Fahreignung bei Ausländern und weitere Urteile

Hallo geschätzte SVG-Nerds
Einige Urteile haben sich seit dem letzten Post angesammelt. Da sich darunter keine absoluten Blockbuster befinden, erfolgt deren Aufarbeitung – wie auch schon – in telegramartiger Kurzzusammenfassung. Die ersten beiden Entscheide zeigen, dass das Strassenverkehrsrecht auch gegenüber ausländischen Staatsangehörigen wirksam ist, deren charakterliche Fahreignung zweifelhaft ist.

Urteil 1C_619/2022: Auch Ausländer müssen Charakter haben

Mit diesem Urteil bestätigt das Bundesgericht, dass die Regeln für Ausweisentzüge auch für Fahrverbote bei Ausländern gelten. So wurde bei einem Italiener, der ein Raserdelikt beging, mehrere Vorbelastungen hatte und sich weigerte, eine Fahreignungsabklärung zu machen, zu Recht eine Sicherungsaberkennung auf unbestimmte Zeit wegen fehlender charakterlicher Fahreignung angeordnet.

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Der Beschwerdeführer ist Italiener, wohnt in Italien und besitzt eine italienische Fahrerlaubnis. Im Mai 2018 fuhr er auf der Autobahn 201 km/h, wofür er wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. IM März 2021 wurde die Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers für vier Jahre aberkannt, von Januar 2021 bis Januar 2025. Die Wiederzulassung zu Schweizer Strassen wurde von einem positiv lautenden verkehrspsychologischen Gutachten, dem Ablauf der Sperrfrist sowie einem klaglosen Verhalten abhängig gemacht. Der Beschwerdeführer verlangt vor Bundesgericht die Anordnung eines Fahrverbotes von 48 Monaten. Von sichernden Massnahmen, also der verkehrspsychologischen Abklärung, sei aber abzusehen.

Die Verkehrszulassungsverordnung enthält in Art. 42ff. regeln für Motorfahrzeugführer aus dem Ausland. Ausländische Führerausweise werden gemäss Art. 45 Abs. 1 VZV nach den gleichen Regeln aberkannt, die auch für den Entzug von Schweizer Führerausweisen gilt. Entzogen werden dürfen ausländische Ausweise aber nicht, da damit das Territorialitätsprinzip verletzt würde. Die Fahreignung ist eine generelle Grundvoraussetzung für das Führern von Motorfahrzeugen in der Schweiz (Art. 14 SVG). Ist jemandem die Fahreignung – medizinisch oder charakterlich – abzusprechen, muss die Fahrerlaubnis entzogen bzw. aberkannt werden (Art. 16d SVG).

Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass es für die Aberkennung einer ausländischen Fahrerlaubnis keine genügende gesetzliche Grundlage gäbe und dass die Aberkennung im Widerspruch zu Art. 42 Abs. 3 des
Wiener Übereinkommen vom 8. November 1968 über den Strassenverkehr (SR 0.741.10) stehe, der grds. eine Anerkennungspflicht von ausländischen Führerausweisen vorsehe. Dem widerspricht das Bundesgericht, denn die Norm soll es eben gerade erlauben, Sicherungsmassnahmen gegenüber Ausländern anzuordnen. Da diese nur für die Schweiz gelten, wird auch das Territorialitätsprinzip nicht verletzt. Der italienische Staat kann selber entscheiden, ob er gegenüber dem Beschwerdeführer Massnahmen ergreift oder nicht (E. 4).

Der Beschwerdeführer erachtet die Aberkennung auf unbestimmte Zeit zudem als unverhältnismässig. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass bei einem ersten Raserdelikt lediglich eine Warnmassnahme von zwei Jahren angeordnet werden darf. Allerdings widerspricht das Bundesgericht auch diesem Argument. Der Beschwerdeführer ist einschlägig vorbelastet. Innert drei Jahren beging er nicht nur ein Raserdelikt, sondern fünf weitere Geschwindigkeitsüberschreitungen im Bereich einer schweren Widerhandlung. Zudem war der Beschwerdeführer gemäss den Feststellungen der Vorinstanz nicht bereit, bei der Abklärung seiner charakterlichen Fahreignung mitzuwirken. Bei der grossen Anzahl als Widerhandlungen durfte die Vorinstanz ohne weiteres von einer Rücksichtslosigkeit gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG ausgehen. Die Sicherungsaberkennung war damit ohne weiteres erforderlich und geeignet und die Verkehrssicherheit in der Schweiz zu gewährleisten, auch wenn vorher kein Gutachten eingeholt wurde. Schliesslich durfte für die Wiederzulassung auch ein klagloses Verhalten gefordert werden (E. 5).


Urteil 1C_536/2022: „Das hier ist nicht die deutsche Autobahn!“

Dieser Entscheid befasst sich vorbildlich mit der Bindung der Administrativbehörde an den im Strafverfahren gefällten Entscheid. Ausländer können sich nicht darauf berufen, dass sie nicht gewusst hätten, dass sie sich bereits im Strafverfahren wehren müssen. Der Entscheid äussert sich zudem zum Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten und zur vorsorglichen Aberkennung von ausländischen Führerausweisen.

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Der Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger und wohnt auch in Deutschland. Ihm gegenüber wurden schon diverse Fahrverbote wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen angeordnet. Schliesslich wurde seine Fahrerlaubnis wegen einer schweren Widerhandlung im Februar 2022 vorsorglich für immer aberkannt. Wegen dieser jüngsten Geschwindigkeitsüberschreitung wurde der Beschwerdeführer mit einer unbedingten Geldstrafe strafrechtlich verurteilt.

Der Beschwerdeführer rügt zunächst einen willkürlich festgestellten Sachverhalt. Der Blitzkasten habe nicht richtig funktioniert und man sei von einer falschen Höchstgeschwindigkeit ausgegangen. Die kantonale Behörde ging vom Sachverhalt aus, sowie er im Strafverfahren festgestellt wurde.

