Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Privilegierung nach Auslandstat

Urteil 1C_653/2021: Bundesgericht strenger als das ASTRA

In diesem zur Publikation vorgesehenen Urteil befasst sich das Bundesgericht mit der Frage, wann man in den Genuss der Privilegierung von Art. 16cbis Abs. 2 SVG nach einer Auslandtat gelangt, also wann die Schweizer Behörde die Dauer des ausländischen Fahrverbots nicht überschreiten darf. Die Beschwerdeführerin überschritt auf der Autobahn in Österreich die Höchstgeschwindigkeit von 100km/h um 62km/h. Sie wurde dafür von den österreichischen Behörden mit einem Fahrvervot von zwei Wochen sanktioniert. Im IVZ ist bei der Beschwerdeführerin eine nicht kaskadenrelevante Massnahme eingetragen, ein einmonatiger Führerscheinentzug wegen einer mittelschweren Widerhandlung. Das Strassenverkehrsamt verfügte daraufhin einen dreimonatigen Ausweisentzug unter Anrechnung des bereits erfolgten ausländischen Entzugsdauer. Die Beschwerdeführerin führt dagegen aus, dass bei ihr die privilegierende Regelung von Art. 16cbis Abs. 2 SVG zur Anwendung gelangen muss, da die alte Massnahme nicht mehr kaskadenrelevant war. Sie beantragt insofern einen Ausweisentzug von zwei Wochen. In einer Stellungnahme führte das ASTRA aus, dass es davon ausging, dass die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin korrekt sei, dass also die ausländische Dauer des Fahrverbots nur überschritten werden dürfe, wenn im IVZ eine kaskadenrelevante Massnahme eingetragen sei.

Die gesetzliche Grundlage für die Sanktionierung von Taten im Ausland durch Inhaber einer Schweizer Fahrerlaubnis findet sich in Art. 16cbis Abs. 2 SVG. Sie enthält in Abs. 2 Satz 3 eine wichtige Privilegierung:

„Die Entzugsdauer darf bei Personen, zu denen im Informationssystem Verkehrszulassung keine Daten zu Administrativmassnahmen (Art. 89c Bst. d) enthalten sind, die am Begehungsort im Ausland verfügte Dauer des Fahrverbots nicht überschreiten.

Es ist eine ziemlich vorteilhafte Regel, denn oft sind die Fahrverbote im Ausland um einiges kürzer, als jene in der Schweiz. Die vorliegend zu beurteilende Widerhandlung wäre nach Schweizer Recht eine schwere Widerhandlung, die mit mind. drei Monaten Führerscheinentzug sanktioniert würde. Bei einer Überschreitung des Tempolimits von 62km/h würden der Lenkerin wohl eher fünf oder sechs Monate Führerscheinentzug winken. Das Bundesgericht prüft nun ausführlich, welche Relevanz das Kaskadensystem für diese vorteilhafte Regel hat. Reicht bereits ein Eintrag im IVZ, oder muss doch eine kaskadenrelevante Widerhandlung vorliegen.

Das Bundesgericht legt die Norm nach dem gängigen Methodenpluralismus aus, wobei es allerdings vom klaren Wortlaut nur abweicht, wenn trifftige Gründe dafür sprechen. Es stimmt dabei den kantonalen Instanzen zu, dass die Bestimmung nach dem Wortlaut eindeutig ist. Nach diesem genügt ein Eintrag im IVZ, damit die betroffene Person nicht in den Genuss der Privilegierung kommt. Auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 16cbis SVG lässt sich nichts ableiten, dass die Abweichung von der ausländischen Entzugsdauer nur bei kaskadenrelevanten Administrativmassnahmen zulässig sein sollte, obwohl es einzelne Minderheitsvoten in diesem Sinne gegeben haben mag. Auch wenn es zu einer gewissen Ungleicheit führt, differenzierte der Gesetzgeber bewusst zwischen Erst- und Wiederholungstätern und sah die Privilegierung nur für erstere vor. Bei Wiederholungstätern findet denn auch das Kaskadensystem ohne Einschränkung Anwendung. Liegt keine kaskadenrelevante Widerhandlung vor, ist gegenüber den betroffenen Wiederholungstätern ein Entzug ausserhalb des Kaskadensystems ohne die Bevorteilung gemäss Art. 16c bis Abs. 2 Satz 3 SVG auszusprechen (zum Ganzen ausführlich E. 4).

Die Beschwerdeführerin gilt also als Wiederholungstäterin und kommt nicht in den Genuss der Privilegierung für Ersttäter. Die Warnmassnahme von drei Monaten unter Anrechnung des österreichischen Fahrverbots von zwei Wochen ist nicht bundesrechtswidrig. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Anerkennung ausl. Fahrausweise

BGE 1C_513/2019: Welcher Ausweis solls nun sein? (gutgh. Beschwerde)

Dieser Entscheid führt uns durch die komplexe Welt der Anerkennung ausländischer Fahrbewilligungen. Er zeigt auch die Problematik auf, die den Behörden entstehen, wenn ausländisches und insb. EU-Recht interpretiert werden muss.

