Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

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Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

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Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

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In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

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Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Grobe Verkehrsregelverletzung als „schwere Straftat“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO

Urteil 6B_821/2021: Wenn das Rasen in der Familie liegt (tlw. gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, welche Anforderungen an Zwangsmassnahmen wie Hausdurchsuchungen zu stellen sind. Zudem konkretisiert es die Rechtsprechung dahingehend, was im SVG-Bereich eine „schwere Straftat“ ist, welche eine Verwertung unrechtmässig erlangter Beweise trotzdem möglich macht (Art. 141 Abs. 2 StPO), insb. wenn es sich bei der schweren Tat um eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. ein Vergehen handelt.

Der Vater des Beschwerdeführers wurde von der Polizei dabei erwischt, wie er mit einem Motorrad ausserorts die Geschwindigkeit um 79km/h überschritt. Die Staatsanwaltschaft ordnete danach eine Hausdurchsuchung an, bei welcher ein Go-Pro gefunden wurde, auf welcher Video-Aufnahmen diverser SVG-Delikte des Beschwerdeführers gespeichert waren, u.a. auch Raserdelikte. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass die Hausdurchsuchung nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil das Raserdelikt seines Vaters erwiesen war und es keinen hinreichenden Anfangsverdacht auf weitere Delikte gab. Die Hausdurchsuchung war aus seiner Sicht eine „fishing expedition“, weshalb die gefundenen Videos nicht als Beweise verwertet werden dürfen. Die kantonalen Instanzen allerdings waren den Meinung, dass Raserfahrten fast immer auf weitere Straftaten schliessen lassen und dass es notorisch sei, dass Raser ihre Fahrten oftmals audiovisuell festhalten, weshalb die Hausdurchsuchung rechtens war.

Eine Hausdurchsuchung ist eine Zwangsmassnahme, weshalb für ihre Durchführung die Voraussetzungen von Art. 197 Abs. 1 StPO erfüllt sein müssen. Insb. ist für die Anordnung ein hinreichender Tatverdacht vorausgesetzt. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können. Eine reine Vermutung, ein Generalverdacht oder eine Beweisaufnahme aufs Geratewohl genügen zur Begründung einer Hausdurchsuchung jedoch nicht. Werden bei einer rechtmässig angeordneten Hausdurchsuchung Beweismittel gefunden, die auf weitere Straftaten hinweisen, kann ohne Weiteres ein neues Strafverfahren hinsichtlich der Zufallsfunde eröffnet werden (Art. 243 StPO). Bestand allerdings für die ursprüngliche Zwangsmassnahme, i.e. der Hausdurchsuchung, kein genügender Anfangsverdacht, gilt diese als „fishing expedition“. Auf diese Weise erlangte Beweismittel sind grds. nicht verwertbar (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Um es kurz zu machen: Das Raserdelikt des Vaters des Beschwerdeführers war grds. bewiesen. Es gab keine konkrete Hinweise oder Indizien auf weitere SVG-Delikte. Gemäss Vorinstanz wurde die Hausdurchsuchung aufgrund „unspezifischer Vermutungen“ angeordnet. Das reicht allerdings nicht aus, um „auf gut Glück“ nach Beweisen für weitere SVG-Delikte des Vaters zu forschen. Die Hausdurchsuchung war insofern unrechtmässig und bei den Video-Aufnahmen der SVG-Delikte des Beschwerdeführers handelt es sich somit um „fruits of a poisonous tree“, also grds. nicht verwertbare Beweismittel (E. 1.4). Gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise aber trotzdem verwertet werden, wenn damit schwere Straftaten aufgeklärt werden können. In erster Linie kommen bei der schweren Straftat Verbrechen in Frage. Allerdings wird die schwere Straftat nicht abstrakt, sondern an den Umständen des Einzelfalles eruiert. Auch Vergehen können schwere Straftaten gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO sein (E. 1.5.1).

Die sichergestellten Video-Aufnahmen beinhalten div. SVG-Delikte. Der Beschwerdeführer wurde im Strafverfahren u.a. wegen mehrfacher qualifiziert grober, mehrfacher grober Verkehrsregelverletzung sowie dem Fahren ohne Berechtigung verzeigt. Für die qualifiziert groben Verkehrsregelverletzungen (Tempoexzess ausserorts um 62km/h auf einer kurvigen und unübersichtlichen Bergstrasse sowie Tempoexzess innerorts um 57km/h) können die Videoaufnahmen ohne weiteres verwendet werden, da es sich dabei um schwere Straftaten handelt (E. 1.5.3).