Zur Bindung nur kurz: Die Administrativbehörde ist grds. an den Strafentscheid gebunden. Nur wenn sie feststellen muss, das der Entscheid im Strafverfahren auf offensichtlich unrichtig festgestellten Tatsachen beruht, muss sie eigene Abklärungen treffen. In der rechtlichen Würdigung eines Sachverhalts hingegen ist die Administrativbehörde grds. frei. Sie muss aber auch hier darauf achten, dass sie den Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ einhält, also dass die Massnahme im Administrativverfahren zur Strafe im Strafverfahren nicht total widersprüchlich ist.

In Deutschland werden Fahrverbote (soweit ich weiss) von der Strafbehörde ausgesprochen, also z.B. mit einem Bussgeldbescheid oder einem Strafbefehl. Trotzdem konnte der Beschwerdeführer als deutscher Staatsangehöriger sich nicht darauf berufen, dass er die Schweizerische Dualität der Verfahren nicht kannte und deshalb den Entscheid im Strafverfahren nicht anfechtete. Das Bundesgericht erwartet von Ausländern, insb. jenen die hier beruflich unterwegs sind, dass sie sich zumindest oberflächlich mit den in der Schweiz geltenden Regeln auseinandergesetzt haben. Beim Beschwerdeführer gilt das umso mehr, da ihm gegenüber schon diverse Fahrverbote angeordnet wurden (E. 3).

Der Beschwerdeführer überschritt die Geschwindigkeits-Limite von 60 km/h auf der Autobahn um 36 km/h. Das ist gemäss der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Schematismus ohne weiteres eine schwere Widerhandlung (E. 4).

Und schliesslich erfolgte i.c. die vorsorgliche Aberkennung zu Recht, denn bei einer drohenden Sicherungsaberkennung ist es wegen der Verkehrssicherheit nicht verantwortbar den betroffenen Lenker weiterfahren zu lassen. Bei Sicherungsmassnahmen haben aus diesem Grund Rechtsmittel grds. auch keine aufschiebende Wirkung (E. 5).


Urteil 1C_600/2022: Wiederzulassung zum Strassenverkehr nach Drogensucht

Dieses Urteil befasst sich mit der Verhältnismässigkeit von medizinischen Auflagen, die für eine Wiedererteilung einer sicherheitshalber entzogenen Fahrerlaubnis nötig sind.

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Dem Beschwerdeführer wurde der Führerausweis im Jahr 1995 wegen einer Drogenproblematik (Heroin) entzogen. Nachdem ihm der Führerausweis unter Auflagen im Juli 2015 wiedererteilt wurde, musste die Fahrerlaubnis aber schon wieder im Oktober 2016 entzogen werden, da der Beschwerdeführer Kokain konsumierte und damit gegen die Auflagen verstiess. In der Folge verliefen drei verkehrsmedizinische Begutachtungen für den Beschwerdeführer negativ. Bei jüngsten Abklärung im August 2021 bestätigte die Haaranalyse zwar eine knapp sechsmonatige Drogenabstinenz. Dafür wurde ein übermässiger Alkoholkonsum (35pg/mg ETG) festgestellt. Schliesslich wurde für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis vorausgesetzt:
– Alkohol- und Drogenabstinenz, Nachweis mittels Haaranalyse
– Fortsetzung einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung
– Beibringen eines pneumologisch-schlafmedizinischen Berichts
– Aktuelles verkehrsmedizinisches Gutachten und
– Neue theoretische und praktische Führerprüfung.

Der Beschwerdeführer erachtet einerseits die Begutachtung als willkürlich und andererseits die Voraussetzungen für die Wiederzulassung zum Strassenverkehr als derart unverhältnismässig, dass ihm eine Rückkehr auf die Strassen faktisch verunmöglicht werde. Aus seiner Sicht werde bei ihm zu Unrecht von einer Sucht ausgegangen, die seine Fahreignung gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. b SVG ausschliesse.

Der verkehrsmedizinische Suchtbegriff deckt sich nicht mit dem schulmedizinischen. Eine Sucht aus verkehrsrechtlicher Sicht liegt dann vor, wenn jemand soviel „Genussmittel“ konsumiert, dass die Gefahr besteht, dass die Person im Rauschzustand am Strassenverkehr teilnimmt (ausführlicher zum Suchtbegriff E. 2.1.2). Die Kontrolle von Alkohol- und Drogenabstinenzen per Haaranalyse ist ohne weiteres möglich. Ab einem EtG-Wert von 30 pg/mg im Haar gilt ein Alkoholkonsum als übermässig. Die Haaranalyse des Beschwerdeführers ergab bei der letzten Begutachtung einen EtG-Wert von 35 pg/mg. Im Gutachten wird deshalb von einer Suchtverlagerung ausgegangen. Dass der Beschwerdeführer nie alkoholisiert Auto gefahren ist, ist dabei unerheblich. Im Gutachten muss auch nicht der Betäubungsmittel- und Alkoholkonsum unabhängig von einander beurteilt werden, sondern es ist korrekt, wenn die Lebensgeschichte der Betroffenen Person ganzheitlich beurteilt wird. Insofern war das Gutachten schlüssig begründet und damit für die Behörden verbindlich (zu allem ausführlich E. 2).

Nach einer Sicherungsmassnahme erfolgt die Wiedererteilung eines Führerausweises in der Regel mit Auflagen (Art. 17 Abs. 3 SVG). Auflagen müssen dem Einzelfall entsprechen und verhältnismässig sein. Insb. bei der Überwindung von Süchten sind längere Abstinenz-Auflagen ein geeigneter Eingriff in die Grundrechte, um einerseits eine Person wieder am Strassenverkehr teilnehmen zu lassen, aber zugleich auch die Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Die im vorliegenden Fall für die Wiederzulassung angeordneten Voraussetzungen sind ohne weiteres gerechtfertigt (zum Ganzen E. 3).


Urteil 1C_219/2023: Der Grundsatz der lex mitior hat auch seine Grenzen

In diesem Fall befasst sich das Bundesgericht mit einem kaskadenbedingt viermonatigen Ausweisentzug. Die Vorbelastung war ein Rechtsüberholen bzw. schwere Widerhandlung. Auch wenn heute Rechtsüberholen in gewissen Fällen milder bestraft wird, kann darauf nicht mehr zurückgekommen werden.

