zunächst eine Streifkollision zwischen dem Beschwerdegegner und dem Lieferwagen. Als der Beschwerdegegner wieder auf die rechte Fahrbahn einbog, kollidierte er frontal mit den beiden Fussgängern. Eine Person starb an den Verletzungen. Im kantonalen Verfahren wurde der Beschwerdegegner u.a. wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung und Fahren in fahrunfähigem Zustand verurteilt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Der Beschwerdegegner sei wegen (versuchter) eventualvorsätzlicher Tötung schuldig zu sprechen.

Bei krassen Verkehrsunfällen kann die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit schwierig sein. Eventualvorsätzlich handelt, wer mit dem Eintritt eines Taterfolges – also hier dem Tod eines Menschen – rechnet, aber dennoch handelt, weil man den Taterfolg in Kauf nimmt bzw. sich damit abfindet. Die bewusst fahrlässig handelnde Person rechnet zwar auch mit dem Eintritt des Taterfolgs, vertraut aber in pflichtwidriger Weise darauf, dass der Erfolg nicht eintritt. Ohne Geständnis der beschuldigten Person, muss der Richter anhand der Einzelfallumstände entscheiden, ob der Täter oder die Täterin den Taterfolg billigte. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (E. 2.3.2). Bei Strassenverkehrsdelikten darf eine eventualvorsätzliche Tatbegehung aber nicht leichthin angenommen werden. Nur in krassen Fällen darf davon ausgegangen werden, dass sich der Täter oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (zum Ganzen E. 2.3.5).

Im vorliegenden Fall fuhr der Beschwerdegegner in fahrunfähigem Zustand (Art. 31 Abs. 2 SVG) und überholte ein anderes Fahrzeug in waghalsiger Art und Weise (Art. 35 Abs. 3 i.V.m. Art. 90 Abs. 3 SVG). Da er aber zu Beginn des Überholmanövers die Fussgänger auf der Fahrbahn noch nicht erblickte, konnte er nicht vorhersehen, dass sich ein Unfall mit Todesfolge ergeben könnte. Deshalb konnte vorliegend nicht darauf geschlossen werden, dass er erkennen musste, dass ein Unfall mit Todesfolge droht. Insofern kann dem Beschwerdegegner auch nicht angelastet werden, dass er mit dem krassen Überholmanöver den Tod der Fussgänger in Kauf nahm.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird in diesem Punkt abgewiesen.


Urteil 6B_85/2023: Ein Ausweichemanöver als grobe Verkehrsregelverletzung

Wenn man zuwenig Abstand einhält aufgrund eines verkehrsbedingten Anhaltens des vorfahrenden Autos ausweichen muss und einen Unfall verursacht, liegt eine grobe Verkehrsregelverletzung vor.

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Der Beschwerdeführer fuhr nachmittags einem anderen Auto nach. Dieses musste anhalten, um dem Gegenverkehr das Kreuzen zu ermöglichen. Der Beschwerdeführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, wich nach rechts auf eine Wiese aus, touchierte leicht das Heck des vorfahrenden Fahrzeuges, fuhr durch einen Holzzaun in einen Graben und kam schliesslich bei einer Scheune zum Stillstand.

Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht das hier eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt. Die sich in diesem Fall stellende Frage ist, ob sich der Beschwerdeführer rücksichtslos verhalten hat und damit den subjektiven Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung erfüllte. Rücksichtslos i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG handelt der Täter auch, wenn er sich grobfahrlässig verhält. Dies ist auch bei unbewusst fahrlässigem Verhalten möglich. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen. Je schwerer die Unfallfolgen, desto eher kann auch von Rücksichtslosigkeit ausgegangen werden, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen. Allerdings muss die Annahme restriktiv erfolgen und nicht jede Unaufmerksamkeit wiegt automatisch auch schwer (zum Ganzen ausführlich E. 1.2.1).

