Vom Beschuldigten zum Zeugen

BGE 6B_171/2017: Rollenspiele im Strafprozess (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer und eine Komplizin werden u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten strafrechtlich verfolgt. Die Komplizin war in einem separaten Strafverfahren geständig. Dieses wurde rechtskräftig erledigt. Nun wurde Sie im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeugin einvernommen. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass seine Komplizin als Auskunftsperson hätte befragt werden müssen und deshalb die Einvernahme unverwertbar sei. Der Entscheid beschäftigt sich lehrstückhaft mit der Frage, ob eine rechtskräftig verurteilte Person in einem späteren Verfahren gegen einen Tatbeteiligten ein Zeugnis ablegen kann.

E. 2. zu den versch. Rollen und deren Rechten und Pflichten: Gemäss Legaldefinition in Art. 162 StPO ist ein Zeuge an der Straftat nicht beteiligt und kann sachdienliche Aussagen machen. Der Rollenwechsel von Auskunftsperson und Zeugen zur Rechtstellung der beschuldigten Person ist grds. möglich (E. 2.1.4.). Der Wechsel von der Rolle der beschuldigten Person zum Zeugen wurde in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet: In BGE 6B_1039/2014 musste die verurteilte Person als Auskunftsperson befragt werden. In BGE 6B_1178/2016 wurde die Einvernahme als Zeuge wiederum gutgeheissen.

E. 2.3. zur Lehre: Die eine Lehrmeinung geht davon aus, dass man bzgl. eines Sachverhaltes ein Leben lang beschuldigte Person ist und deshalb später nur als Auskunftsperson einvernommen werden kann. Die andere Lehrmeinung geht davon aus, dass nach rechtskräftiger Erledigung eines Strafverfahrens der Rollenwechsel zum Zeugen möglich ist, wobei teils differenziert wird, ob eine Einstellungsverfügung oder ein richterliches Urteil ergangen ist (wegen Art. 323 StPO).

E. 3 zur Auslegung der StPO: Als Auskunftsperson wird einvernommen, wer in einem anderen Verfahren wegen einer Tat, die mit der abzuklärenden Straftat in Zusammenhang steht, beschuldigt ist. Der Zeuge wiederum hat mit dieser nichts zu tun. Die in einem anderen Verfahren rechtskräftig verurteilte Person ist nach der Ansicht des BGer weder Auskunftsperson noch Zeuge (E. 3.2.1.). Der Zweck der Auskunftsperson gemäss Art. 178 lit. f. StPO ist der Schutz des Betroffenen vor Interessenskollisionen (E. 3.2.2.). Historisch gesehen war dem Gesetzgeber bewusst, dass es problematisch sei, „wenn ein Restverdacht bleibe und die frühere beschuldigte Person, wenn sie als Zeugin wahrheitspflichtig würde, allenfalls Gefahr liefe, dass der Fall gegen sie wieder aufgenommen würde. Fragwürdig sei eine Zeugeneinvernahme sodann, wenn das Verfahren gegen die mitbeschuldigte Person allein aus prozessualen Gründen eingestellt worden sei.“ Trotzdem hat er auf eine entsprechende Regelung verzichtet, dass rechtskräftig verurteilte Personen als Auskunftspersonen einzuvernehmen seien. Das BGer folgert daraus, dass es dem Gesetzgeber bewusst war, dass Art. 178 lit. f. StPO nur auf Personen angewendet wird, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist (E. 3.2.3.). Nach Auslegung mittels Methodenpluralismus liegt eine Lücke vor (E. 3.2.4.).

E. 3.3. Lückenfüllung durch das BGer: Das BGer ist der Ansicht, dass nach der rechtskräftigen Erledigung eines Strafverfahrens die Schutzrechte der Auskunftsperson nicht mehr nötig sind, da gemäss Art. 11 StPO der Grundsatz von „ne bis in idem“ gilt. Dem BGer ist dabei bewusst, dass die Wiederaufnahme des eingestellten Strafverfahrens (Art. 323 StPO) und die Revision eines Urteils möglich sind (Art. 410ff. StPO). „Den damit verbundenen Bedenken ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine Person gemäss Art. 169 Abs. 1 StPO das Zeugnis verweigern kann, wenn sie sich mit ihrer Aussage selbst derart belasten würde, dass sie strafrechtlich (lit. a; vgl. dazu Urteil 1B_436/2011 vom 21. September 2011 E. 2.4) oder zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden könnte, und wenn das Schutzinteresse das Strafverfolgungsinteresse überwiegt (lit. b; vgl. KAUFMANN, a.a.O., S. 161).“