Teilweise anders verhält es sich bei den groben Verkehrsregelverletzungen. Eine solche wurde bisher vom Bundesgericht noch nicht als „schwere Straftat“ bewertet. Zwei der Vergehen des Beschwerdeführers hebt das Bundesgericht hervor:

Just nach dem oben erwähnten Raserdelikt (Tempoexzess um 57km/h) überholte der Beschwerdeführer ein drittes Fahrzeug und beendete das Überholen nur knapp vor einem entgegenkommenden Motorradfahrer. Bei einer anderen Fahrt fuhr der Beschwerdeführer in einer unübersichtlichen Rechtskurve vollständig auf der linken Fahrbahn. Wäre ein Fahrzeug entgegengekommen, wäre eine Kollision unausweichlich gewesen. Dabei fuhr er auch ohne Berechtigung. Auch wenn die Vorinstanz diese beiden Manöver als grobe Verkehrsregelverletzung qualifizierte, handelt es sich dabei um „schwere Straftaten“. Zwar unterscheiden sich die Tatbestände von Art. 90 Abs. 2 und 3 SVG hinsichtlich des Ausmasses der Rechtsgutgefährdung. Während die grobe Verkehrsregelverletzung eine ernstliche Gefahr voraussetzt, fordert Abs. 3 das Risiko eines Unfalles mit Todesopfern oder Schwerverletzten. Beide oben genannten groben Verkehrsregelverletzungen hätten aber schlimme Folgen haben können. Bei einer Frontalkollision mit dem Motorradfahrer bzw. einem anderen Verkehrsteilnehmer auf der linken Fahrbahn ist es notorisch, dass es Schwerverletzte oder Tote geben kann. Deshalb betrachtet das Bundesgericht auch diese groben Verkehrsregelverletzungen als „schwere Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO. Die Videoaufnahmen durften also bzgl. diesen Vergehen (und dem Fahren ohne Berechtigung) verwertet werden, nicht aber für die übrigen groben Verkehrsregelverletzungen, weil es bei diesen keine „besonderen Vorkommnisse“ gab (E. 1.5.4).

Drei neue Urteile des Bundesgerichts zum Schnellfahren in gedrängter Form

Urteil 6B_410/2023: Quasi-Halterschaft bei Einzelfirmen

Bei diesem Urteil geht es um etwas, das täglich tausendmal auf Schweizer Strassen geschieht, nämlich eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Haltereigenschaft ist grds. ein Indiz für die Lenkerschaft. Gilt das aber auch für Inhaber von Einzelfirmen, auf welche ein Fahrzeug eingelöst ist?

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Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen auf der Autobahn im 80er-Bereich 32km/h zu schnell gefahren zu sein. Obwohl auf dem Lenkerermittlungs-Formular der Polizei eine andere Person angegeben wurde, wurde ihm die Busse auferlegt. Diesbzgl. rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, denn aus seiner Sicht hätte die Strafbehörde Ermittlungen zur angegebenen in Italien lebenden Person treffen müssen. Da der Beschwerdeführer aber keine weiteren Angaben zu dieser Person machte und aufgrund des Radarfotos ziemlich klar war, dass der Beschwerdeführer das Fahrzeug lenkte, mussten in antizipierter Beweiswürdigung keine weiteren Ermittlungen mehr aufgenommen werden (E. 3).

Der Beschwerdeführer ist sodann der Meinung, dass die Vorinstanz die Beweise falsch würdigt, wenn sie von einer frappanten Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Radarfoto ausgeht. Dazu legt der Beschwerdeführer auch zwei Privatgutachten aus Deutschland vor. Da aber der Beweiswert von Privatgutachten relativ klein und mit einer Parteibehauptung zu vergleichen ist und die Vorinstanz an der Berufungsverhandlung sich persönlich einen Eindruck vom Beschwerdeführer machen konnte, durfte sich davon ausgehen, dass er auf dem Radarfoto ist (E. 4.2).

Sodann rügt der Beschwerdeführer es als fehlerhaft, dass man ihn als Quasi-Halter des Fahrzeuges bezeichnet. Das Auto ist auf seine Firma eingelöst. Im Handelsregister ist er die einzige eingetragene Person. Die Rechtsprechung, nach welcher die Haltereigenschaft ein Indiz für die Lenkerschaft bei einer Widerhandlung ist, bezieht sich grds. auf natürliche Personen. Die Firma des Beschwerdeführers beschäftigt nach seiner Aussage zwei bis fünf Personen, wobei er für die Geschäftsfahrzeuge verantwortlich sei und nicht jeder Mitarbeiter einfach einen Fahrzeugschlüssel nehmen könnte. Daraus folgert die Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer seine Firma alleine beherrscht. Damit rechtfertigt sich eine analoge Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach bei natürlichen Personen die Haltereigenschaft ein Indiz für die Täterschaft sein kann. Die „Quasi-Haltereigenschaft“ des Beschwerdeführers darf also als Indiz für seine Lenkerschaft berücksichtigt werden (E. 4.3).