Im vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer nicht aufmerksam (Art. 31 Abs. 1 SVG) und hielt zuwenig Abstand ein zum vorfahrenden Fahrzeug (Art. 34 Abs. 4 SVG). Als Fahrzeuglenker muss man grds. immer genug Abstand haben, sodass man auch rechtzeitig anhalten kann, wenn das vorfahrende Auto eine Notbremsung einleitet (zu diesen beiden Verkehrsregeln ausführlich E. 1.2.2). Bei beiden Regeln handelt es sich um wichtige Regeln. Der Beschwerdeführer wandte seinen Blick seiner Beifahrerin zu und achtete nicht auf die Strasse, obwohl diese relativ schmal war, wegen Blütenstaub rutschig und auch noch Velofahrer unterwegs waren. Unter diesen Umständen liegt entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers keine „normale“ Auffahrkollision vor, die als einfache Verkehrsregelverletzung hätte bestraft werden können. Die durch den Beschwerdeführer geschaffene Gefahr erfüllte ohne weiteres den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG. Da es im vorliegenden Fall keine besonderen Gegenindizien gab, durfte die Vorinstanz von der objektiv groben Verkehrsregelverletzung auf ein grobfahrlässiges Handeln des Beschwerdeführers schliessen.


Urteil 1C_168/2022: Unfall im Kreisel – Qualifikation der Widerhandlung

Wenn man die Kreiselvorfahrt missachtet und einen Verkehrsunfall verursacht, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor.

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Die Beschwerdeführerin wurde mit einer Busse von CHF 300.00 bestraft, weil sie beim Einfahren in einen Kreisel einen Velofahrer übersah und mit diesem kollidierte. Daraufhin wurde ihr der Führerausweis wegen einer mittelschweren Widerhandlung für einen Monat entzogen. Damit ist sie aber nicht einverstanden und verlangt als Massnahme eine Verwarnung. Aus ihrer Sicht habe man zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nur Schrittgeschwindigkeit gefahren sei. Ebenfalls habe man das Fahrverhalten des Unfallgegners nicht mitberücksichtigt.

Die Beschwerdeführerin muss sich anlasten lassen, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nicht aufmerksam war (Art. 31 Abs. 1 SVG). Dadurch missachtete sie den Vortritt des sich im Kreisel befindlichen Fahrradfahrers (Art. 41b VRV). Damit diese Verkehrsregelverletzung noch mit einer Verwarnung sanktioniert werden könnte, müsste durch das Verhalten der Beschwerdeführerin lediglich eine geringe Gefahr entstanden sein und ihr Verschulden leicht sein (E. 3.1.2.).

An den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt ist die Verwaltungsbehörde grds. gebunden, in der rechtlichen Würdigung einer Verkehrsregelverletzung ist sie hingegen frei (E. 3.2). Aus diesem Grund kann sich die Beschwerdeführerin nicht darauf stützen, dass sie im Strafverfahren wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer milden Busse von CHF 300.00 bestraft wurde. Massgeblich für die Administrativmassnahme ist die Gefährdung sowie das Verschulden. Auch wenn die Beschwerdeführerin langsam in den Kreisel gefahren sein sollte, war die von ihr geschaffene und konkrete Gefahr nicht mehr leicht. Der Velofahrer stürzte wegen den Kollision und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Da damit die Voraussetzungen der leichten Widerhandlung nicht erfüllt sind, kommt der Auffangtatbestand der mittelschweren Widerhandlung zum Zug. Auf das Verschulden wird im Entscheid nicht eingegangen.

Unsachgemäss gekoppelter Anhänger gibt Führerausweis-Entzug

Urteil 1C_610/2022: Die Krux mit dem Sicherungsseil

Dieses Urteil befasst sich mit der Gefahr, die von einem unsachgemäss montierten Anhänger-Sicherungsseil ausgeht und welche Massnahme in diesem Fall droht.

Der Beschwerdeführer wehrt sich in diesem Fall gegen die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung bzw. einen viermonatigen Entzug des Führerausweises. Er fuhr mit einem Personenwagen mit einem Anhänger an eine Kreuzung, an welcher er verkehrsbedingt anhalten musste. Als er wieder losfuhr, riss die ganze Kupplungsvorrichtung vom Zugfahrzeug. Der Anhänger rollte danach über ein Trottoir und kam in einer Hauswand zum Stillstand. Im Strafverfahren wurde davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer den Anhänger korrekt angekuppelt hatte, weshalb ihm diesbzgl. kein Vorwurf gemacht wurde. Vorgeworfen wurde ihm aber, dass er das Sicherungsseil des Anhängers nur um die Kupplung legte und nicht vorschriftsgemäss am Zugfahrzeug befestigte. Der Beschwerdeführer war aber der Meinung, dass er gar kein Sicherungsseil benötigte, weil sein Anhänger über eine Auflaufbremse verfügte und der Anhänger über 1.5 Tonnen wog. Der Streit dreht sich also darum, ob das Sicherungsseil des Anhängers korrekt angebracht bzw. überhaupt nötig war.

