Grundsatz der Formstrenge im Strafverfahren und weitere Urteile

Urteil 7B_211/2022: Einstellen oder nicht, das ist hier die Frage (gutgh. Beschwerde).

Dieses strafprozessual ziemlich komplexe Urteil beantwortet die Frage, was passiert, wenn ein Sachverhalt sowohl Übertretungs- als auch Vergehenstatbestände erfüllt, die Übertretungen aber bereits verjährt sind. Darf man dann für das Vergehen noch bestraft werden, wenn der Sachverhalt der Übertretungen in engem Zusammenhang stehen mit jenem des Vergehens? Konkret geht es um das Verursachen eines Bagatellunfalls (Art. 90 Abs. 1 SVG), dem darauffolgenden pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG) sowie der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG).

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Der Beschwerdeführer touchierte mangels Aufmerksamkeit beim Rückwärtsfahren auf einem Parkplatz ein anderes Fahrzeug, wobei Sachschaden entstand. Danach entfernte er sich von der Unfallstelle und trank zuhause Bier und wohl auch ein bisschen Schnaps. Mit Strafbefehl wurde er mit einer bedingten Geldstrafe bestraft. Im gerichtlichen Verfahren wurde die Verjährung der Übertretungs-Tatbestände, also dem Verursachen der Bagatellkollision (Art. 90 Abs. 1 SVG) sowie dem pflichtwidrigen Verhalten (Art. 92 Abs. 1 SVG), festgestellt. An der Verurteilung wegen der Vereitelung wurde aber festgehalten.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass das Strafverfahren mit der Verjährung der Übertretungs-Tatbestände hätte eingestellt werden müssen. Indem die Vorinstanz dies nicht tat, verletzte sie Art. 329 Abs. 4 und 5 StPO sowie den in Art. 2 Abs. 2 StPO geregelten Grundsatz der Formstrenge. Die Vorinstanz hingegen war der Meinung, dass die Sachverhalte des Unfalles, des pflichtwidrigen Verhaltens und der Vereitelung so eng miteinander verknüpft sind, dass eine Einstellung nicht möglich war. Dies hätte den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzt. Denn wäre bzgl. dem Unfall und dem pflichtwidrigen Verhalten eine (Teil)Einstellung erfolgt, wäre eine Verurteilung wegen der Vereitelung nicht mehr möglich gewesen.

Kann kein Urteil ergehen, muss das Gericht das Verfahren einstellen. Dies ist der Fall, wenn ein Prozesshindernis besteht (Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO). Der Eintritt der Verfolgungsverjährung stellt ein solches Prozesshindernis dar und muss von Amtes wegen geprüft werden. Gemäss Art. 329 Abs. 5 StPO kann die Einstellung zusammen mit dem Urteil ergehen, wenn ein beim Gericht hängiges Verfahren nur in einzelnen Anklagepunkten eingestellt werden soll (E. 2.3.1).

Eine Teileinstellung ist aber nur dann möglich, wenn das Gericht mehrere Lebensvorgänge beurteilt, die für sich einer separaten Erledigung zugänglich sind. Wenn es nur um die Beurteilung wegen einem Lebenssachverhalt geht, ist eine teilweise Einstellung nicht möglich. Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Das würde den Grundsatz von „ne bis in idem“ verletzen (E. 2.3.2 und E. 2.3.3). Im Strafverfahren gilt zudem der Grundsatz der Formstrenge, d.h. Strafverfahren können nur nach den von der StPO vorgesehen Regeln erledigt werden (dazu ausführlich E. 2.3.4).

Das Bundesgericht stellt sich auf den Standpunkt, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanz die verschiedenen Tatvorwürfe zwar Teil eines übergeordneten Gesamtgeschehens bilden. Trotzdem lassen sich die einzelnen Vorwürfe klar gegeneinander abgrenzen. Zuerst der Unfall, dann das pflichtwidrige Verhalten und schliesslich die Vereitelung durch Konsum alkoholischer Getränke zuhause. Damit wäre wohl eine Teil-Einstellung möglich gewesen. Dies hätte das erstinstanzliche Gericht aus Sicht des Bundesgericht machen müssen. Indem dieses es unterliess, das Strafverfahren bzgl. der verjährten Übertretungen einzustellen, verletzte es den Grundsatz der Formstrenge (E. 2.4.4). Zudem wurde vorliegend auch die Unschuldsvermutung verletzt. Denn bei der Begründung der Vereitelung führte die Vorinstanz aus, dass der Beschwerdeführer den Bagatellunfall schuldhaft verursachte, obwohl er dafür nie rechtskräftig verurteilt wurde.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache zurückgewiesen. Bei den Übertretungen muss die Vorinstanz das Strafverfahren einstellen. Bzgl. Vereitelung muss sie prüfen, ob eine Verurteilung unter Beachtung des Anklagegrundsatzes und der Unschuldsvermutung noch möglich ist.