Schliesslich wurde i.c. auch der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ nicht verletzt. Der Beschwerdeführer schwieg sich im Strafverfahren mehrheitlich aus, auch wenn er zum Lenker allenfalls noch mehr Angaben hätte machen können. Aufgrund der Beweiswürdigung zum Foto und der Quasi-Haltereigenschaft durfte die Vorinstanz von der Täterschaft des Beschwerdeführers ausgehen (E. 4.4).



Urteil 7B_131/2022: Wenn das Messgerät falsch eingesetzt wird… (gutgh. Beschwerde)

Auch in diesem Urteil geht es um eine Geschwindigkeitsmessung. Es setzt sich mit den rechtlichen Folgen auseinander, wenn die Polizei Zubehör von einem Geschwindigkeitsmessgerät nicht richtig einsetzt.

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Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, ausserorts die Tempolimite von 80km/h um 53km/h überschritten zu haben. Er rügt aber, dass der Sachverhalt falsch festgestellt wurde (ausführlich zu den Voraussetzungen zur Willkür-Rüge in E. 2.1) bzw. das Resultat der Geschwindigkeitsmessung zu Unrecht von der Vorinstanz als Beweis verwertet wurde. Bei der Geschwindigkeitsmessung wurde ein Robot Traffistar SR 590 eingesetzt. Dieses Gerät war auch vom METAS geeicht. Die Polizisten setzten bei der Messung auch eine mobile Messkabine ein. Gemäss einer Stellungnahme vom METAS wurde diese Kabine nicht so eingesetzt, wie es das Zulassungszertifikat vorschreibt. Die Messkabine wurde modifiziert, wobei gemäss einer Stellungnahme der Polizei keine eichungsrelevanten Teile betroffen waren. Trotzdem war das METAS der Ansicht, dass die Modifikation bedenklich war, weil Geschwindigkeitsmesssysteme grundsätzlich so eingesetzt werden müssen, wie sie zugelassen wurden. Das METAS führte aber auch aus, dass durch eine gutachterliche Auswertung des Bildmaterials die gefahrene Geschwindigkeit ausgewertet werden könnte. Darauf ging die Vorinstanz allerdings gar nicht ein. Aus diesem Grund erachtet es das Bundesgericht als unhaltbar, wenn die Vorinstanz die Geschwindigkeitsmessung mit dem modifizierten Gerät als zweifelsfrei bezeichnet. Es gibt aber keinen Freispruch, sondern die Sache wird an die Vorinstanz zur Ergänzung des Beweisverfahrens zurückgewiesen.


Urteil 6B_68/2023: Social Media als Fundgrube für Raserdelikte (gutgh. Beschwerde)

Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob Videos von sozialen Netzwerken als Beweise für den Nachweis von Raserdelikten herhalten können, auch wenn der gefilmte Lenker wohl nicht mit der Veröffentlichung des Videos im Internet einverstanden war. Es geht um eine massive Beschleunigungsfahrt.

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Dem Urteil liegt eine massive Geschwindigkeitsüberschreitung zu Grunde, wobei der Lenker und Beschwerdegegner 2 ausserorts bis zu 198km/h beschleunigte, während sein Beifahrer und Beschwerdegegner 1 ihn dabei filmte. Letzterer veröffentlichte ein Video der Tat auf einem sozialen Netzwerk. Die Vorinstanz war der Meinung, dass das Video nicht verwertet werden könne und sprach die Beschuldigten frei. Dagegen führt die Staatsanwaltschaft erfolgreich Beschwerde.

Rechtswidrig erlangte Beweise dürfen nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich (Art. 141 Abs. 2 StPO). Zunächst geht das Bundesgericht ausführlich auf seine Rechtsprechung ein, wann von Privaten rechtswidrig erlangte Beweise trotzdem verwertet werden dürfen. Um es kurz zu machen, es braucht (E. 2.1)

1. Strafbehörden hätten die Beweise auch rechtmässig erlangen können.
2. Interessensabwägung zwischen Strafverfolgungs- und privaten Interessen spricht für Verwertung
3. Es liegt eine schwere Straftat vor (Grds. Verbrechen, aber Einzelfall massgeblich)

Die Vorinstanz ging davon aus, dass das Video rechtswidrig aufgenommen wurde, weil der Lenker zwar bemerkt haben muss, dass er gefilmt wird, aber nicht damit rechnen musste, dass das Video im Internet landet. Nach Ansicht der Vorinstanz hätte die Polizei das Video bzw. ein vergleichbares Beweismittel auch nicht rechtmässig erlangen können, da die Geschwindigkeitsüberschreitung nur 13 Sekunden gedauert habe, zu kurz, um ein Video aufzunehmen. Und die Raserfahrt war – trotz hohem Tempo – keine schwere Straftat, da die Beschleunigungsfahrt auf gerader und übersichtlicher Strecke stattfand, kein Verkehr und gute Strassenbedingungen herrschten.