In den Verkehr gebrachte Fahrzeuge müssen betriebssicher sein (Art. 29 SVG). Anhänger dürfen nur verwendet werden, wenn u.a. die Anhängevorrichtung betriebssicher ist (Art. 30 Abs. 3 SVG). Vor der Wegfahrt muss man prüfen, ob ein Anhänger zuverlässig angekuppelt ist (Art. 70 Abs. 1 VRV). In der VTS wiederum ist in Art. 189 geregelt, welche Anforderungen an Anhänger gestellt werden. Löst sich ein Anhänger unbeabsichtigt vom Zugfahrzeug, muss die Bremse selbstständig wirken. Davon ausgenommen sind Anhänger unter 1.5 Tonnen (Abs. 4). Solche Anhänger müssen aber mit einer Sicherheitsverbindung zum Zugfahrzeug gesichert werden (Abs. 5).

Der Anhänger des Beschwerdeführers war zwar über 1.5 Tonnen schwer, hatte aber nur eine Auflaufbremse. Diese wirkt nur im Zusammenhang mit einem Bremsmanöver des Zugfahrzeuges. Abgekoppelt wirkt sie nicht. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz sowie einem Merkblatt des TCS zum korrekten Kuppeln von Anhängern stellt das Bundesgericht fest, dass ein Anhänger mit Auflaufbremse stets mit einem Sicherungsseil direkt mit dem Zugfahrzeug verbunden werden muss. Nur so kann verhindert werden, dass ein während der Fahrt abgekoppelter Anhänger unkontrolliert weiterrollt (E. 4.).

Der Beschwerdeführer war sodann der Ansicht, dass das falsche Anbringen des Sicherungsseils eine besonders leichte eventualiter eine leichte Widerhandlung sei. Er begründet dies damit, dass er höchstens im Schritttempo gefahren sei, dass sich das falsche Anbringen des Sicherungsseils in keinster Weise auf den Unfall auswirkte und dass seine ganze Anhängerkupplung schon nach einigen Metern nach dem Verlassen des Privatgrundstücks komplett weggebrochen sei. Dem widerspricht das Bundesgericht. Das unkorrekte Anbringen eines Sicherungsseils birgt in sich bereits eine erhöht abstrakte Gefährdung z.B. für Fussgänger oder Velofahrer. Das Mass der geschaffenen Gefährdung hängt dabei nicht von der Länge der Fahrtstrecke ab, auch wenn die Gefährdung tendenziell zunimmt, je länger man mit unkorrekt angebrachten Sicherungsseil fährt. Vorliegend ging die Vorinstanz zu Recht von einer erhöhten Gefahr gemäss Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG aus.

Fazit: Lieber einmal mehr bücken und das Sicherungsseil korrekt am Zugfahrzeug befestigen.

Kleiner Ferienrückblick

Da liegt man gemütlich am Stand auf einer subtropischen Insel und kann nur an eines denken: Was gibt es bloss für Neuigkeiten in der Schweiz zum Strassenverkehr. Wir schauen zurück auf die letzten paar Wochen und fassen Aktuelles kurz zusammen. Da die Leserschaft hier aus eingefleischten SVG-Nerds besteht, dürften die meisten Neuerungen sowieso schon bekannt sein.