Honorable Mentions

Unter dieser Rubrik werden einfach die Urteile aufgelistet, die keine augenöffenden Inhalte bieten. Sie dient bestenfalls dazu, dass man die eigene Urteilssammlung auf den neuesten Stand bringen kann. Es besteht dabei auch kein Anspruch auf Vollständigkeit…

Urteil 1C_482/2023: Abstand

Wer mit auf der Autobahn dem vorfahrenden Fahrzeug bei 90 km/h mit einem Abstand von 20 Metern folgt (entspricht 0.8 s), begeht eine mittelschwere Widerhandlung. Diese wird mit mind. einem Monat Führerscheinentzug sanktioniert. Der Entscheid enhält in E. 2.2 eine gute Auflistung der Rechtsprechung zu verschienen Fällen von Abstandsunterschreitungen.

Urteil 6B_55/2024: Geschwindigkeit

Wer innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 28 km/h überschreitet, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG. In E. 2.3. äussert sich das Bundesgericht exemplarisch zum allseits bekannten und in der Rechtsprechung fest verankerten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten. Der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfordert eine Rücksichtslosigkeit der beschuldigten Person. Diese liegt auch vor, wenn der Täter die gefahrene Strecke noch als Ausserortsstrecke mit einem Tempolimit von 80 km/h kannte und mangels genügender Aufmerksamkeit übersah, dass sich die Signalisation bzgl. Geschwindigkeit auf der gefahrenen Strecke zwischenzeitlich änderte.

Urteil 7B_221/2022: Das Handy am Steuer

Wer während dem Autofahren für ca. 3 Sekunden auf das Handy schaut und die Navigations-App mit dem Daumen bedient, begeht eine einfache Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) durch Vornahme einer Verrichtung, die die Bedienung des Fahrzeuges erschwert (Art. 3 Abs. 1 VRV). Dieser Entscheid hilft weiter dabei abzugrenzen, wann das Verwenden von Handys beim Autofahren als einfache Verkehrsregelverletzung zu bestrafen ist und wann lediglich eine Ordnungsbusse vorliegt. Eine Ordnungsbusse gibt es z.B. wenn man bei günstigen Verkehrsverhältnissen für zwei Sekunden auf das Handy schaut (vgl. dazu den Beitrag vom 31. Mai 2023 zu Urteil 6B_27/2023).

Parteientschädigung nach Einstellung des Strafverfahrens

Urteil 6B_197/2022: Der Staat muss zahlen (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer erhielt einen Strafbefehl, weil er ein polizeiliches Handzeichen „Halt“ durch „Hochhalten eines Armes“ nicht beachtet habe. Auf Einsprache hin wurde das Verfahren eingestellt. Die Verfahrenskosten wurde auf die Staatskasse genommen, eine Parteientschädigung aber wurde verwehrt. Gegen diesen Entscheid richtet sich die Beschwerde.

Das Urteil befasst sich mit dem Thema, wann die Beiziehung eines Anwaltes bei Übertretungen im SVG-Bereich als angemessen gilt gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO. Es reiht sich in eine beinahe gefestigte Rechtsprechung zu diesem Thema (vgl. dazu die Urteile 6B_193/2017, 6B_322/2017 und 6B_950/2020).

Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Strafverfahren eingestellt, hat sie gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte. Dies gilt auch für den Fall, dass das Strafverfahren nicht anhand genommen wird. Für die Normalbürger sind das materielle Strafrecht sowie das Strafprozessrecht grds. komplexe Materien und das Prozessieren ist kompliziert und belastend. Ob ein Strafverfahren den Beizug eines Anwaltes rechtfertigt, hängt von der Komplexität des Einzelfalles ab, wobei an das Kriterium der „Angemessenheit“ keine hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (zum Ganzen sehr ausführlich E. 2.2).

Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass es sich hier lediglich um eine Übertretung nach Art. 90 Abs. 1 SVG handelte und dass sich auch ein Laie ohne weiteres dagegen hätte verteidigen können. Der Beschwerdeführer zog den Anwalt bei, nachdem das Strassenverkehrsamt das Administrativverfahren mit einem Sistierungsschreiben eröffnete, mit welchem es auf die Verteidigungsrechte im Strafverfahren hinwies. Aus Sicht der Vorinstanz war das zu früh, denn zu diesem Zeitpunkt lag noch kein Strafbefehl vor. Desweiteren stellte sich die Vorinstanz auf den Standpunkt, dass das Strafverfahren neben einer Busse keine weiteren negativen Auswirkungen gehabt hätte. Zwar bestand die Möglichkeit, dass das Strassenverkehrsamt eine Massnahme prüfen würde, doch lag dies nach Ansicht der Vorinstanz noch in weiter Ferne (E. 2.3).