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Der Beschwerdeführer wurde wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer Busse bestraft. Er hielt auf der Autobahn zu einem vorfahrenden Auto bei 96 km/h lediglich einen Abstand von 18.2 m bzw. 0.68 s. Wegen einer mittelschweren Widerhandlung wurde ihm der Führerausweis entzogen, weil er mit einer schweren Widerhandlung wegen Rechtsüberholens vorbelastet ist.

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass seine aktuelle Widerhandlung mittelschwer ist und damit bei einer Vorbelastung mit einer schweren Widerhandlung ein mind. viermonatiger Ausweis-Entzug folgen muss (Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG). Er stört sich aber daran, dass seine Vorbelastung, ein als schwere Widerhandlung geahndetes Rechtsüberholmanöver, bei der aktuellen Beurteilung als schwere Vorbelastung gewertet wird und damit zu einer viermonatigen Massnahme führt. Gemäss der neueren Rechtsprechung zum Rechtsüberholen kann ein solches Manöver auch ein Ordnungsbussentatbestand erfüllen und damit nicht massnahmewürdig sein (vgl. BGE 149 II 96).

Der Grundsatz der lex mitior ist auch im Administrativmassnahmen-Verfahren anwendbar (Art. 102 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 StGB). Der Grundsatz regelt, wann ein Gericht (oder im Bereich des SVG auch eine Verwaltungsbehörde) einen bestimmten Sachverhalt nicht anhand des Rechts zu beurteilen hat, das bei Tatbegehung gegolten hat, sondern gestützt auf die im Urteilszeitpunkt geltenden (milderen) Normen. Dem Beschwerdeführer geht es aber nicht um den aktuellen Fall, sondern um die längst rechtskräftige Vorbelastung. Dies sprengt allerdings den Anwendungsbereich der lex mitior. Diese gilt einzig für noch nicht beurteilte Sachverhalte und stellt für sich alleine keinen Revisionsgrund dar. Die Anwendung des milderen Rechts auf sämtliche Vorbelastungen bezeichnet das Bundesgericht als unpraktikabel, da dies faktisch in den meisten Fällen auch gar nicht mehr möglich wäre. Zudem wäre der behördliche Aufwand immens.


Urteil 1C_284/2022: Woher das Haar kommt, ist sekundär…

Dieses Urteil befasst sich mit dem Nachweis einer Trunksucht mittels Sekundärhaare. Diese können ohne weiteres für die verkehrsmedizinische Begutachtung herangezogen werden, sofern sich das Gutachten nicht nur auf die Haaranalyse abstellt.

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Der Beschwerdeführer geriet in eine Polizeikontrolle mit einer Atemalkoholkonzentration von 0.82 mg/L. Seine Fahrerlaubnis wurde daraufhin vorsorglich entzogen und eine Fahreignungsabklärung angeordnet. Die Begutachtung verlief negativ, weil im Beinhaar des Beschwerdeführers ein EtG-Wert von 56 pg/mg festgestellt wurde. Der im Zeitpunkt der Begutachtung kurzgeschorene Beschwerdeführer stört sich daran, dass die Haaranalyse in seinem Fall nicht an Kopfhaar durchgeführt wurde. Er stützt sich dabei medizinische Lehrmeinungen, nach welchen Haaranalysen anhand von Sekundärhaaren nur zurückhalten durchgeführt werden sollten. Nach seiner Ansicht hätte man ihn auffordern müssen, die Kopfhaare wachsen zu lassen. Sekundärhaar eignet sich aus seiner Sicht höchstens für eine Abstinenzkontrolle, nicht aber für die Bestimmung von Konsumationszeitspanne oder konsumierte Menge.

Auch wenn es andere Lehrmeinungen zu Sekundärhaaren gibt, geht der Beschwerdeführer nicht darauf ein, dass gemäss den Empfehlungen der SGRM zur Haaranalyse bei fehlendem Kopfhaar auf Arm-, Bein- oder Brustbehaarung ausgewichen werden kann (E. 2.3). Sofern die Beinhaare mind. 3 cm lang sind, können sie also ohne Weiteres für eine Haaranalyse herhalten (E. 2.4).

Sodann stütze sich die Begutachtung nicht ausschliesslich auf die Haaranalyse. Das Gutachten berücksichtigte auch die weiteren Einzelfallumstände, welche gemäss Rechtsprechung geprüft werden müssen:
– Prüfung der persönlcihen Verhältnisse inkl. Fremdberichte
– Gründliche Aufarbeitung von Trunkenheitsfahrten
– Spezifische Alkoholanamnese
– Umfassende medizinische Untersuchung.
All diese Einzelheiten wurden bei der Begutachtung berücksicht. Schliesslich nützt es dem Beschwerdeführer auch nichts, dass er bis jetzt einen reinen verkehrsrechtlichen Leumund hatte.

Der definitive Sicherungsentzug nach der negativ ausgefallenen Begutachtung wurde also zu Recht angeordnet.

Leichte Widerhandlung wegen Ausserortscharakter?

Urteil 1C_78/2022: Einfach wieder mal das Grundlegende

Manchmal tut es einfach gut, einen Entscheid zu lesen, der sich mit den Grundlagen des Administrativverfahrens auseinandersetzt. Repetition ist ja bekanntlich der Schlüssel dafür, dass man Grundlegendes nicht plötzlich vergisst und zudem kann anhand dieses Urteil die eine oder andere Urteilssammlung oder Kommentarstelle aktualisiert werden. Das Urteil befasst sich mit der Qualifikation der Widerhandlungen nach Art. 16ff. SVG, mit dem Schematismus zu Geschwindigkeitsüberschreitungen und mit der Bindung der Administrativbehörde an das Strafverfahren.

Der Beschwerdeführer überschritt innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 50km/h um 33km/h, grds. eine grobe Verkehrsregelverletzung. Von der Staatsanwaltschaft aber wurde er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit einer Busse von CHF 800.00 bestraft. Die Geschwindigkeitsüberschreitung erfolgte in ländlichem Gebiet, weshalb die Strafbehörde davon ausging, dass die Verkehrsregelverletzung nicht in rücksichtsloser Weise erfolgte und damit der subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt war. Die MFK SO entzog daraufhin den Führerausweis für eine Dauer von vier Monaten wegen einer mittelschweren Widerhandlung. Der Beschwerdeführer möchte allerdings gemäss Art. 16a SVG wegen einer leichten Widerhandlung mit einer Verwarnung sanktioniert werden.