Das lässt das Bundesgericht nicht gelten. Zunächst sind Raserdelikte als Verbrechen schwere Straftaten gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO. Sodann bezeichnet das Bundesgericht das öffentliche Interesse an der Aufklärung des Raserdelikts als viel grösser, als das private Interesse des Lenkers, dass das wohl mit seiner Zustimmung aufgenommene Video nicht auf sozialen Medien geteilt wird. Diese allfällige datenschutzrechtliche Persönlichkeitsverletzung bezeichnet das Bundesgericht gar als marginal. Und zudem traut das Bundesgericht einer allfälligen Polizeipatrouille auch zu, trotz kurzer Deliktsdauer, ein Video davon zu machen.

Das Video ist verwertbar, die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.

War das noch in der Schweiz?

Urteil 6B_1133/2021: Zollkontrolle und Überwachung im Flughafen

In diesem Urteil werden zwei interessante Fragen beantwortet, nämlich

1. Ist Fahren trotz Entzug beim Schweizer Zoll auf deutschem Staatsgebiet nach CH-Recht strafbar?
2. Dürfen Videos der Überwachungsanlage eines Flughafens als Beweise verwertet werden?

Dem Beschwerdeführer wird neben weiteren Straftaten zweimal Fahren trotz entzogener Fahrerlaubnis vorgeworfen. Im April 2017 wurde er am Grenzübergang Laufenburg bei der Einreise in die Schweiz dabei erwischt, ein Fahrzeug trotz entzogenem Führerausweis gelenkt zu haben. Im Juni 2017 fuhr der Beschwerdeführer mit demselben Auto zu einem Flughafen, wo er von den Überwachungskameras gefilmt wurde.

Zur Widerhandlung vom April 2017 bringt der Beschwerdeführer vor, dass sich die Zollanlage, wo er kontrolliert wurde, auf deutschem Staatsgebiet befindet und damit ausserhalb des Geltungsbereich des Strassenverkehrsgesetzes. Allfällige bilateralen Abkommen fänden hier aus seiner Sicht auch keine Anwendung.

Zwischen der Schweiz und Deutschland gibt es ein Rahmenabkommen, welches die Grenzabfertigung zwischen den Ländern regelt. Im Rahmen der Grenzabfertigung dürfen Zollbeamte das Recht des eigenen Staates anwenden, auch wenn sich der eigentliche Kontrollort im Gebiet des anderen Staates befindet. Begeht eine Person im Rahmen der Grenzabfertigung also beim Schweizer Zoll, der auf deutschem Boden liegt, eine Straftat, so ist Schweizer Recht anwendbar (Art. 4 des Rahmenabkommens). Der Begriff der Grenzabfertigung wird dabei weit ausgelegt. Er umfasst nicht nur zollrechtliche Themen. Es sind auch verkehrspolizeiliche KOntrollen möglich, zu welchen Grenzbeamte gemäss Art. 4 SKV ausdrücklich ermächtigt sind. Entscheidend ist letztlich der Zusammenhang des strafbaren Verhaltens mit dem Grenzübertritt (zum Ganzen E. 1.3). Die verkehrspolizeiliche Kontrolle fand vorliegend auf deutschem Staatsgebiet statt. Die Grenzbeamten durften eine Verkehrskontrolle durchführen und ein Strafverfahren gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG einleiten.

Zum zweiten Vorwurf bringt der Beschwerdeführer vor, dass die Verurteilung seiner Straftaten vom Juni 2017 aufgrund einer privaten Videoüberwachung eines Flughafens erfolgte. Diese Aufnahmen und damit auch alle Folgebeweise sind aus seiner Sicht gemäss Art. 141 Abs. 2 und 4 StPO nicht verwertbar. Insbesondere stört sich der Beschwerdeführer daran, dass die Videoüberwachung nirgends gekennzeichnet ist und er damit nicht (konludent) in das Aufnehmen seiner Personendaten bzw. seines Kontrollschildes einwilligen konnte (E. 2.1).

Von Privaten rechtswidrig erlangte Beweismittel sind nur verwertbar, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht. Die Beweismittel müssen zur Aufklärung von schweren Straftaten dienen, wobei darunter nicht nur Verbrechen, sondern auch Vergehen fallen können. Wer Kontrollschilder filmt, bearbeitet Personendaten im Sinne von Art. 3 DSG. Es gelten dabei die Grundsätze von Art. 4 DSG, z.B. dass eine Videoaufnahme erkennbar sein muss, wobei die Verletzung der vorgenannten Grundsätze gemäss Art. 12 DSG zu einer widerrechtlichen Persönlichkeitsverletzung führt. Die Persönlichkeitsverletzung kann allerdings gemäss Art. 13 DSG gerechtfertigt sein. Dann sind die privaten Beweise uneingeschränkt verwertbar (E. 2.3).