Davon lässt sich das Bundesgericht nicht überzeugen. Das Schreiben des Strassenverkehrsamtes wies den Beschwerdeführer explizit darauf hin, dass es auf den Strafentscheid abstellen werde und dass er sich im Strafverfahren verteidigen müsse, sofern er die Widerhandlung bestreitet. Diesen Passus – er düfte wohl von den meisten Strassenverkehrsämtern verwendet werden – durfte der Beschwerdeführer so verstehen, dass nun die Zeit für einen Verteidiger notwendig war. Solange er nicht wissen konnte, dass das Strafverfahren eingestellt wird, war der Beizug eines Anwaltes also angemessen (E. 2.4.1). Zudem machte die Vorinstanz einen Überlegungsfehler. Sie führte zwar aus, dass ein Führerscheinentzug bei einem rechtskräftigen Schuldspruch zwar möglich war, doch sei dieser Nachteil noch in weiter Ferne gewesen. Sie übersah dabei aber, dass allfällige Massnahmen geprüft werden, sobald das Strafverfahren rechtskräftig erledigt und die Administrativbehörde an das Strafurteil i.d.R. gebunden ist. Insofern drohten die Administrativmassnahmen bereits im Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer das Sistierungsschreiben erhielt. Ebenso kann die Vorinstanz sich nicht darauf berufen, dass es keinen Strafregistereintrag gegeben hätte, denn diese Information erhielt der Beschwerdeführer erst mit dem zugestellten Strafbefehl (E. 2.4.2).

Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen zur Prüfung, ob die Höhe der Anwaltskosten gerechtfertigt ist.

Unfall auf der Schlittelpiste

BGE 6B_1209/2020: Voraussetzungen der Einstellung (gutgh. Beschwerde)

Im Dezember 2017 verunfallten die Beschwerdeführer auf einer Schlittelpiste in Obwalden. Beide wurden bei dem Unfall schwer verletzt. Einer der Beschwerdeführer wurde dauerhaft invalid. Das Strafverfahren gegen Unbekannt und wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung durch Unterlassen stellte die Staatsanwaltschaft ein, was von den kantonalen Instanzen geschützt wurde. Dagegen wehren sich die Beschwerdeführer erfolgreich vor Bundesgericht.

Der Fall dreht sich um die Frage, wie weit die Verkehrssicherungspflicht von Betreiber von Schlittelpisten geht, denn die Beschwerdeführer verunfallten auf der Piste ausserhalb der Betriebszeiten. Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass ausserhalb der Betriebszeiten eine Sicherungspflicht gänzlich entfalle und stützt sich dabei auf die SKUS-Richtlinien. Mangels Unterlassungs- bzw. Fahrlässigkeitshandlung sei deshalb das Strafverfahren zu Recht eingestellt worden (E. 2.2). Die Beschwerdeführer hingegen bringen vor, dass bei einer gerichtlichen Beurteilung keinesfalls klar ein Freispruch erfolgen würde, denn Schlittelpisten können auch ausserhalb der Betriebszeiten befahren werden. Zudem muss beim Bestehen einer Sicherungspflicht stets von atypischen Gefahren ausgegangen werden. Und zuletzt befand sich auf der Piste eine falsche Signalisation, ein Pfeil in die falsche Richtung, just dort, wo die Beschwerdeführer verunfallten (E. 2.1).

Gemäss Art. 319 Abs. 1 lit a und b StPO wird ein Strafverfahren eingestellt, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt, oder wenn kein Straftatbestand erfüllt ist. Dabei hat sich die Strafbehörde nach dem Grundsatz „in dubio pro duriore“ zu richten. Erscheint ein Schuldspruch wahrscheinlicher, als ein Freispruch, so hat die Strafbehörde Anklage zu erheben bzw. einen Strafbefehl zu erlassen. Sind die Chancen auf einen Freispruch etwa gleich wie auf einen Schuldspruch, muss insb. bei schweren Delikten eine Anklage erfolgen. Das BGer greift in das strafbehördliche Ermessen nur zurückhaltend ein (vgl. zum Ganzen E. 2.4.1).

Die fahrlässige Körperverletzung ist je nach Schweregrad der Schädigungen des Opfers ein Antrags- oder Offizialdelikt. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist. Dass Mass der Sorgfalt kann sich u.a. auch aus privaten Richtlinien ergeben. Der eingetretene Erfolg – also hier der Schlittelunfall – muss für die Verantwortlichen vorhersehbar und insofern vermeidbar gewesen sein. Die Vorhersehbarkeit misst sich nach der Adäquanz. Diese ist zu verneinen, wenn der eingetretene Erfolg dermassen pythonesk ist, dass man damit einfach nicht rechnen musste. Dann lässt er sich auch nicht vermeiden (zum Ganzen ausführlich E. 2.4.2).

Bergbahn- und Skiliftunternehmen trifft eine Verkehrssicherungspflicht, sie müssen also ihre Pisten so sicher wie möglich machen. Die Grenze liegt bei der Zumutbarkeit von Massnahmen sowie der Selbstverantwortung der Schneesportler. In solchen Fällen zieht das BGer regelmässig die oben erwähnten SKUS-Richtlinien herbei für die Beantwortung der Frage, ob die Sicherungspflichten eingehalten wurden. Gemäss den SKUS-Richtlinien ist es verboten Schlittelwege zu benutzen, wenn sie offensichtlich geschlossen sind. Allerdings gilt nach den SBS-Richtlinien (Seilbahnen Schweiz, Die Verkehrssicherungspflicht auf Schneesportanlagen) die Pflicht, Schlittelwege von atypischen Gefahren zu sichern. Atypisch sind Gefahren, welche die Benutzer bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht zu erkennen vermögen oder die auch bei vorsichtigem und den persönlichen Fähigkeiten angepasstem Fahren zu Unfällen führen können. Gibt es Sonderanlässe, wie z.B. eine Nachfahrt, muss die Piste gesichert werden (E. 2.4.3-4).