Änderung des SVG per 1. Oktober 2023

Viele der Änderungen haben wir entweder schon im Blog behandelt, oder sie wurden in der Presse bereits ausführlich diskutiert. Deshalb hier nur noch die summarische Auflistung:

  • Mehr richterliches Ermessen bei der Sanktionierung von Raserdelikten
    In Einzelfällen kann die Mindeststrafe von einem Jahr unterschritten werden, was auch zu einem kürzeren Führerausweisentzug führt.
  • Widerhandlungen mit FAP
    Die „Lex Freysinger“ hat ihren Spiessrutenlauf hinter sich. Eine leichte Widerhandlung führt nicht mehr zur Verlängerung der Probezeit oder dessen Annullation.
  • Erleichterungen für Blaulichtorganisationen
    Damit Ordnungskräfte ihre (Hilfs-)Einsätze wahrnehmen können, wird das Gesetz angepasst.
  • Halterhaftung für juristische Personen bei Ordnungsbussen
    Im Urteil 6B_252/2017 entschied das BGer, dass für Ordnungsbussen für juristische Personen die gesetzliche Grundlage fehlt. Diese wird nun nachgereicht (Art. 7 Abs. 1 OBG)
  • Regulierung von Fahrzeugen mit Automatisierungssystem in Art. 25a

Weitere Infos:
Medienmitteilung ASTRA vom 16.8.2023

Einige erwähnenswerte neue Urteile

  • Urteil 1C_104/2023: Rechtsüberholen und seine Folgen
    Ein als einfache Verkehrsregelverletzung bestraftes Rechtsüberholen (zwei Fahrzeuge gleichzeitig auf dreispuriger Autobahn) ist eine mittelschwere Widerhandlung. Mit den entsprechenden Vorbelastungen führt das zu einem Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit. Das Überholmanöver konnte nach der neueren Rechtsprechung auch nicht unter den Ordnungsbussentatbestand subsumiert werden, da der Beschwerdeführer auf einer dreispurigen Autobahn ohne zu blinken von der linken auf die rechte Spur wechselte und bei mittlerer Verkehrsauslastung gleich vier Fahrzeuge überholte.
  • Urteil 6B_1137/2022: Das ultimative Drängeln
    Wer auf der Autobahn ein vorfahrendes Fahrzeug mit der Frontstossstange „antütscht“, um dessen Fahrer zu einem Spurwechsel zu „überzeugen“ und sodass dieser verunfallt, begeht eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung.
  • Urteil 6B_254/2023: Denkt an den Wald!
    Auch wenn die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 km/h ausserorts u.a. im Rahmen der Debatte zum „Waldsterben“ eingeführt wurde und es dem Wald heute wieder gut geht, heisst das natürlich nicht, dass die Tempolimite heute keine Relevanz mehr hat. Denn die Regeln zur Höchstgeschwindigkeit dienen natürlich vorwiegend der Verkehrssicherheit. Insofern ist eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 34km/h ausserorts eine grobe Verkehrsregelverletzung. Zum Thema: Artikel Tagesanzeiger vom 6.1.2015: „Wie das Waldsterben die Schweizer Strassen sicherer machte“
  • Urteil 1C_630/2022: Signale bitte beachten
    Wer auf der Autobahn übersieht, dass die linke Spur gesperrt ist, zum Überholen ansetzt und danach verunfallt, sodass sogar Strassenarbeiter in Sicherheit hechten müssen, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. eine schwere Widerhandlung.
  • Urteil 6B_1059/2022: Ordnungsbusse oder nicht?
    Der Beschwerdegegner überschritt auf der Autobahn bei einer Baustelle die Höchstgeschwindigkeit von 60km/h um 21km/h. Dafür wurde er von der Berufungsinstanz mit einer Ordnungsbusse von CHF 260 bestraft. Die Staatsanwaltschaft erhebt Beschwerde gegen dieses Urteil. Grds. ist die Staatsanwaltschaft der Meinung, dass das Gefährdungspotential unter diesen Umständen nicht mit den Ordnungsbusstentatbeständen verglichen werden kann und deshalb von einer einfachen Verkehrsregelverletzung ausgegangen werden muss. Sie beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts, nach welcher Abschnitte der Autobahn, die von einer Geschwindigkeitsbegrenzung unterhalb von 120 km/h betroffen sind, hinsichtlich des Gefahrenpotentials mit einer Ausserortsstrecke vergleichbar sind und deshalb bezüglich Geschwindigkeitsüberschreitungen im Regelfall die von der Rechtsprechung für Ausserortsstrecken entwickelten Grundsätze anzuwenden sind (Urteile 6B_444/2016 E. 1.3.1 und 6B_973/2020 E. 2.1).
    Das Ordnungsbussenverfahren muss angewendet werden, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind. Überschreitungen der Tempolimite auf Autobahnen um 21-25km/h werden grds. mit einer Ordnungsbusse von CHF 260 bestraft (Ziff. 303.3e Anhang 1 der OBV). Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft verletzte das Anklageprinzip, weil in ihrer Anklage (bzw. dem Strafbefehl) keinerlei Hinweise auf eine erhöht abstrakte oder gar konkrete Gefährdung von Personen entnommen werden konnte. Die Beschwerde wird insofern abgewiesen.

Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part III

Urteil 6B_658/2022: Vorsicht Spaziergänger (gutgh. Beschwerde der Staatsanwaltschaft)

Dieses Urteil befasst sich mit einem tragischen Unfall, bei welchem ein Fussgänger verstarb, nachdem er von einem Fahrrad erfasst wurde. Der Fussgänger und seine Frau gingen auf einer Strasse in der Region Lavaux am rechten Rand einer Mauer entlang. In gleicher Richtung befuhr der Beschwerdegegner mit seinem Fahrrad die Strasse mit ca. 50 km/h. Als er in eine leichte Rechtskurve fuhr, sah er plötzlich den Spaziergänger, welcher dabei war, von rechts auf die linke Strassenseite zu wechseln. Der Beschwerdegegner schrie, um die Aufmerksamkeit des Fussgängers auf sich zu ziehen. Der Beschwerdegegner wollte dann zwischen dem Fussgänger und der Mauer durchfahren, wobei er immer noch ca. 46 km/h fuhr. Im gleichen Moment entschied sich der Fussgänger wieder nach rechts an die Mauer zu gehen. Der Fahrradfahrer kollidierte mit dem Fussgänger. Dieser vertarb später im Spital, der Fahrradfahrer zog sich schwere Verletzungen zu. In zweiter Instanz wurde der Fahrradfahrer vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen wehren sich die Witwe sowie die Staatsanwaltschaft.

Wie schon in Part I und II setzt auch die fahrlässige Tötung gemäss Art. 117 StGB eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus. Diese bemisst sich im Strassenverkehr nach den Verkehrsregeln. Auch in Part III stellt sich die Frage, ob dieser Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang für den Fahrradfahrer vorherseh- sowie vermeidbar war oder ob er die grenze des erlaubten Risikos noch nicht überschritten hat. Ebenso stellt sich hier die Frage, ob das Verhalten des Verstorbenen den Kausalverlauf unterbrechen konnte. Das Bundesgericht verweist auch hier wieder darauf, dass es nicht total unverhersehbar ist, dass sich Menschen auf der Fahrbahn befinden, auch wenn sie komische Dinge tun, wie z.B. aus einem Sack gefallene Herdöpfel aufsammeln (E. 2.1).

Die Verkehrsregeln gelten grds. auch für Fahrradfahrer (Art. 1 Abs. 2 SVG), so auch dass man seine Geschwindigkeit stets den Umständen anpassen muss (Art. 32 Abs. 1 SVG). Das bedeutet, dass man die Höchstgeschwindigkeit (als Motorfahrzeugführer) nicht immer ausreizen darf. Man muss sich u.a. am Verkehrsaufkommen und den Sichtverhältnissen orientieren. Die Geschwindigkeit muss so angepasst sein, dass man stets innerhalb der überblickbaren Distanz anhalten kann (vgl. Art. 4 Abs. 1 VRV). Auch auf grossen Durchgangsstrassen muss man als Verkehrsteilnehmer grds. damit rechnen, dass in einer nicht einsehbaren Kurve ein langsames Landwirtschaftsfahrzeug oder ein stehendes Auto mit Panne auftauchen kann (zum Ganzen ausführlich E. 2.2.2). An Expertisen sind Gerichte grds. gebunden. Wären die Schlussfolgerungen eines Experten aber überhaupt nicht nachvollziehbar, würde das Abstellen auf die Expertise gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung verstossen (E. 2.2.3).