E. 3.4. Fazit: „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine Person, die in einem getrennten Verfahren für die abzuklärende Tat oder eine damit in Zusammenhang stehende Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, grundsätzlich in analoger Anwendung von Art. 162 ff. StPO als Zeuge oder Zeugin einzuvernehmen ist. Bestehen jedoch im Einzelfall Anhaltspunkte dafür, dass die einzuvernehmende Person über ihre Verurteilung hinaus (vgl. jedoch Art. 11 StPO) als Täterin oder Teilnehmerin der abzuklärenden oder einer konnexen Straftat nicht ausgeschlossen werden kann, so ist sie gestützt auf Art. 178 lit. d StPO als Auskunftsperson einzuvernehmen. Der Entscheid über die Rolle der einzuvernehmenden Person richtet sich nach der Sach- und Rechtslage im Einvernahmezeitpunkt (vgl. oben E. 2.1.3).“

Die Ehefrau im Visier der Strafbehörden

BGE 6B_1025/2016: Rechtsbelehrung bei Einvernahmen (Leitentscheid, gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid setzt sich lehrstückhaft mit den Verfahrensrollen der Auskunftsperson und des Zeugen im Strafverfahren auseinander und welche Mitwirkungs- und Aussageverweigerungsrechte die Beteiligten haben. Im vorliegenden Fall wurde die Ehegattin als Auskunftsperson zu mutmasslichen Straftaten ihres Ehemannes befragt.

E. 1.2.1./2. zu den gesetzlichen Regelungen der Auskunftsperson und des Zeugen:

Während der Zeuge grds. nichts mit der untersuchten Straftat zu tun hat, nimmt die Auskunftsperson eine Stellung zwischen Zeuge und beschuldigter Person ein. So kann als Auskunftsperson einvernommen werden, wer ohne beschuldigt zu sein, trotzdem etwas mit der untersuchten Straftat zu tun haben könnte (vgl. Art. 178 Lit. d StPO). Der Auskunftsperson kommt deshalb ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht zu, weil sie in erster Linie eigene Interessen schützt (vgl. Art. 180 StPO). Der Zeuge wiederum ist an der Straftat nicht beteiligt, weshalb er grds. zum wahrheitsgemässen Zeugnis verpflichtet ist (vgl. Art. 163 Abs. 2 StPO). Er hat ein beschränktes Zeugnisverweigerungsrecht, z.B. wenn er gegen eine nahestehende Person aussagen müsste und insofern in einem Interessenkonflikt stünde (vgl. Art. 168 StPO).

E.1.3.ff. zur Hinweispflicht bei der ersten Einvernahme:

Die Rechtsbelehrung zu Beginn einer Einvernahme hängt von der Stellung einer Person im Verfahren ab. Die unterschiedlichen Mitwirkungsverweigerungs-rechte der Auskunftsperson einerseits und der Zeugin oder des Zeugen andererseits beruhen auf anderen Prämissen und verfolgen andere Ziele. Während das Aussageverweigerungsrecht der Auskunftsperson deren eigene Interessen im Verfahren schützt, betrifft das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen nicht den Schutz der befragten, sondern den Schutz der beschuldigten Person. Der Zeuge soll insofern davor geschützt werden, dass er sich zwischen einem strafbaren Falschzeugnis zugunsten der beschuldigten Person oder einem Zeugnis, dass schlimmstenfalls ein Familienmitglied belastet, entscheiden muss. Nun gibt es Konstellationen, in welchen eine Auskunftsperson aber sogleich auch Zeuge sein könnte. Gemäss BGer ist es deshalb unerlässlich, dass die zu befragende Person über beide Arten der Mitwirkungsverweigerungsrechte zu belehren ist, wenn ihr als Auskunftsperson zusätzlich zum allgemeinen Aussageverweigerungsrecht ein spezifisches Zeugnisverweigerungsrecht, z.B. als naher Angehöriger zukommt (E. 1.3.1.).

Die Lehre schliesst sich dem an und unterscheidet zwischen zwei Arten von Auskunftspersonen, einerseits der „normalen“ und andererseits dem sog. „Quasi-Zeugen“. Ist von Anfang an klar, dass der Auskunftsperson in materieller Hinsicht auch Zeugenstellung zukommt, so muss sie über die entsprechenden Zeugnisverweigerungsrechte belehrt werden (E. 1.3.2.).

Einvernahmen unterstehen einem strengen Beweisverwertungsverbot, wenn die entsprechende Rechtsbelehrung zu Beginn einer Einvernahme nicht erfolgte. Wird eine Auskunftsperson als „Quasi-Zeuge“ von der Polizei nicht über die Zeugnisverweigerungsrechte aufgeklärt, ist die Einvernahme unverwertbar (E. 1.3.3).

Vorliegend wurde die Ehegattin als Auskunftsperson einvernommen und entsprechend über ihre Rechte aufgeklärt. Ihr kommt aber als „Quasi-Zeugin“ ebenfalls das Zeugnisverweigerungsrecht zu, worüber sie nicht aufgeklärt wurde. Die Einvernahme ist unverwertbar.