Am Tag des Unfalles vermieteten die Sportbahnen trotz geschlossener Schlittelpiste Schlitten und transportierten diese mitsamt Kunden zur Bergstation. In einer Hütte an der Schlittelpiste fand ein öffentlicher Sylvesteranlass statt. Die Hütte war nur mit Schlitten oder Schneesportgerät erreichbar. Zudem war im Internet ein Flyer abrufbar, welcher entgegen der Schliessung der Schlittelpiste dafür war, dass diese auch spät abends noch befahrbar war. Trotz diesen Einzelfallumständen, also dass höchstwahrscheinlich noch Personen die Piste benutzen werden, verneinte die Vorinstanz eine Verkehrssicherungspflicht der Bergbahnen. Indem sich die kantonalen Instanzen aber zuwenig mit den Einzelfallumständen auseinandersetzten und generell davon ausgingen, dass bei geschlossener Piste keine Sicherungspflichten bestanden, verletzte sie Bundesrecht. Es liegt insofern kein klarer Fall von Straflosigkeit vor. Das Strafverfahren hätte nicht eingestellt werden dürfen, zumal die Geschädigten schwer verletzt wurden.

Einstellung Strafverfahren

BGE 6B_782/2019: Fahrlässige Tötung im Strassenverkehr

Im Mai 2015 ereignete sich in Basel ein tödlicher Verkehrsunfall, wobei ein Velofahrer von einem Personenwagen überfahren wurde. Das Strafverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft mangels Pflichtwidrigkeit eingestellt, wogegen Witwe und Tochter des Velofahrers Beschwerde erheben.

Die kantonalen Instanzen stellten sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdegegner nicht mit dem Fahrradfahrer rechnen musste und stellten das Strafverfahren aufgrund des Vertrauensprinzips ein. Die Beschwerdeführerinnen bringen hingegen vor, dass der Beschwerdegegner seinerseits nicht mit angepasster Geschwindigkeit unterwegs war. Die Staatsanwaltschaft habe nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ geurteilt und somit dem Strafgericht vorgegriffen (E2.1). Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Fahrradfahrer (rechts)vortrittsbelastet war und der Beschwerdegegner nicht habe damit rechnen müssen, dass der Verstorbene ihm den Weg abschneidet (E. 2.).

Ein Strafverfahren wird nach den Modalitäten von Art. 319 StPO eingestellt, wobei sich die Staatsanwaltschaft nach dem Grundsatz „in dubio pro duriore“ richten muss. Eine Einstellung darf nur bei klarer Straflosigkeit oder fehlenden Prozessvoraussetzungen erfolgen. Anklage ist zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher ist, als ein Freispruch. Ist ein Freispurch etwa gleich wahrscheinlich wie eine Verurteilung, drängt sich insb. bei schweren Delikten eine Anklageerhebung auf. Eine zweifelhafte Sach- oder Rechtslage spricht ebenfalls für eine Anklage. Sind die Tatsachen aber klar, muss eine Einstellung auch „in dubio pro duriore“ möglich sein (zum Ganzen E. 2.3.1).

Im Folgenden äussert sich das BGer exemplarisch zur Fahrlässigkeit und deren Voraussetzungen (E. 2.3.2). Fahrlässig handelt, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt. Diese ergeben sich im Strassenverkehr aus dem SVG. Der Vortrittsbelastete darf die Fahrt des -berechtigten nicht behindern. Er muss vor Kreuzungen seine Geschwindigkeit mässigen. Schlimmstenfalls muss er sich in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche „hineintasten“. Der Vortrittsberechtigte muss sich aber vergewissern, dass kein Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer vorliegt, diese ihm den Vortritt nicht gewähren können oder wollen. Verkehrsteilnehmer müssen sodann ihre Aufmerksamkeit dorthin richten, woher die grösste Gefahr droht, wobei ihnen logischerweise für andere Stellen eine geringere Aufmerksamkeit zugebilligt werdne kann (zum Ganzen ausführlich E. 2.3.3).

Die Vorinstanz war der Meinung, dass das Fehlverhalten des Velofahrers den adäquaten Kausalvelauf unterbrach zu Gunsten des Autofahrers. Dem widerspricht das Bundesgericht. Der adäquate Kausalverlauf wird nur unterbrochen, wenn die unterbrechende Zusatzursache dermassen absurd war, dass damit schlichtweg nicht gerechnet werden musste. Da aber insb. in Wohnquartieren der Vortrittsberechtige auch auf ein Fehlverhalten der -belasteten Rücksicht nehmen muss, wurde der adäquate Kausalverlauf nicht unterbrochen (E. 2.4.2).