Zunächst ruft das Bundesgericht die Definition der mittelschweren Widerhandlung in Erinnerung. Diese ist ein Auffangtatbestand und liegt vor, wenn weder die privilegierenden Voraussetzungen der leichten Widerhandlung (leichtes Verschulden und geringe Gefahr), noch die qualifizierenden Voraussetzungen der schweren Widerhandlung (schweres Verschulden und ernstliche Gefahr) erfüllt sind (s. E. 4.1.1).

Eine Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um mehr als 25km/h stellt nach dem gefestigten Schematismus grundsätzlich immer eine schwere Widerhandlung dar, wobei konkrete Umstände in der Regel nicht beachtet werden müssen. Nur in Ausnahmesituationen muss die zuständige Behörde vom Schematismus abweichen, z.B. wenn sich die betroffene Person aus nachvollziehbaren Gründen in einem Ausserortsbereich wähnte (E. 4.1.2).

Die Administrativbehörde ist grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden (zum Ganzen E. 4.2.1), in der rechtlichen Würdigung desselben ist sie aber in der Regel frei. Allerdings muss sie dabei die Einheit der Rechtsordnung beachten und widersprüchliche Urteile vermeiden (zum Ganzen E. 4.2.2).

Die kantonalen Behörden erwogen, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 33km/h innerorts objektiv eine schwere Widerhandlung vorliegt. Mit Bezug auf das Strafurteil ging man aber davon aus, dass das Verschulden mittelschwer war, da sich die Widerhandlung in ländlichem Gebiet erfolgte. Ein leichtes Verschulden und eine geringe Gefahr lagen aber nicht vor, da es am Widerhandlungsort doch einige Wohnhäuser und auch Nebenstrassen gibt. Zudem gab der Beschwerdeführer an, die Strecke auswendig zu kennen, weshalb er hätte wissen müssen, dass er sich im Immerortsbereich befand. Damit kann auch sein Verschulden nicht mehr als leicht bezeichnet werden (E. 4.2). Das Bundesgericht stützt natürlich die Argumente der Vorinstanz und weist den Beschwerdeführer explizit darauf hin, dass die Vorinstanz im Sinne der Einheit der Rechtsordnung bereits vom Schematismus abgewichen ist, indem sie die objektiv schwere Widerhandlung als nur mittelschwer qualifizierte.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Sistierung des Administrativverfahrens

BGE 1C_464/2020: Sistierung und Bindung an das Strafurteil

In der Praxis ist die Sistierung des Administrativverfahrens Alltag. Da es sich bei Warnmassnahmen im Administrativverfahren um Massnahmen mit „Strafcharakter“ handelt, gilt grds. die in Art. 6 EMRK stipulierte Unschuldsvermutung. Die Strassenverkehrsämter warten deshalb i.d.R. den Ausgang eines Strafverfahrens ab, bevor sie eine Massnahme anordnen. Dem Beschwerdeführer wird eine Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeworfen. Er stört sich daran, dass das StVA Kt. BE eine Warnmassnahme von drei Monaten verfügt hat, bevor der Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen ist. Nach seiner Ansicht hätte das Administrativverfahren sistiert werden müssen.

Grds. ist das Strassenverkehrsamt an die Tatsachenfeststellung im Strafentscheid gebunden, es sei denn es stellt im Rahmen der Untersuchungsmaxime Tatsachen fest, die der Strafbehörde unbekannt waren. In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts, also auch des Verschuldens, ist die Behörde aber frei. Die betroffene Person muss ihre Vorbringen deshalb grds. im Strafverfahren geltend machen und darf nicht das Administrativverfahren abwarten (E. 2.2).

Daraus folgt, dass die Strassenverkehrsämter i.d.R. das rechtskräftige Strafurteil abwarten müssen, bevor sie eine Verfügung erlassen. Damit sollen widersprüchliche Urteile vermieden und dem Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ gehuldigt werden. Davon kann dann abgewichen werden, wenn die im Strafverfahren behandelten Punkte für das Verwaltungsverfahren unbedeutend sind (E. 2.3).

Vorliegend durfte aber das Strassenverkehrsamt eine Verfügung erlassen, obwohl der Strafbefehl noch nicht rechtskräftig war, weil es keine offensichtlichen Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des Strafbefehls gab (E. 2.4).

Vorsicht Meinung: In klaren Fällen macht es eigtl. Sinn, dass die Ämter ihre Administrativverfahren nicht sistieren müssen. Es gibt allerdings im Strafverfahren immer wieder überraschende Entscheide – auch in „klaren“ Fällen. Aus diesem Grund sollte man m.E. weiterhin grosszügig sistieren, zumal die betroffene Person aus der längeren Verfahrensdauer nichts zu ihren Gunsten ableiten kann, da sie durch das Sistierungsbegehren die Verlängerung verursacht (vgl. z.B. BGE 1C_542/2016).

Oster-Rundschau neue BGE

Liebe Verkehrsrechtsenthusiast*innen

In letzter Zeit musste der Schreiberling den Blog aus familiären Gründen etwas vernachlässigen. Deshalb fassen wir die Entscheide der letzten Wochen in einer Art Rundschau kurz zusammen.

BGE 1C_298/2020: Verkehrspsychologische Abklärung
Die Teilnahme an einem illegalen Rennen in Deutschland berechtigt zur Anordnung einer psychologischen Fahreignungsabklärung. Interessant: Der vorsorgliche Entzug wurde von der Vorinstanz aufgehoben.

BGE 1C_415/2020: Dauer der Massnahme, Bindung an das Strafurteil
Das Strassenverkehrsamt ist an den Strafbefehl gebunden. Man kann nicht erst im Administrativverfahren die Beweisverwertung einer privaten Dashcamaufnahme anprangern. Das hätte im Strafverfahren gemacht werden müssen.
In der Einzelfallbeurteilung zur Dauer der Massnahme war es gerechtfertigt, wegen mehrern groben Verkehrsregelverletzungen den Führerschein für fünf Monate zu entziehen, auch wenn der Beschwerdeführer einen unbescholtenen Leumund hatte und beruflich auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.