Der Beschwerdeführer geriet im September 2017 in eine Polizeikontrolle, bei welcher er sich mit einem gefälschten litauischen Führerschein auswies. Dieser wurde aberkannt und die Wiederzulassung von einer gültigen Fahrerlaubnis abhängig gemacht. Im Oktober 2018 wies der Beschwerdeführer einen polnischen Ausweis vor und beantragte damit die Wiederzulassung zum Strassenverkehr. Die deutschen Behörden teilten jenen von Baselland in der Folge mit, dass der Beschwerdeführer in Deutschland wegen einer Suchtproblematik seit 2010 nicht Auto fahren darf. Das mittlerweile zuständige StVA Kt. BE verweigerte daraufhin dem Beschwerdeführer die Zulassung und machte diese vom Nachweis einer gültigen Fahrbewilligung sowie einer verkehrsmedizinischen und -psychologischen Abklärung abhängig. Im kantonalen Instanzenzug wurde zwar die Notwendigkeit einer Fahreignungsabklärung verneint, die Zulassung zum Strassenverkehr aber trotzdem verweigert. Der Beschwerdeführer ist natürlich der Meinung, dass er aufgrund des polnischen Ausweises zugelassen werden muss.

E. 3 – Voraussetzungen der Zulassung:
Wer ein Motorfahrzeug führt, braucht gemäss Art. 10 Abs. 2 SVG die Fahrbewilligung der entsprechenden Kategorie. Gemäss Art. 41 Abs. 2 lit. a/i der Wiener Strassenverkehrskonvention anerkennen die Vertragsstaaten gültige Ausweise der anderen Mitgliedstaaten. Polen und die Schweiz gehören zu den Vertragsstaaten. Gemäss Art. 42 Abs. 1 VZV werden gültige ausländische Fahrbewilligungen anerkannt, sofern sie gemäss Art. 42 Abs. 4 VZV nicht in Umgehung der in- oder ausländischen Regelungen erlangt wurden. Die Vorinstanz stellte sich nun auf den Standpunkt, dass der polnische Ausweis erlangt wurde, obwohl der Beschwerdeführer in Deutschland gewohnt habe, womit EU-Recht umgangen worden sei. Insofern müsse der polnische Ausweis nicht anerkannt werden (E. 3.3).

Nach Ansicht des Bundesgerichts muss ein polnischer Ausweis nach den Regeln der Wiener Strassenverkehrskonvention grds. anerkannt werden. Deutschland und Polen wiederum sind Mitglieder der EU. Die EU-Richtlinie 2006/126/EG regelt innerhalb der EU die gegenseitige Anerkennung von Fahrbewilligungen. Demnach ist im Hinblick auf Umgehung von ausländischem Recht nicht deutsches oder polnisches Recht bzgl. Wohnsitznahme anwendbar, sondern die Bestimmungen der Richtlinie. Die Vorinstanz war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz in Deutschland hatte, weshalb der polnische Ausweis keine Gültigkeit habe und Art. 12 der EU-Richtlinie umgangen worden sei. Dabei legte sie aber die Richtlinie eigenständig und ohne Berücksichtigung der europäischen Lehre und Rechtsprechung aus. Ebenso wurde der Einwand des Beschwerdeführers nicht gewürdigt, dass nach Art. 7 der EU-Richtlinie der Ausstellerstaat, also Polen, den Wohnsitz sorgfältig prüfen muss. Durch ihr Vorgehen verletzte die Vorinstanz Bundesrecht (E. 3.4-5).

Auch wenn eine Fahrbewilligung unter Umgehung ausländischer Vorschriften erlangt wurde, muss diese gemäss Art. 45 Abs. 6 VZV anerkannt werden, wenn der Wohnsitzstaat diese ebenfalls anerkannt. Beachtlich wäre auch die Anerkennung eines späteren Wohnsitzstaates (E. 3.6). Zudem blieb im kantonalen Verfahren die Frage unbeantwortet, ob der polnische Ausweis überhaupt echt ist. Auch das muss noch abgeklärt werden (E. 3.8).

Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Fall für weitere Abklärungen zurückgewiesen.

Der Raser in Polen

BGE 1C_559/2017: Die Folgen von Widerhandlungen im Ausland

Der Beschwerdeführer hat in Polen die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50km/h um 51km/h überschritten. Die polnischen Behörden haben den FA eingezogen und an das StVA Kt. BE geschickt, das den FA wiedererteilt und das Administrativverfahren sistiert hat. In Polen wurde ein Fahrverbot von drei Monaten verfügt, woraufhin das StVA eine schwere Widerhandlung angenommen und unter Berücksichtigung einer älteren mittelschweren Widerhandlung einen Warnentzug von neun Monaten verfügt hat. Der Beschwerdeführer bringt vor, dass bereits in Polen eine Massnahme verfügt wurde und beantragt die Aufhebung der Verfügung des StVA.

E. 2.1. zu Art. 16cbis SVG: Vorausgesetzt werden ein Fahrverbot im Ausland und dass die Widerhandlung nach CH-Recht mittelschwer oder schwer war. Ebenso verweist das BGer darauf hin, dass nach der ständigen Rechtsprechung die Kaskade auch für im Ausland begangene Widerhandlungen gilt.

E. 2.2.2-4 zur Massnahme: Weil bei der Ermittlung des Sachverhalts nicht herauszufinden war, ob die polnischen Behörden einen Sicherheitsabzug gemäss ASTRA-VO gemacht haben, ging man am Schluss von einer Überschreitung von 46km/h aus, was gemäss Schematismus eine schwere Widerhandlung ist. Da die Geschwindigkeitsüberschreitung um einiges höher war, als die „magische Grenze“ von 25km/h innerorts, hat die Behörde ihr Ermessen gemäss SVG 16 III nicht überschritten, indem sie neun Monate Warnentzug verfügt hat.

Im Ausland rasen lohnt sich nicht…