Es ist sodann unklar, ob der Beschwerdegegner den geforderten Kontrollblick nach links gemacht hat, auch wenn ihm für diese Stelle geringere Aufmerksamkeit zugebilligt werden kann. Er muss ja auch auf den Vortritt von rechts achten. Zudem setzte sich die Vorinstanz nicht genügend mit Gutachten auseinander. Der Sachverhalt ist unklar. Es Bedarf einer klassischen Beweiswürdigung, die so nicht stattgefunden hat (E. 2.4.3). Das Bundesgericht folgt auch den Ausführungen zur Vermeidbarkeit des Unfalles nicht der Vorinstanz. Kurz gesagt ist die Vorinstanz von der für den Beschwerde günstigsten Variante ausgegangen, was aber dem Prinzip „in dubio pro reo“ entspricht und vom Sachgericht zu beurteilen ist.

Die Voraussetzungen für eine Einstellung sind nicht erfüllt, da die Beweis- und Rechtslage zur Sorgfaltspflichtsverletzung und Vermeidbarkeit nicht eindeutig erscheinen.

Kostenauflage bei Einstellung oder: Der Rosenkrieg

Strassenverkehrsrecht heisst immer auch Straf(prozess)recht, weshalb wir hier auch erlesene StPO-Entscheide bringen. In BGE 6B_732/2019 heisst das BGer eine Beschwerde gut, weil die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer zu Unrecht die Verfahrenskosten auferlegt hat, obwohl das Strafverfahren eingestellt wurde.

Dem Beschwerdeführer wurde eine Nötigung vorgeworfen, weil er vor das neue Zuhause seiner getrennt lebenden Frau Gerümpel und Esswaren deponiert hat, welches diese zumindest teilweise beim Auszug zurückgelassen hat. Das Strafverfahren wurde eingestellt, die Verfahrenskosten ihm aber auferlegt.

Wird die beschuldigte Person verurteil, trägt sie die Verfahrenskosten (Art. 426 Abs. 1 StPO), andernfalls trägt der Staat die Verfahrenskosten (Art. 423 StPO). Die Kosten und auch die Entschädigung können aber trotz Einstellung/Freispruch der beschuldigten Person auferlegt werden, wenn sie die Durchführung des Verfahrens schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder die Durchführung des Verfahrens erschwert hat (Art. 426 Abs. 2 bzw. 430 Abs. 1 StPO).

Nach der Rechtsprechung verstösst eine Kostenauflage bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens gegen die Unschuldsvermutung (Art. 10 Abs. 1 StPO, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK), wenn der beschuldigten Person in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt vorgeworfen wird, es treffe sie ein strafrechtliches Verschulden. Damit käme die Kostenauflage einer Verdachtsstrafe gleich. Dagegen ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar, einer nicht verurteilten beschuldigten Person die Kosten zu überbinden, wenn sie in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d.h. im Sinne einer analogen Anwendung der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm, die sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung ergeben kann, klar verletzt und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. In tatsächlicher Hinsicht darf sich die Kostenauflage nur auf unbestrittene oder bereits klar nachgewiesene Umstände stützen. Das Verhalten einer angeschuldigten Person ist widerrechtlich, wenn es klar gegen Normen der Rechtsordnung verstösst, die sie direkt oder indirekt zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verpflichten (vgl. Art. 41 Abs. 1 OR). Vorausgesetzt sind regelmässig qualifiziert rechtswidrige, rechtsgenüglich nachgewiesene Verstösse. Die Verfahrenskosten müssen mit dem zivilrechtlich vorwerfbaren Verhalten in einem adäquat-kausalen Zusammenhang stehen (E. 1.1.2).

Die Vorinstanz war der Meinung, dass das Verhalten des Beschwerdeführers widerrechtlich war, weil grds. jeder seinen eigenen Müll entsorgen muss und die Sachen seiner Ehefrau hätten gestohlen werden können (E. 1.2).

Das BGer widerspricht dieser Ansicht, denn da die Sachen bzw. der Müll auch der Ehefrau gehörten, wäre sie ebenfalls zur Entsorgung verpflichtet, weshalb ihr daraus kein Schaden entsteht. Insofern kann auch nicht von einem qualifizierten Verstoss gesprochen werden. Da die Ehefrau beim Auszug ihre Sachen grds. zurückliess und sich monatelang nicht um ihre Dinge kümmerte, blieb dem Beschwerdeführer kaum eine andere Lösung übrig. Hätte er die Dinge einfach weggeworfen, hätte er sich vorwerfen lassen müssen, gemeinschaftliches Eigentum vernichtet zu haben. Zudem soll die Kostenauflage bei Einstellung/Freispruch eine Ausnahme bleiben (E. 1.3.2).

Das BGer heisst die Beschwerde gut.

Verantwortlichkeit des Skilehrers

BGE 6B_1036/2019: Verantwortlichkeit von Skischullehrer, Einstellung wegen fahrlässiger Tötung einer Schülerin

Auf Skipisten herrscht bekanntlich ja auch „Verkehr“, weshalb wir diesen durchaus interessanten Entscheid nicht auslassen.

Auf der letzten Abfahrt einer Skischulgruppe stürzte eine 13-jährige in einen Bach und verletzte sich dabei so heftig, dass sie noch gleichentags starb. Die Staatsanwaltschaft eröffnete gegen den Skilehrer eine Untersuchung, stellte diese aber ein. Dagegen erheben die Eltern der Verstorbenen Beschwerde.