BGE 1C_319/2020: Fahreignung aus medizinischen Gründen
Der Verdacht auf ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, eine Polyneuropathie (Erkrankung des Nervensystems) und erhöhter Alkoholkonsum berechtigen zur Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Die Fahrerlaubnis war nicht vorsorglich entzogen.

BGE 6B_716/2020: Die abgeurteilte Sache in Europa
Dieses äusserst interessante und komplexe Urteil beschäftigt sich mit der Frage, wann nach dem Schengener Durchfühurngsübereinkommen in Europa eine abgeurteilte Sache vorliegt, also die Schweiz eine Person nicht mehr bestrafen kann, weil bereits ein ausländisches Urteil vorliegt. Grundlage ist ein Raserdelikt in der Schweiz. Zumindest über einen Teil des Sachverhalts (Fahren ohne Berechtigung) erliess die deutsche Staatsanwaltschaft ohne grössere Abklärungen eine Einstellung. Die Schweiz erklärte bei der Ratifikation des SDÜ gemäss Art. 55 SDÜ aber, nicht an Art. 54 SDÜ gebunden zu, wenn die Tat ganz in der Schweiz begangen wurde, was hier der Fall war. Die Schweizer Strafbehörden durften den Beschwerdeführer also wegen Rasens verurteilen.

BGE 6B_1125/2020: Tödliches Überholmanöver
Bei einem Überholmanöver übersieht der Beschwerdeführer ein entgegenkommendes Mofa. Dessen Lenker stirbt tragischerweise an den Unfallfolgen. Zu Recht wurde der Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der Entscheid befasst sich exemplarisch mit den Voraussetzungen der Fahrlässigkeit und der Aufmerksamkeit nach Art. 31 SVG.

BGE 6B_1147/2019: Motorradunfall bei Nässe, angemessene Geschwindigkeit
Bei einem Überholmanöver auf regennasser Autobahn mit ca. 120km/h verlor der Beschwerdeführer die Kontrolle über sein Motorrad. Er stellt sich auf den Standpunkt wegen einer Asphaltfuge und nicht etwa wegen dem Regen gestürzt zu sein. Das sei nicht vermeidbar gewesen. Die Geschwindigkeit muss allerdings den Umständen angepasst werden. So verhielt sich der Beschwerdeführer pflichtwidrig, indem er die zulässige Geschwindigkeit bei nasser Fahrbahn und schlechter Sicht ausfuhr und just vor einer Kurve zu einem Überholmanöver ansetzte. Als erfahrener Motorradfahrer hätte er vorhersehen können, dass sein Motorrad bei nasser Fahrbahn wegrutschen kann. Mit einer Anpassung der Geschwindigkeit hätte der Unfall vermieden werden können.

Das Alpenmotorrad

BGE 1C_263/2019 und 1C_264/2019:

Die Beschwerdeführer sind Bergbauern und bewirtschafteten die Alp „Uf Garti“ bei Frutigen. Um Auf die Alp zu gelangen, verwendeten die Beschwerdeführer und wohl weitere Bergbauer nicht immatrikulierte Motorräder ohne MFH und teils mit typenfremden Fahrzeugteilen. Beide Beschwerdeführer besitzen keinen Motorradführerschein. Zumindest der Beginn des Weges führt noch über eine öffentliche Strasse. Die Beschwerdeführer wurden vom Regionalgericht u.a. wegen Fahren ohne Berechtigung, Fahren ohne MFH und Führen eines nicht vorschriftsgemässen Fahrzeuges verurteilt. Unter Annahme eines bes. leichten Falles nach Art. 100 Ziff. 1. SVG sah es aber von einer Bestrafung ab.

Das StVA BE entzog den Beschwerdeführern unter Annahme einer mittelschweren Widerhandlung die Fahrberechtigung für einen Monat. Die Beschwerdeführer stellen sich auf den Standpunkt, dass die Massnahme dem Strafurteil widerspricht und ein besonders leichter Fall nach Art. 16a Abs. 4 SVG anzunehmen sei. Zudem seien sie gutgläubig davon ausgegangen, ein landwirtschaftliches Fahrzeug zu lenken. Das BGer weist die Beschwerden ab.

An die Tatsachenfeststellungen der Strafbehörde ist das Strassenverkehrsamt i.d.R. gebunden. In der rechtlichen Würdigung ist es hingegen frei – namentlich auch der Würdigung des Verschuldens. Der Warnungsentzug ist eine der Strafe ähnliche, aber von ihr unabhängige Verwaltungsmassnahme mit präventivem Charakter, die primär die Erziehung des fehlbaren Fahrzeuglenkers im Interesse der Verkehrssicherheit und nicht dessen Bestrafung bezweckt, auch wenn sie mitunter vom Betroffenen als Strafe empfunden wird. Die straf- und die verwaltungsrechtliche Beurteilung der Schwere eines strassenverkehrsrechtlich massgeblichen Fehlverhaltens müssen sich daher nicht zwingend decken (E. 3.2).

Gemäss Art. 16b Abs. lit. c SVG ist das Führen eines Motorfahrzeuges ohne entsprechende Kategorie eine mittelschwere Widerhandlung. Da noch weitere Delikte hinzukommen, erachtet das BGer die Massnahmedauer von einem Monat als milde. Motorräder sind nach Ansicht des BGer offensichtlich keine landwirtschaftlichen Fahrzeuge und es erachtet die gegenteiligen Vorbringen der Beschwerdeführer als Ausreden. Hinzukommt, dass die Polizei den Alptransport mit der Alpgenossenschaft bereits thematisierte und sich die Beschwerdeführer des widerrechtlichen Verhaltens wohl bewusst waren (E. 3.3).

Der Entscheid ist interessant, weil das Bundesgericht auch schon ausgeführt hat, dass der verwaltungs- und strafrechtliche bes. leichte Fall deckungsgleich sind. Allerdings bedarf es immer einer Einzelfallbeurteilung (vgl. BGE 1C_577/2018 E. 3). Vorliegend gibt es aber entgegen dem Grundsatz „Einheit der Rechtsordnung“ zwei unterschiedliche Beurteilungen, was für die Bergbauern wohl nicht nachvollziehbar ist.