Die Vorinstanz war (stark zusammengefasst) der Meinung, dass der Unfall letztlich aufgrund unglücklicher Zusammenhänge geschah, insb. im Umstand, dass der Spaziergänger in letzter Sekunde wieder einen Schritt zurückmachte und sich damit in die Fahrbahn des Beschwerdegegners begab. Eine Sorgfaltspflichtsverletzung nahm sie nicht an (E. 2.3). Eine Expertise kam (ebenfalls stark zusammengefasst) zu Schluss, dass eine Notbremsung nicht gereicht hätte, um den Unfall zu vermeiden. Die Aufprallgeschwindigkeit wäre aber nicht ca. 46 km/h, sondern 29 km/h gewesen. Mit einer Geschwindigkeit von 37.5 km/h hätte der Fahrradfahrer noch bremsen können. Die Expertise bezeichnete es als nachvollziehbar, dass unter diesen Umständen ein Ausweichmanöver versucht wurde. Allerdings hätte es gemäss Expertise wohl auch einen Unfall gegeben, wenn der Beschwerdegegner gar nicht reagiert hätte und der Verstorbene normal weitergelaufen wäre (E. 2.4).

Darauf stützt sich schliesslich auch das Bundesgericht. Wenn es den Verkehrsunfall so oder so gegeben hätte, dann war die Geschwindigkeit des Beschwerdegegners nicht angepasst. Der Beschwerdegegner hätte eine nicht einsehbare Rechtskurve nicht mit knapp 50 km/h befahren dürfen, so dass er nicht mehr auf Sicht anhalten konnte. Der Beschwerdegegner kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Expertise sein Ausweichmanöver als nachvollziehbar bezeichnete. Denn er selbst hat sich durch das Nichtanpassen der Geschwindigkeit erst in diese Gefahrensituation gebracht (ausführlich und umschweifend E. 2.6). Letztlich war es auch nicht dermassen ausserordentlich, dass ein Spaziergänger auf einer touristischen Route im Lavaux an einem Sonntagabend die Strassenseite wechselt. Insofern wurde der adäquate Kausalzusammenhang durch das Verhalten des Verstorbenen nicht unterbrochen. Das gleiche gilt für den Ausweichschritt in die Fahrbahn des Beschwerdegegners (E. 2.7).

Der Freispruch der Vorinstanz verstösst damit gegen Bundesrecht, womit die Beschwerden gutgeheissen werden.

Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part II

Urteil 6B_239/2022: Vorsicht Lotsen (teilw. gutgh. Beschwerde)

Weil es gut zum aktuellen Thema passt, holen wir dieses bereits etwas ältere Urteil aus dem Backlog und fassen es hier auch kurz zusammen.

Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung veruteilt. Er fuhr am Morgen in Basel auf der Missionsstrasse. Dabei sahr er, wie der Geschädigte auf die Strasse trat, um einen Lieferwagen auf die Strasse zu lotsen. Der Beschwerdeführer passierte den Geschädigten dann mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h mit so geringem Abstand, dass dessen Bein vom Fahrzeug erfasst wurde. Der Geschädigte stürzte zu Boden und erlitt einen Bruch des Sprunggelenks. Die kantonalen Instanzen hiessen zudem die Zivilforderung des Geschädigten im Grundsatze gut und auferlegten dem Beschwerdeführer eine Haftungsquote von 100%.

Der Geschädigte bringt zunächst vor, dass der Beschwerdeführer bzgl. der zivilrechtlichen Haftungsquote gar kein rechtlich geschütztes Interesse mehr habe, denn dessen Motorhaftpflichtversicherung gab bereits eine Haftungsanerkennung zur vollen Quote ab, aus reiner Kausalhaftung. Auch wenn dem so wäre, hat der Beschwerdeführer nach Ansicht des Bundesgerichts aber trotzdem ein rechtlich geschütztes Interesse an der Behandlung seiner Beschwerde bzgl. den zivilrechtlichen Folgen des Unfalles, auch wenn seine MFH die Haftung zur vollen Quote anerkannte. Es kann nämlich sein, dass die MFH nach der Schadenregulierung gegenüber dem Beschwerdeführer Regressansprüche geltend macht (Art. 65 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 14 Abs. 2 VVG), worauf sich die gerichtlich festgestellte Haftungsquote auswirkt (E. 3.3).