Strafverfahren werden gemäss Art. 319 Abs. 1 StPO eingestellt. Dabei hat sich die STA an den Grundsatz „in dubio pro duriore“ zu richten. Sofern eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint, als ein Freispruch, muss die STA Anklage erheben. Dasselbe gilt, wenn Verurteilung und Freispruch etwa gleich wahrscheinlich sind, insb. bei schweren Delikten. Das BGer überprüft dabei, ob die Vorinstanz von einer „klaren Beweislage“ ausgehen durfte (E. 2.1). Die Fahrlässige Tötung kann auch durch Unterlassen begangen werden. Vorausgesetzt sind eine Sorgfaltspflichtsverletzung sowie eine Garantenstellung (E. 2.2).

Der Skilehrer wies seine Schüler an, stets hinter ihm zu fahren und die Piste nur dann zu verlassen, wenn er das auch tut. Der Skilehrer habe stets geschaut, ob alle da sind. Bei Gruppen fortgeschrittener Schüler sei ein auseinanderdriften um einige 100 Meter normal. Dass die Verstorbene neben die Piste fahren würde, sei für den Skilehrer nicht vermeidbar gewesen. Gemäss einem medizinischen Gutachten des IRM wäre die Skischülerin höchstwahrscheinlich auch gestorben, wenn sie sofort gerettet worden wäre. Sie erlitt eine Zerreissung der Leber. Eine Sorgfaltspflichtverletzung konnte nicht festgestellt werden.

Das Strafverfahren gegen den Skilehrer wird deshalb eingestellt. Das Urteil ist interessant, weil das BGer einen realitätsnahen Entscheid fällt. Wäre dem Skilehrer ein strafrechtliches Verschulden vorgeworfen worden, hätte sich wohl in Zukunft niemand mehr getraut, mit einer Gruppe rebellischen Teenagern auf die Piste zu wagen.

Einstellung des Strafverfahrens

BGE 6B_1118/2018: Aussergewöhnlicher Todesfall, Voraussetzungen Einstellung

Strafverfahren gehören zum Strassenverkehr wie das Bier zum Angelurlaub. Der Entscheid befasst sich exemplarisch mit den Voraussetzungen der Einstellung und dem „In dubio pro durore“ Prinzip. Vorliegend geht es um den (tragischen) Tod eines Kleinkindes in einem Spital.

E. 3 zur Einstellung nach StPO 319: Die Staatsanwaltschaft verfügt eine Einstellung, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt (lit. a); kein Straftatbestand erfüllt ist (lit. b); Rechtfertigungsgründe einen Straftatbestand unanwendbar machen (lit. c). Der Entscheid über die über die Einstellung des Verfahrens hat die Staatsanwaltschaft als anklagende Behörde nach dem Prinzip „in dubio pro durore“ zu richten. Danach darf eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit oder offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden. Erscheint eine Verurteilung vor Gericht als wahrscheinlicher als ein Freispruch, muss Anklage erhoben werden. Halten sich Freispruch und Verurteilung die Waage, drängt sich in der Regel, insb. bei schweren Delikten, eine Anklage auf, v.a. bei zweifelhafter Beweis- oder Rechtslage. Allerdings haben die Staatsanwaltschaften die Kompetenz bei klarem Sachverhalt in antizipierter Beweiswürdigung das Strafverfahren einzustellen (E. 3.1.1).

Ob die Staatsanwaltschaft zu Recht von einer klaren Beweislage ausging, prüft das Bundesgericht nur auf Willkür hin. Ob hingegen der Grundsatz „in dubio pro durore“ richtig angewendet wurde, ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei prüft (E. 3.1.2).

Im vorliegenden Fall geht es um die fahrlässige Tötung eines Menschen, die eine Sorgfaltspflichtsverletzung des behandelnden Arztes voraussetzt. Ein Arzt verletzt seine Pflichten nur dort, wo er eine Diagnose stellt bzw. eine Therapie oder ein sonstiges Vorgehen wählt, das nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und daher den objektivierten Anforderungen der ärztlichen Kunst nicht genügt (E. 3.1.3).

Gutachterlich wurde vorliegend keine Sorgfaltspflichtsverletzung festgestellt bzw. keine Mängel in der ärztlichen Behandlung. Der Tod war die Folge einer extrem seltenen aorto-ösophagealen Fistel, einer Verbindung zwischen Körperhauptschlagader und Speiseröhre. Der Sachverhalt war insofern klar festgestellt. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Kostenauflage bei Einstellung, Cannabis und Persönlichkeitsverletzung

BGE 6B_1273/2016: Kostenauflage trotz Einstellung wegen Cannabisbesitz (Bestätigung Rechtsprechung, Kategorie Nice-to-Know)

Der Beschwerdegegner wurde von der Polizei mit 0.5g Marihuana und 0.1 Gramm Haschisch erwischt. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, auferlegt die Kosten aber dem Beschwerdegegner gemäss Art. 426 Abs. 2 StPO. Dieser erreicht im Rechtsmittelverfahren, dass er die Verfahrensgebühren nicht bezahlen muss. Das BGer weist die Beschwerde der Staatsanwaltschaft dagegen ab und spricht den Beschwerdegegner von sämtlichen Verfahrenskosten frei.