Um es kurz zu machen: Ob im Flughafenparking aufgrund der Umstände erkennbar war, ob man gefilmt wird, kann aus Sicht des Bundesgerichts offenbleiben. Für die meisten Leute wäre dies wohl sowieso offensichtlich. Der Flughafen hat ein überwiegendes und damit rechtfertigendes Interesse an der Überwachung seiner Parkhäuser, denn er kann damit für Sicherheit sorgen und allenfalls sogar Straftaten verhindern. Die Datenbearbeitung des Flughafens erweist sich damit im Sinne von Art. 13 DSG gerechtfertigt, womit die belastenden Videoaufnahmen gegen den Beschwerdeführer verwendet werden konnten.

Überwachungsvideo als Beweis

BGE 6B_1288/2019: Beweisverwertung (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, in Basel bei der Synagoge den Vortritt einer Velofahrerin missachtet zu haben. Die Velofahrerin verletzte sich leicht bei ihrem Notbremsmanöver. Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Videoaufnahme der privaten Videoüberwachungsanlsage der Synagoge, mit welcher der Vorfall gefilmt wurde, nicht als Beweis zugelassen werden darf, solange dieser Beweis ihn belastet. Sofern die Aufnahme allerdings entlastend ist, sollte die Aufnahme verwertbar sein. Die Vorinstanz erachtete die Aufnahme als verwertbar, auch wenn für sie das nach kantonalem Recht notwendige Reglement nicht vorlag. Diese Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift sei jedoch nur marginal und die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers seien durch die Aufnahme nur wenig tangiert worden.

Beweise, die unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, dürfen nur für die Aufklärung schwerer Straftaten verwertet werden. Ansonsten ist die Verwertung solcher Beweise gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO illegal. Das gilt auch für die Folgebeweise. Je schwerer eine Straftat ist, desto höher ist auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung bzw. an der Verwertung eines illegal erhobenen Beweises. Die Schwere Straftat beurteilt sich dabei nicht am abstrakt angedrohten Strafmass, sondern am konkreten Einzelfall (E. 2.1).

Die israelitische Gemeinde Basel und Inhaberin der Videoanlage ist eine öffentliche-rechtliche Körperschaft und unter gewissen Umständen zur Rechtshilfe verpflichtet. Allerdings gilt auch hier, dass die Grundsätze des rechtstaatlichen Handelns eingehalten werden müssen, was bedeutet, dass die Strafbehörden die Beweiserhebung nicht einfach an andere staatliche Organe outsourcen darf (E. 2.2).

Videoüberwachung tangiert das Recht auf Privatssphäre der gefilmten Person (Art. 13 BV). Persönliche Daten sind vor Missbrauch geschützt. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Schutz der Privatsphäre erfasst auch Lebenssachverhalte die sich im öffentlichen Raum abspielen. Man muss sich nicht stets beobachtet fühlen. Alle Grundrechte können allerdings im Rahmen von Art. 36 BV in verhältnismässiger Weise eingeschränkt werden. „Es ist jedenfalls nicht angebracht mit dem Schlagwort der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unbeschränkte Überwachungen zu begründen, die in vielfältigsten Ausgestaltungen unterschiedlichen Zwecken dienen können“ (E. 2.3).

Nach kantonaler Gesetzgebung bedürfen Videoüberwachungsanlagen in Basel ein Reglement, das Zweck, Verantwortlichkeit und die Löschzyklen regelt. Ein solches Reglement bestand aber nicht. Die Videoaufnahme erfolgte in gesetzeswidriger Weise (E. 2.4f).

Zudem wird dem Beschwerdeführerkein schweres Delikt vorgeworfen. Zwar wird eine Vortrittsmissachtung vorgeworfen, eine Kollision gab es aber nicht. Einfache und grobe Verkehrsregelverletzungen sind nach der Rechtsprechung keine schweren Straftaten im Sinne der Strafprozessordnung. Die Videoaufnahme wurde zu Unrecht verwertet (E. 2.6).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Vorsicht Meinung: Die Strafhoheit liegt beim Staat und Verbotenes sollte grds. auch bestraft werden. Es ist deshalb besonders wichtig, dass der Staat die Regeln einhält. Würde man den Strafbehörden die Möglichkeit geben, jeden erdenklichen Beweis zu verwerten, dann wären bald nur noch Hobbypolizisten und Sheriffs unterwegs. Ausgerüstet mit Dashcams und Kameras würde sich die Zivilgesellschaft gegenseitig bespitzeln. Krumm und krümmer würden die Methoden, mit welchen der ungeliebte Nachbar bei den Strafbehörden angeschwärzt wird. Es ist deshalb gut, dass das Bundesgericht hier noch Augenmass beweist und sich Orwell noch nicht im Grab umdrehen muss.