Schwere Widerhandlung trotz Übertretungsbusse

BGE 1C_453/2018: Unfall mit ausgefahrenem Kran, Bindungswirkung, schwere Widerhandlung (Rep)

Der Beschwerdeführer lenkte einen Sattelschlepper mit Anhänger. Auf dem Anhänger transportierte er einen Teleskoplader. Anlässlich der Fahrt kollidierte der ausgefahrene Arm des Laders mit einer Fussgängerüberführung, herabfallende Holzteile beschädigten ein Auto, dessen Fahrerin leicht verletzt wurde. Im Strafverfahren wurde er deswegen nach Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG mit Busse bestraft und nicht etwa gemäss Art. 93 Abs. 1 SVG, wo zumindest bei vorsätzlicher Begehung auch eine Geldstrafe möglich wäre und explizit eine Unfallgefahr vorausgesetzt ist. Das Strassenverkehrsamt AG geht von einer schweren Widerhandlung aus und ordnet einen 12-monatigen Kaskadenentzug an, gegen welchen sich der Beschwerdeführer wehrt.

E. 2 zur Bindungswirkung des Strafurteils: Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er wegen einer Übertretung gebüsst wurde, weshalb er aufgrund der Einheit der Rechtsordnung wegen einer mittelschweren Widerhandlung sanktioniert werden sollte. Im Administraivverfahren ist das Strassenverkehrsamt nicht an das Strafurteil gebunden, widersprüchliche Entscheide gilt es allerdings wegen dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung zu vermeiden (E. 2.1). Da der Beschwerdeführer allerdings nur polizeilich einvernommen wurde, war die Vorinstanz nicht an Tatsachen gebunden, die dem Strafrichter besser bekannt warten. Sie durfte den Sachverhalt rechtlich frei würdigen.

E. 3 zur schweren Widerhandlung: Die schwere Widerhandlung setzt ein schweres Verschulden und eine ernstliche Gefahr voraus. Wegen dem ausgefahrenen Teleskoparm wurde die Höchsthöhe von 4m um 35.5% überschritten. Unbestritten handelt es sich dabei um eine ernstliche Gefahr (E. 3.2). Bestritten ist hingegen ein rücksichtsloses bzw. grobfahrlässiges Verhalten vom Beschwerdeführer. Es könne jedem mal passieren, dass er vergisst, die Ladung zu kontrollieren. Gemäss Art. 57 Abs. 1 VRV sind Ladung und Fahrzeug vor Abfahrt auf den vorschriftsgemässen Zustand zu prüfen. Insb. Inhaber der Fahrberechtigungen der 2. Gruppe handeln grobfahrlässig, wenn sie Ihre Ladung nicht prüfen, zumal aufgrund der ernstlichen Gefahr ohne Gegenindizien grds. auf ein grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen ist. Der Tatbestand ist hier mit jenem der groben Verkehrsregelverletzung deckungsgleich.

Trotz Übertretungsbusse ist also die Annahme einer schweren Widerhandlung korrekt. Der Entscheid zeigt die Freiheit der Strassenverkehrsämter bei der rechtlichen Würdigung gut auf.

BGer verdonnert StVA zur Arbeit

BGE 1C_33/2018: Keine Bindung des StVA an das Strafurteil (gutgh. Beschwerde)

Die Rechtsprechung zur Bindung des StVA an das Strafurteil ist allseits bekann. Anbei ein Entscheid, in welchem sich das StVA ausnahmsweise nicht binden lassen durfte!

Der Beschwerdeführer wurde als Halter in Österreich wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 51km/h im 100er Bereich verurteilt. Das Strassenverkehrsamt SG stellte dafür einen dreimonatigen Führerscheinentzug in Aussicht und verfügte später sogar einen Warnentzug von sechs Monaten, obwohl der Beschwerdeführer Unterlagen einreichte, nach welchen sein Sohn gefahren sein soll. Das Urteil dreht sich um die Bindung des Strassenverkehrsamtes an das Strafurteil.

E. 2.2 zum österreichischen Verfahren: Das Strassenverkehrsrecht Österreichs entspricht weitgehend jenem der Schweiz. Deshalb kann auf einen österreichischen Entscheid ohne weiteres abgestellt werden.

E. 3.2 zur Bindung: Die Verwaltungsbehörde wird durch ein Strafurteil nicht gebunden, muss aber widersprüchliche Urteile vermeiden und darf nur ausnahmsweise von den im Strafverfahren festgestellten Tatsachen abweichen, z.B. wenn klare Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Tatsachenfeststellung bestehen; in diesem Fall hat die Verwaltungsbehörde nötigenfalls selbstständige Beweiserhebungen durchzuführen.

E. 4.2 zum Strafurteil: Die österreichische Strafverfügung stützt sich lediglich auf das Bild eines Geschwindigkeitsmessgeräts, auf welchem der Lenker nicht erkennbar ist.

E. 5 zur Nicht-Bindung des StVA: Der Beschwerdeführer reichte dem StVA ein schriftliches Schuldeingeständnis seines Sohnes ein, der nachweislich auch die Busse bezahlte und bezeichnete zwei Zeugen, welche ihm ein Alibi verschafften. Ebenso bestätigte ein Verband, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Geschwindigkeitsüberschreitung an einem Geschäftsausflug jenes Verbandes teilgenommen hatte. „Somit liegen klare Anhaltspunkte vor, welche die Sachverhaltsfeststellung in der Strafverfügung als möglicherweise unrichtig erscheinen und Zweifel an den von den österreichischen Behörden lediglich anhand des Radarbildes festgestellten Tatumstände aufkommen lassen. Die Vorinstanz wäre daher verpflichtet gewesen, eigene Erhebungen vorzunehmen, um diese Anhaltspunkte näher zu untersuchen. Aufgrund der vom Beschwerdeführer dargestellten Sachlage erscheint es durchaus möglich, dass nicht er, sondern sein Sohn am 30. Juni 2015 den Personenwagen bei der Geschwindigkeitsüberschreitung gelenkt hat.“

Die Beschwerde wird damit gutgeheissen und das Strassenverkehrsamt verpflichtet, den Sachverhalt eigens abzuklären.