Neben einer Verletzung des Anklageprinzips (E. 4) und einer willkürlichen Sachverhaltsdarstellung (E. 5) rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 125 StGB. Aus seiner Sicht trägt der Geschädigte die Schuld am Unfall bzw. seiner Körperverletzung, denn dieser sei nicht zur Verkehrsregelung berechtigt gewesen, sei grundlos auf die Strasse gestanden und habe sich rückwärts und damit unvorsichtig in den Verkehr hineinbewegt (E. 6.1).

Eine fahrlässige Körperverletzung setzt eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus, die sich im Strassenverkehr nach dem Strassenverkehrsgesetz bemisst. Strafbar ist das Verhalten des Unfallverursachers, wenn dieser den Unfall vorhersehen und insofern vermeiden hätte können. Trägt das Opfer eine Mitschuld am Unfall in Form eines Verhaltens, mit welchem schlicht nicht gerechnet werden muss, kann dies den adäquaten Kausalverlauf unterbrechen (zum Ganzen E. 6.2.2).

Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG ist gegenüber allen Verkehrsteilnehmern ausreichend Abstand zu wahren. Zudem muss man die Geschwindigkeit den Umständen anpassen. Man darf zwar darauf vertrauen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten. Der Vertrauensgrundsatz gilt allerdings nicht uneingeschränkt (Art. 26 SVG).

Laut der Vorinstanz bemerkte der Beschwerdeführer den Lotsen auf der Strasse und er interpretierte die Situation auch richtig. Tortzdem setzte er seine Fahrt mit 30 bis 35 km/h fort und fuhr am Geschädigten nur mit 50 cm vorbei. Dabei wurde der Geschädigte vom Fahrzeug des Beschwerdeführers erfasst. Der Beschwerdeführer hätte den Unfall ohne weiteres vermeiden können, wenn er gestoppt und das Manöver der Lieferwagen abgewartet hätte oder zumindest sein Tempo massiv reduziert und in grösserem Abstand am Lotsen vorbeigefahren wäre. Eine „eigenverantwortlich gewollte Selbstgefährdung“ des Lotsen, die den Kausalverlauf unterbrechen würde, nahm die Vorinstanz nicht an (E. 6.3).

Das Bundesgericht stimmt der Vorinstanz grds zu. Es verweist aber auch darauf, dass die Grösse des seitlichen Abstands, der gegenüber Fussgängern einzuhalten ist, nicht allgemein zahlenmässig festgelegt werden kann. Sie richtet sich vielmehr unter anderem nach der Breite der Fahrbahn, den Verkehrs- und Sichtverhältnissen, der Geschwindigkeit des Fahrzeugs sowie dem Alter und dem Verhalten der Fussgänger. In einer engen Gasse in einem tessiner Bergdorf kann ein halber Meter bei entsprechend langsamem Tempo ausreichend sein. In anderen Konstellationen, höhere Geschwindigkeit, grosse Strasse sowie dem Umstand, dass sich ein Fussgänger auf ein nahes Vorbeifahren nicht gefasst ist, sind 50 cm dann wieder zu wenig. Der Beschwerdeführer hätte also entweder warten, oder den Abstand oder sein Tempo anpassen müssen. Der Unfall war vermeidbar, womit eine Sorgfaltspflichtsverletzung vorliegt (E. 6.4.2).

Das Bundesgericht setzt sich dann noch mit der Frage auseinander, ob bei Selbstgefährdungen durch Fussgänger im Strassenverkehr stets von einer stillschweigenden Einwilligung in Körperverletzungen ausgegangen werden kann. Im Gegensatz zu gewissen Sportarten ist dies im Strassenverkehr allerdings nicht der Fall. Wer sich als Fussgänger verkehrsregelwidrig auf die Fahrbahn begibt, willigt daher nicht ein, von einem Fahrzeug angefahren und verletzt zu werden (E. 6.4.3).

Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Körperverletzung ist also korrekt. Die Beschwerde wurde aber gutgeheissen, weil die Vorinstanz ohne hinreichende Begründung von einer Haftungsquote von 100% zu Lasten des Beschwerdeführers ausging (E. 7) und weil die festgesetzte Parteientschädigung für den Privatkläger nicht nachvollziehbar war (E. 8).