GoPro: The saga continues

BGE 6B_1282/2019: Beweisverwertung (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerderführer wurde vom Polizeigericht in Lausanne wegen einfacher und grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Im Mai 2018 überholte der Beschwerdeführer in Denantou ein Elektro-Moped, nachdem er dieses anhupte. Als der hintere rechte Teil seines Autos etwa auf der Höhe des Mopeds war fuhr er aprubt auf die rechte Strassenseite und bremste dann stark ab. Der Mopedfahrer musste ebenfalls stark bremsen und schlug zweimal auf das Heck des Fahrzeuges des Beschwerdeführers. Zwischen dem Auto und dem Randstein waren noch etwa 70cm. Nach diesem Manöver setzte der Beschwerdeführer seine Fahrt fort. Der Mopedfahrer hielt die Szene mit einer GoPro fest. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch.

Er stellt sich auf den Standpunkt, dass das GoPro-Video als Beweis nicht verwertbar ist. Nach Art. 141 StPO dürfen widerrechtlich erhobene Beweise grds. nicht verwertet werden. Sie dürfen nur dann verwertet werden, wenn sie von den Strafbehörden korrekt hätten erhoben werden können und wenn eine Interessensabwägung für die Verwertung spricht (E. 1, die die ganze Thematik und Rechtsprechung gut zusammenfasst).

In E. 2 setzt sich das Bundesgericht mit der datenschutzrechtlichen Problematik von privaten Filmaufnahmen in der Öffentlichkeit auseinander. Das Datenschutzgesetz ist Teil des Persönlichkeitsschutzes. Niemand muss sich konstant beobachtet fühlen. Die Persönlichkeitsverletzung kann allerdings gemäss Art. 13 DSG gerechtfertigt sein.

Sodann setzt sich das BGer mit dem allseits bekannten BGE 6B_1188/2018 „Dashcam-Entscheid“ auseinander, der hier auch schon gefeatured wurde. In diesem wurde die Verwertung von Dashcam-Aufnahmen bei einer groben Verkehrsregelverletzung als widerrechtlich befunden. U.a. geht es darum, zu verhindern, dass Privatpersonen im Strassenverkehr „Sheriff“ spielen, denn diese Aufgabe obliegt dem Staat (E. 3.3). Allerdings könne eine Interessensabwägung auch für die Verwertung von widerrechtlich erlangten Beweisen sprechen (E. 4), denn im „Dashcam-Entscheid“ liess das BGer offen, ob Rechtfertigungsgründe nach Art. 13 DSG vorliegen könnten. Insofern sieht sich das BGer nunmehr dazu verpflichet, diese Frage zu klären. Läge ein Rechtfertigungsgrund vor, wären die GoPro-Aufnahmen verwertbar (E. 5).

Art. 141 Abs. 2 StPO besagt, dass die Verwertung rechtswidrig erlanger Beweise möglich ist, wenn „schwere“ Straftaten aufgeklärt werden müssen, worunter man bisher Verbrechen verstand. In BGE 6B_1468/2019 E. 1.4 entschied das BGer allerdings, dass beim unbestimmten Rechtsbegriff der „schweren Straftat“ die gesamten Tatumstände zu berücksichtigen sind und nicht nur das abstrakte Strafmass. Damit ist bei garvierenden Fällen auch bei Vergehen eine Verwertung möglich (E. 6).

Vorliegend ging die Vorinstanz von der Verwertung der GoPro-Aufnahmen aus aufgrund der Tatumstände (E. 7). Da die GoPro kontinuierlich filmte und kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 13 DSG vorliegt, taxiert das BGer die Aufnahmen als widerrechtlich, da sie das Datenschutzgesetz verletzen (E. 7.1). Sodann prüft das BGer ob die Aufnahme nicht doch aufgrund der Tatumstände verwertet werden kann. Das Überholmanöver stellt aber nach Ansicht des BGer keine „schwere“ Straftat i.S.v. Art. 141 Abs. 2 StPO dar, u.a. weil es keinen Unfall oder Verletzte gab (E. 7.2).

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Video und sämtliche Folgebeweise daraus dürfen nicht verwertet werden. Das BGer verfasste i.c. eine riesige Abhandlung, nur um nachher eine relative kurze Subsumption folgen zu lassen. Nichts desto trotz scheint ein kleines Hintertürchen geöffnet für die Verwertung privater Beweise bei SVG-Widerhandlungen, die zwar „nur“ als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet werden, aber aufgrund der Tatumstände dennoch als „krass“ bzw. „schwer“ i.S. der StPO zu gelten haben.

P.S.: Ein äusserst komplizierter, französischer Entscheid. Falls sich Fehler eingeschlichen haben, einfach kommentieren.

Atemalkoholprobe

BGE 6B_533/2020: Wenn zwar der Fahrer, nicht aber das Gerät geeicht ist (teilw. Gutgh. Beschwerde)

Schon alleine der Untertitel war es wert, dieses französische Urteil zu übersetzen und zusammenzufassen. Das Bundesgericht befasst sich in dem Urteil metikulös mit den gesetzlichen Grundlagen zur beweissicheren Atemalkoholprobe.