Die rechtliche Würdigung im Administrativverfahren

BGE 1C_26/2018: Das StVA hat freie Hand (gutgh. Beschwerde des StVA)

Der Beschwerdegegner fuhr auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeit von ca. 100km/h mit einem Abstand von ca. 10m zum vorfahrenden Fahrzeug. Dafür wurde er zunächst wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, nach Einsprache erfolgte eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung. Die Kantonspolizei BS, zuständig für Administrativmassnahmen, verfügte einen Ausweisentzug von drei Monaten. Das Verwaltungsgericht hingegen ging von einer mittelschweren Widerhandlung aus und änderte den Ausweisentzug auf einen Monat. Die Kantonspolizei führt gegen dieses Urteil erfolgreich Beschwerde.

Im vorliegenden Fall geht es hauptsächlich um die Bindung der Administrativbehörde an das Strafurteil. An den Sachverhalt ist die Administrativbehörde grds. gebunden. „In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts – namentlich auch des Verschuldens – ist die Verwaltungsbehörde hingegen frei, ausser die rechtliche Qualifikation hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat. Auch in diesem Zusammenhang hat sie jedoch den eingangs genannten Grundsatz, widersprüchliche Urteile zu vermeiden, gebührend zu berücksichtigen. Insbesondere hat sich die Verwaltungsbehörde bezüglich der Würdigung des Verschuldens grundsätzlich einer vertretbaren Ermessensausübung des Strafrichters anzuschliessen“ (E. 2.4.).

Zum Abstand auf Autobahnen bei regem Verkehrsaufkommen sagt das BGer, dass „der Nachfolgende die vor ihm liegende Verkehrssituation ohne Schwierigkeiten überblicken [kann], womit er es in der Hand hat, seine Geschwindigkeit den Umständen anzupassen und dadurch einen situationsgerechten Abstand herzustellen oder einzuhalten und eine Behinderung oder Gefährdung der Verkehrsteilnehmer, insbesondere des Vorausfahrenden selber, zu vermeiden“ (E. 5.1.). Grds. gilt dabei die „Zwei-Sekunden-Regel“, grob bzw. schwer wird es ab einem Abstand von weniger als 0.6s (E. 5.2.). Das BGer stellt allerdings fest, dass „es sei bei starkem Verkehrsaufkommen nicht immer einfach [sei], diese Abstände stets zu wahren, weil sie von anderen Verkehrsteilnehmern für Spurwechsel ge- bzw. missbraucht und dadurch verkleinert würden.“ In Abweichung der obigen Faustregeln hat es deshalb Abstandsunterschreitungen auch schon als leicht oder mittelschwer beurteilt (vgl. BGE 1C_183/2013 E. 4; Verwarnung in BGE 1C_413/2014). Allerdings hat es auch schon schwere Widerhandlungen bestätigt, obwohl im Strafverfahren eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung erfolgte (z.B. BGE 1C_250/2017; zum Ganzen E. 5.3.).

Da im vorliegenden Fall die Abstandsunterschreitung nicht nur kurzzeitig war und mit einem Lieferwagen erfolgte, bestätigt das BGer die Annahme einer schweren Widerhandlung (E. 5.4.).

E. 6. zum Grundsatz „ne bis in idem“.

Die Bindung der Behörden

BGE 1C_250/2017: Bindung an Strafurteil durch die Verwaltungsbehörde (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annahme einer schweren Widerhandlung und den Warnentzug von drei Monaten. Er wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er auf einem Autobahnzubringer nur einen Abstand von 0.56 Sekunden eingehalten hatte. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 2.1. zur Widerhandlungsschwere: „Leichte und mittelschwere Widerhandlungen werden von Art. 90 Ziff. 1 SVG als einfache Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II 138 E. 2.4 S. 143). Gemäss Art. 16c SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren Widerhandlung, welche einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG entspricht (BGE 132 II 234 E. 3 S. 237), wird der Führerausweis für mindestens drei Monate entzogen (Abs. 2 lit. a).“

E. 2.3. zur Bindung: „Ein Strafurteil vermag die Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht zu binden. Allerdings gebietet der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden, weshalb die Verwaltungsbehörde beim Entscheid über die Massnahme von den tatsächlichen Feststellungen des Strafrichters nur abweichen darf, wenn sie Tatsachen feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn der Strafrichter bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt, namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat. In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts – namentlich auch des Verschuldens – ist die Verwaltungsbehörde demgegenüber frei, ausser die rechtliche Qualifikation hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II 447 E. 3.1; 127 II 302 nicht publ. E. 3a; 124 II 103 E. 1c/aa und bb). Auch in diesem Zusammenhang hat er jedoch den eingangs genannten Grundsatz (Vermeiden widersprüchlicher Urteile) gebührend zu berücksichtigen (Urteil 1C_424/2012 vom 14. Januar 2013 E 2.3).“

E. 3.2. zur Subsumption: „Es gibt keine Hinweise dafür, dass andere Fahrzeuge knapp vor ihm in seine Spur eingeschwenkt wären und ihm dadurch jedenfalls zeitweilig die Einhaltung des Sicherheitsabstands verunmöglicht hätten.“

Die in E. 2.1. aufgestellte Zuordnung ist nur dann anwendbar, wenn die Strafbehörden keinen Fehler gemacht haben. Andernfalls sind die Strassenverkehrsämter frei, den Sachverhalt anders zu würdigen.

 

BGE 6B_937/2017: Mitteilung eines Urteils an das Strassenverkehrsamt (Repetitorium)

Der Beschwerdeführer wehrt sich mit Beschwerde gegen die Mitteilung eines Strafurteils an das StVA LU. Er will damit logischerweise das Administrativmassnahmenverfahren verhindern.

Das BGer erinnert in E. 2: Der Beschwerdeführer verkennt, dass die Strafbehörden (also die Strafverfolgungs- und Strafgerichtsbehörden) der für den Strassenverkehr zuständigen Behörde des Kantons, in dem der Täter wohnt, Verzeigungen wegen Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften und auf Verlangen im Einzelfall Urteile wegen Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften melden müssen (Art. 123 Abs. 1 lit. a und b der Verkehrszulassungsverordnung [VZV; SR 742.51] i.V.m. Art. 104 SVG).