E. 1.4. zur Kostenauflage gemäss StPO bei Einstellung.

E. 1.5.1. zur Straflosigkeit: „Wer nur eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den eigenen Konsum vorbereitet oder zur Ermöglichung des gleichzeitigen und gemeinsamen Konsums einer Person von mehr als 18 Jahren unentgeltlich abgibt, ist nicht strafbar (Art. 19b Abs. 1 BetmG). 10 Gramm eines Betäubungsmittels des Wirkungstyps Cannabis gelten als geringfügige Menge (Art. 19b Abs. 2 BetmG).“

E. 1.6.2. zur teilweisen Auflage von Kosten: „Die Vorinstanz erwägt daher zu Recht, der Beschwerdegegner sei nicht strafbar, soweit er eine geringfügige Menge Marihuana und Haschisch für den eigenen Konsum vorbereitete. Dagegen verletzt sie Bundesrecht und Konventionsrecht, indem sie ihm vorwirft, der Besitz von Marihuana und Haschisch sei im Grundsatz verboten. Wie oben dargelegt, fällt der blosse Besitz von geringfügigen Drogenmengen zu Konsumzwecken unter Art. 19b BetmG und ist straflos. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann somit nicht gesagt werden, der Beschwerdegegner habe sich rechtswidrig und schuldhaft im Sinne von Art. 426 Abs. 2 StPO verhalten, indem er geringfügige Drogenmengen zu Konsumzwecken besass.“

Wir können also unsere Duftsäcke beruhigt mit uns herumschleppen.

 

BGE 6B_1172/2016: Kostenauflage trotz Einstellung wegen zivilrechtlicher Persönlichkeitsverletzung (Bestätigung Rechtsprechung, aus der Kategorie Nice-to-Know)

Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen die Kostenauflage im Strafverfahren gemäss Art. 426 Abs. 2 StPO. In diesem wurden Ihr Ehrverletzungsdelikte vorgeworfen, das Strafverfahren wurde aber wegen Verjährung eingestellt. Wegen der Persönlichkeitsverletzung gegenüber der Strafantragsteller auferlegte die obere kantonale Instanz die Kosten des Strafverfahrens der Beschwerdeführerin.

E. 1.3 zur StPO: Sofern die beschuldigte Person das Strafverfahren schuldhaft bewirkt, können ihr trotz Einstellung oder Freispruch die Kosten auferlegt werden, wobei die Kostenauflage nicht gegen die Unschuldsvermutung verstossen darf. „Damit käme die Kostenauflage einer Verdachtsstrafe gleich. Dagegen ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar, einer nicht verurteilten beschuldigten Person die Kosten zu überbinden, wenn sie in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d.h. im Sinne einer analogen Anwendung der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm, die sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung ergeben kann, klar verletzt und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat.“ „Zwischen dem zivilrechtlich vorwerfbaren Verhalten sowie den durch die Untersuchung entstandenen Kosten muss ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen.“

E. 1.6ff. zur Widerrechtlichkeit: Nach Ansicht der Beschwerdeführerin seien die Tatbestände von Art. 28 ZGB und Art. 173 StGB identisch seien, weshalb die Kostenauflage gegen die Unschuldsvermutung verstösst. Das BGer verneint dies: „Der strafrechtliche Ehrbegriff ist enger als der zivilrechtliche. Indem der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz unter anderem auch das gesellschaftliche und berufliche Ansehen einer Person, also ihre „soziale Geltung“ umfasst, schützt er die Ehre weitergehend als das Strafrecht, das nur die Geltung eines Menschen als sittliche Person gewährleistet, d.h. seinen Ruf, ein achtenswerter, ehrbarer Mensch zu sein.“ „Gemäss der dargestellten bundesgerichtlichen Rechtsprechung verletzt die Vorinstanz die Unschuldsvermutung nicht, indem sie einen Sachverhalt feststellt, der sich unter Umständen auch unter den Tatbestand von Art. 173 Ziff. 1 StGB subsumieren liesse.“

Rückwärtsfahren auf Autobahneinfahrt, Einstellung Strafverfahren

BGE 1C_165/2017: Rückwärtsfahren auf Autobahneinfahrt (Bestätigung Rechtsprechung)

Um einer Verkehrskontrolle wegen fehlender Autobahnvignette zu entgehen, fuhr der Beschwerdeführer etwa eine Wagenlänge rückwärts auf der Autobahneinfahrt, wofür er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Das BGer weist die Beschwerde gegen die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung ab. Der Entscheid fasst exemplarisch die Rechtsprechung zur  Widerhandlung im Massnahmenrecht zusammen.