Im Juli 2017 wurde der Beschwerdeführer einer Alkoholkontrolle unterzogen. Die erste Probe mit einem Alkoholtestgerät ergab einen Wert von 0.45mg/L. Die darauffolgende Probe mit einem Alkoholmessgerät ergab einen Wert von 0.46mg/L. Für das Fahren in fahrunfähigem Zustand wurde der Beschwerdeführer im Strafbefehl mit einer Geldstrafe (12TS à CHF 30.00) bestraft, wogegen er sich wehrt. Ebenfalls bestritten ist eine missbräuchliche Verwendung von Kontrollschildern nach Art. 97 SVG. Dieser Vorwurf wird aber bestätigt und insofern nicht weiter thematisiert. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Atemalkoholproben in Verletzung der entsprechenden Gesetzgebung erhoben wurden. Da damit Gültigkeitsvorschriften verletzt wurden, dürfen die Ergebnisse der Proben gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nicht als Beweise zugelassen werden. Die Vorinstanz war der Meinung, dass sowohl das Alkoholtest- als auch das Alkoholmessgerät einwandfrei funktionierten. In der Folge untersucht das BGer die Rechtmässigkeit der Atemalkoholproben (E. 3).

Das Fahren mit einer qualifizierten BAK ist ein Vergehen (Art. 91 SVG). Eine qualifizierte Alkoholkonzentration liegt ab einem Wert von 0.8 Gewichtspromillen bei der Blutprobe bzw. 0.4mg/L bei der Atemalkoholprobe vor (Art. 2 VO über Alkoholgrenzwerte im SV). Nach Art. 55 SVG ist stets eine verdachtslose Alkoholprobe möglich, wobei die Probe mit einem Alkoholmessgerät heutzutage Standard sein soll (E. 3.1.1).

Die Atemalkoholprobe kann mit einem Test- oder einem Messgerät durchgeführt werden (Art. 11/11a SKV). Für die Probe mit einem Testgerät gilt (Art. 11 SKV):

  • Frühestens nach einer Wartezeit von 20min oder
  • Vornahme einer Mundspülung unter Berücksichtung der Herstellerangaben
  • Zwei Messungen nötig, die nicht mehr als 0.05mg/L abweichen dürfen (ansonsten Probe mit Messgerät oder Blutprobe)
  • Der tiefere Wert der beiden Messungen zählt

Für die Probe mit einem Messgerät gilt (Art. 11a SKV):

  • Frühestens nach einer Wartezeit von 10min
  • Beim Nachweis von Mundalkohol nochmals 5min warten
  • Vorschriften der Messmittelverordnung müssen eingehalten werden

Die Atemalkoholtest- und –messgeräte müssen nach den Bedienungsanleitungen der Hersteller verwendet werden (Art. 19 ASTRA-VO). Weiter müssen die Geräte zur Alkoholprobe den Vorschriften der Messmittelverordnung entsprechen, u.a. ein Zulassungsverfahren durchlaufen sein. Und nachträglichen Kontrollzyklen unterworfen werden (Art. 20ff. MMV), damit die die Korrektheit der Messungen garantiert werden kann. Die Geräte für die Alkoholmessung müssen einmal im Jahr überprüft werden. Werden dabei Fehler festgestellt, muss ein Gerät vertieft geprüft werden (zum Ganzen E. 3.1.3 wo das BGer auch feststellt, dass die Gesetzte extrem komplex und teils auch redundant sind).

In Bezug auf die Probe mit dem Testgerät moniert der Beschwerdeführer, dass nur eine Messung vorgenommen wurde und dass die letzte Gerätekontrolle mehr als ein Jahr zurückliege. Das BGer sagt zunächst, dass die jährliche Kontrolle nicht punktgenau Jahr für Jahr durchgeführt werden müsse, lässt aber die Rechtmässigkeit der Probe mit dem Testgerät offen und kommt zu jener mit dem Messgerät (E. 3.2).

Das Atemalkoholmessgerät – ein Lion Intoxilyzer9000 – wurde im Labor des Herstellers geeicht, woraus die Vorinstanz schloss, dass das Gerät funktioniert. Der Beschwerdeführer entgegnet dazu, dass die Überprüfung nach Art. 24 MVV durchgeführt werden muss. Zudem kann den Unterlagen entnommen werden, dass das Gerät repariert werden musste und deshalb eine vertiefte technische Überprüfung nötig gewesen sei. Das Zertifikat des Herstellers entspreche nicht den gesetzlichen Anforderungen.