Rückwärtsfahren auf Autobahneinfahrt, Einstellung Strafverfahren

BGE 1C_165/2017: Rückwärtsfahren auf Autobahneinfahrt (Bestätigung Rechtsprechung)

Um einer Verkehrskontrolle wegen fehlender Autobahnvignette zu entgehen, fuhr der Beschwerdeführer etwa eine Wagenlänge rückwärts auf der Autobahneinfahrt, wofür er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Das BGer weist die Beschwerde gegen die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung ab. Der Entscheid fasst exemplarisch die Rechtsprechung zur  Widerhandlung im Massnahmenrecht zusammen.

E. 2.1 und 2.2 zur Widerhandlungsschwere und den strafrechtlichen Pendandts SVG 90 I und II.

E. 2.3 zur Bindung der Administrativbehörde an das Strafurteil.

E. 3: „Wer unter diesen Gegebenheiten verbotenerweise rückwärts fährt, schafft ohne Zweifel eine erhöhte abstrakte Gefährdung für die Verkehrssicherheit, weil andere Verkehrsteilnehmer – etwa nachfolgende Fahrzeuge, insbesondere aber auch Fussgänger auf dem Fussgängerstreifen – nicht mit einem derart verkehrswidrigen Verhalten rechnen müssen. Das reicht für die Annahme einer mittelschweren Verkehrsregelverletzung aus, gleichgültig darum, ob der Beschwerdeführer durch sein Manöver ein nachfolgendes Fahrzeug konkret gefährdet hat oder nicht. Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer dieses Manöver vorsätzlich ausführte, um dem Stau (und/oder der Verkehrskontrolle) auszuweichen, weshalb auch sein Verschulden nicht bagatellisiert werden kann.“

 

BGE 6B_1055/2016: Voraussetzungen für die Einstellung im Strafverfahren (gutgeheissene Beschwerde)

Im Kanton Luzern zog sich ein Badegast eines Strandbades eine komplette Tetraplegie zu nach einem Kopfsprung von einem Steg in ca. 1,2 m tiefes Wasser. Am Steg war keine Kopfsprung-Verbotstafel angebracht. Nachdem die kantonalen Instanzen die Einstellung des Strafverfahrens gegen den Strandbadbetreiber (fahrlässige schwere KV) bestätigten, heisst das BGer die dagegen erhobene Beschwerde gut.

E. 2.1 zur Einstellung: „Nach Art. 319 Abs. 1 StPO verfügt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens, u.a. wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt (lit. a), oder wenn kein Straftatbestand erfüllt ist (lit. b). In diesem Zusammenhang gilt der aus dem Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 1 StGB) fliessende Grundsatz „in dubio pro duriore“. Danach darf eine Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden. Bei der Beurteilung dieser Frage verfügen die Staatsanwaltschaft und die oberen kantonalen Instanzen über einen gewissen Spielraum, den das Bundesgericht mit Zurückhaltung überprüft. Hingegen ist (sofern die Erledigung mit einem Strafbefehl nicht in Frage kommt) Anklage zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch. Halten sich die Wahrscheinlichkeiten diesbezüglich in etwa die Waage, drängt sich in der Regel, insbesondere bei schweren Delikten, ebenfalls eine Anklageerhebung auf (BGE 138 IV 186 E. 4.1 S. 190 mit Hinweisen; Urteil 1B_248/2012 vom 2. Oktober 2012, in: RtiD 2013 I S. 160).“

E. 2.3 f. zur Fahrlässigkeit: Das Kantonsgericht war der Ansicht, dass die strafbewehrte Pflicht des Betreibers einer öffentlichen Badeanstalt, seine Gäste vor Gefahren zu schützen, nur soweit gehe, als sie für diesen nicht vorhersehbar oder nicht ohne Weiteres erkennbar seien. Der Betreiber dürfe vom Badegast erwarten, dass er sich auf die einem Badebetrieb typischen Gefahren einstelle und sich des verbleibenden Restrisikos und der daraus folgenden Selbstverantwortung bewusst sei. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des Grundsatzes „in dubio pro duriore“ und dass das Merkmal der Vorhersehbarkeit falsch beurteilt wurde.

E. 2.5: In Bezug auf Strandbäder gibt es keine ausdrückl. Vorschriften über die Beschilderung von Stegen. Um allfällige Sorgfaltspflichten des Strandbadbetreibers zu finden, setzen sich die Richter deshalb mit bfu-Empfehlungen auseinander. Die bfu führt in einer Fachdokumentation auch aus, dass die meisten Unfälle in Natürbädern wegen Sprüngen in zu seichtes Wasser passieren. Der Zweck eines Steges ist, dass man nicht vom Ufer aus in den See schwimmen muss, das Springen vom Steg wird als zweckwidrig bezeichnet. Trotzdem räumt der Beschwerdegegner ein, dass der Steg immer wieder für einen Kopfsprung benutzt wurde. Insofern kann das Tatbestandsmerkmal der Vorhersehbarkeit nicht ohne Weiteres verneint werden. Ebenso sind gemäss BGer die Ausführungen der kantonalen Instanz zum erlaubten Risiko nicht gänzlich nachvollziehbar.

Das Strafverfahren wurde also zu Unrecht eingestellt.

Zwar liegt hier noch kein Endentscheid vor, allerdings wurde dieser in gewisser Weise durch das Bundesgericht bereits präjudiziert. Den Schweizer Gartenbädern ist zu empfehlen, dass sie an sämtlichen Stegen, wo die Wassertiefe nicht unbedingt ausreichend ist, Spungverbotstafeln anbringen.

Es scheint, als nähere man sich langsam US-amerkanischen Verhältnissen, wo sich der für jede erdenkbare Gefahrenquelle Verantwortliche durch Verbote, Sicherheitshinweise etc. schützen muss. So tragisch, dass der Unfall ist, die Selbstverantwortung scheint zurückgedrängt. Dass man ohne den Seegrund zu sehen oder vorgängig die Wassertiefe zu überprüfen einen Kopfsprung in ein natürliches Gewässer wagt, widerspricht elementaren Vorsichtspflichten, die einem zumindest im Schwimmunterricht und bei den Pfadi eingetrichtert wurden.