E. 2.1 und 2.2 zur Widerhandlungsschwere und den strafrechtlichen Pendandts SVG 90 I und II.

E. 2.3 zur Bindung der Administrativbehörde an das Strafurteil.

E. 3: „Wer unter diesen Gegebenheiten verbotenerweise rückwärts fährt, schafft ohne Zweifel eine erhöhte abstrakte Gefährdung für die Verkehrssicherheit, weil andere Verkehrsteilnehmer – etwa nachfolgende Fahrzeuge, insbesondere aber auch Fussgänger auf dem Fussgängerstreifen – nicht mit einem derart verkehrswidrigen Verhalten rechnen müssen. Das reicht für die Annahme einer mittelschweren Verkehrsregelverletzung aus, gleichgültig darum, ob der Beschwerdeführer durch sein Manöver ein nachfolgendes Fahrzeug konkret gefährdet hat oder nicht. Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer dieses Manöver vorsätzlich ausführte, um dem Stau (und/oder der Verkehrskontrolle) auszuweichen, weshalb auch sein Verschulden nicht bagatellisiert werden kann.“

 

BGE 6B_1055/2016: Voraussetzungen für die Einstellung im Strafverfahren (gutgeheissene Beschwerde)

Im Kanton Luzern zog sich ein Badegast eines Strandbades eine komplette Tetraplegie zu nach einem Kopfsprung von einem Steg in ca. 1,2 m tiefes Wasser. Am Steg war keine Kopfsprung-Verbotstafel angebracht. Nachdem die kantonalen Instanzen die Einstellung des Strafverfahrens gegen den Strandbadbetreiber (fahrlässige schwere KV) bestätigten, heisst das BGer die dagegen erhobene Beschwerde gut.

E. 2.1 zur Einstellung: „Nach Art. 319 Abs. 1 StPO verfügt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens, u.a. wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt (lit. a), oder wenn kein Straftatbestand erfüllt ist (lit. b). In diesem Zusammenhang gilt der aus dem Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 1 StGB) fliessende Grundsatz „in dubio pro duriore“. Danach darf eine Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden. Bei der Beurteilung dieser Frage verfügen die Staatsanwaltschaft und die oberen kantonalen Instanzen über einen gewissen Spielraum, den das Bundesgericht mit Zurückhaltung überprüft. Hingegen ist (sofern die Erledigung mit einem Strafbefehl nicht in Frage kommt) Anklage zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch. Halten sich die Wahrscheinlichkeiten diesbezüglich in etwa die Waage, drängt sich in der Regel, insbesondere bei schweren Delikten, ebenfalls eine Anklageerhebung auf (BGE 138 IV 186 E. 4.1 S. 190 mit Hinweisen; Urteil 1B_248/2012 vom 2. Oktober 2012, in: RtiD 2013 I S. 160).“

E. 2.3 f. zur Fahrlässigkeit: Das Kantonsgericht war der Ansicht, dass die strafbewehrte Pflicht des Betreibers einer öffentlichen Badeanstalt, seine Gäste vor Gefahren zu schützen, nur soweit gehe, als sie für diesen nicht vorhersehbar oder nicht ohne Weiteres erkennbar seien. Der Betreiber dürfe vom Badegast erwarten, dass er sich auf die einem Badebetrieb typischen Gefahren einstelle und sich des verbleibenden Restrisikos und der daraus folgenden Selbstverantwortung bewusst sei. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des Grundsatzes „in dubio pro duriore“ und dass das Merkmal der Vorhersehbarkeit falsch beurteilt wurde.

E. 2.5: In Bezug auf Strandbäder gibt es keine ausdrückl. Vorschriften über die Beschilderung von Stegen. Um allfällige Sorgfaltspflichten des Strandbadbetreibers zu finden, setzen sich die Richter deshalb mit bfu-Empfehlungen auseinander. Die bfu führt in einer Fachdokumentation auch aus, dass die meisten Unfälle in Natürbädern wegen Sprüngen in zu seichtes Wasser passieren. Der Zweck eines Steges ist, dass man nicht vom Ufer aus in den See schwimmen muss, das Springen vom Steg wird als zweckwidrig bezeichnet. Trotzdem räumt der Beschwerdegegner ein, dass der Steg immer wieder für einen Kopfsprung benutzt wurde. Insofern kann das Tatbestandsmerkmal der Vorhersehbarkeit nicht ohne Weiteres verneint werden. Ebenso sind gemäss BGer die Ausführungen der kantonalen Instanz zum erlaubten Risiko nicht gänzlich nachvollziehbar.

Das Strafverfahren wurde also zu Unrecht eingestellt.

Zwar liegt hier noch kein Endentscheid vor, allerdings wurde dieser in gewisser Weise durch das Bundesgericht bereits präjudiziert. Den Schweizer Gartenbädern ist zu empfehlen, dass sie an sämtlichen Stegen, wo die Wassertiefe nicht unbedingt ausreichend ist, Spungverbotstafeln anbringen.

Es scheint, als nähere man sich langsam US-amerkanischen Verhältnissen, wo sich der für jede erdenkbare Gefahrenquelle Verantwortliche durch Verbote, Sicherheitshinweise etc. schützen muss. So tragisch, dass der Unfall ist, die Selbstverantwortung scheint zurückgedrängt. Dass man ohne den Seegrund zu sehen oder vorgängig die Wassertiefe zu überprüfen einen Kopfsprung in ein natürliches Gewässer wagt, widerspricht elementaren Vorsichtspflichten, die einem zumindest im Schwimmunterricht und bei den Pfadi eingetrichtert wurden.