Das in Frage kommende Atemalkoholmessgerät wurde vom METAS nicht geeicht (E. 3.3.1). Die Atemalkoholprobe mit Messgeräten ist beweissicher und erfolgt durch eine elektrochemische Analyse und eine optische Infrarotmessung (E. 3.3.2). Die Beweiskraft der Atemalkoholmessung wirkt sich direkt auf den festgestellten Sachverhalt aus. Die Richtigkeit der wissenschaftlichen Messung ist deshalb elementar für das Vertrauen in die Messmethode. Aus diesem Grund muss das korrekte Funktionieren der Messgeräte durch das METAS garantiert werden. Die Regeln der Messmittelverordnung sollen für Rechtssicherheit garantieren, weshalb es keine Ordnungs-, sondern Gültigkeitsvorschriften sind (E. 3.3.3).

Im Fazit bedeutet das, dass mangels Überprüfung des Atemalkoholmessgeräts durch das METAS, die Messung nicht verwertet werden kann, weil Gültigkeitsvorschriften verletzt wurden. Gleiches gilt für den nicht zweifach durchgeführten Atemalkoholtest. Auch kann eine Messung nicht durch einen Test bestätigt werden und umgekehrt (E. 3.4). Zwar pflichtet das BGer der Vorinstanz zu, dass die Wahrscheinlichkeit einer inkorrekten Messung wohl niedrig sei, was aber nicht automatisch heisst, dass die Probe beweissicher ist. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, weil diese noch Abklärungen mit dem METAS vornehmen muss.

Dashcam-Aufnahmen als Beweis im Strafverfahren

Urteil 6B_1188/2018: Dashcam-Aufnahmen sind nicht verwertbar (gutgh. Beschwerde)

Die Beschwerdeführerin wurde wegen einem Spurwechsel auf der Autobahn wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Hauptbelastungsbeweis war eine Dashcamaufnahme einer Privatperson. Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass diese Aufnahme ein rechtswidrig erlangter Beweis ist.

E. 2 zur Beweiserhebung:
Von Privatpersonen rechtswidrig ermittelte Beweise sind nur verwertbar wenn (E.2.1),

  • die Beweise von den Strafbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ
  • eine Interessensabwägung für die Verwertung der Beweise spricht.

Bei der Interessensabwägung gibt es einen Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten Person, nicht bestraft zu werden. Von den Strafbehörden rechtswidrig erlangte Beweise dürfen gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nur dann verwertet werden, wenn sie für die Aufklärung einer schweren Straftat unabdingbar sind. Diese Regelung kann analog auf private Beweise angewendet werden (E. 2.2).

Dashcamaufnahmen im öffentlichen Raum fallen unter den Anwendungsbereich von Art. 3 DSG. Ist für Dritte nicht erkennbar, dass eine Dashcam filmt, dann liegt gemäss Art. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor (E. 3.1). Für andere Autofahrer dürfte kaum je erkennbar sein, dass man von einer Dashcam gefilmt wird, da man seine Aufmerksamkeit auf den Verkehr zu richten hat (E. 3.2). Die Persönlichkeitsverletzung kann auch nicht gemäss Art. 13 DSG durch ein privates Interesse des Dashcaminhabers gerechtfertigt werden. Im Strafverfahren geht es um das Interesse des Staates an seinem Strafanspruch und dem Interesse der beschuldigten Person an einem fairen Verfahren. Die Interessen des Datenbearbeiters bzw. Dashcaminhabers treten dabei zurück (E. 3.3).

Die Dashcamaufnahme erfolgte damit widerrechtlich. Die einfache und grobe Verkehrsregelverletzungen sind keine schweren Delikte, die eine Verwertung rechtfertigen würden. Offenbleiben kann dabei, ob die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erheben können.

Das BGer folgt damit inhaltlich der Begründung des Entscheids des Kantonsgericht SZ vom 20.06.2017 und verhindert damit, dass unsere Strassen noch mehr durch Hobbydetektive verstopft werden, die sich gegenseitig anzeigen.

Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise bei Sicherungsmassnahmen

BGE 1C_318/2018:

Beim Beschwerdeführer wurde nach einem Unfall ein THC-COOH-Wert von 240 µg/L festgestellt. Es wurde ein Fahreignungsabklärung angeordnet. Zwischenzeitlich wurde der Beschwerdeführer im Strafverfahren freigesprochen, weil die Blutprobe mangels korrekter Anordnung nicht verwertbar war. Wiedererwägungsweise verlangt er die Aufhebung der Verfügung, mit welcher die Fahreignungsabklärung angeordnet wird. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 2.5 zur Beweisverwertung: Bei der Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise wird unterschieden zwischen den Verfahren, in welchen die Fahreignung in Frage steht und jenen, in welchen dies nicht der Fall ist. Das Bundesgericht wies ausdrücklich darauf hin, dass rechtswidrig erhobene Beweismittel zur Prüfung der Frage, ob sich die Einleitung eines Verfahrens zur Abklärung der Fahreignung rechtfertige, berücksichtigt werden können. Das öffentliche Interesse am Schutz der Verkehrsteilnehmer überwiegt in dieser Hinsicht (vgl. BGE 139 II 95 E. 3.5).