Endspurt zum Jahresende mit spannenden Bundesgerichtsurteilen

Zum Jahresende hat das Bundesgericht noch einmal Vollgas gegeben und einige interessante Urteile zum Strassenverkehrsrecht veröffentlicht. Einige davon dürften die SVG-Cracks hier weniger überraschen. Als Lektüre ist aber insb. Urteil 1C_550/2022 zu empfehlen, da es sich zu einer interessanten Konstellation im Zusammenhang mit der charakterlichen Fahreignung beim Kaskadensicherungsentzug äussert. Viel Spass beim Lesen und gutes (metaphorisches) Rutschen.

Urteil 1C_550/2022: Der Entzug der Spezialkategorien und die Folgen in der Kaskade

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob ein Entzug der Spezialkategorien F, G und M gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV ebenfalls mitzuzählen ist, wenn aufgrund der Kaskade ein Kaskadensicherungs-Entzug ansteht.

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Der Beschwerdegegner blickt auf eine reichhaltige SVG-Geschichte zurück:

25. November 2009 – Geschwindigkeitsüberschreitung – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1 Monat
24. Juni 2013 – Geschwindigkeitsüberschreitung – leichte Widerhandlung – Verwarnung
26. Mai 2014 – Auffahrkollision – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1.5 Monate
11. Oktober 2014 – nicht gesicherte Ladung auf Anhänger von Traktor – mittelschwere Widerhandlung – Zusatzmassnahme zur vorgenannten Massnahme, Entzug der Spezialkategorien F, G und M, Kat. B weiterhin fahrberechtigt.
19. Oktober 2019 – Lenken eines nicht betriebssicheren Traktors – mittelschwere Widerhandlung – Kaskadensicherungsentzug gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG.

Die kantonalen Instanzen hoben den Kaskadensicherungsentzug auf. Dagegen führt das Strassenverkehrsamt Beschwerde beim Bundesgericht. Es stellt sich auf den Standpunkt, dass dem Beschwerdegegner gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG der Führerausweis nun zum vierten Mal wegen einer mittelschweren Widerhandlung entzogen werde, weshalb ein Kaskadensicherungsentzug angeordnet werden muss. Bei diesem besteht sodann die gesetzliche Vermutung der fehlenden charakterlichen Fahreignung gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG. Das Strassenverkehrsamt stützte sich bei seiner Begründung für den Sicherungsentzug auch auf das Urteil 1C_248/2020, gemäss welchem auch Zusatzmassnahmen bei der Anordnung eines Kaskadensicherungsentzugs berücksichtigt werden müssen (E. 4.3).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich zum im Urteil 1C_248/2020 behandelten Sachverhalt aber darin, dass vorliegend bei der mittelschweren Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 nur die Spezialkategorien entzogen wurden.

Ein (Kaskaden)Sicherungsentzug aus charakterlichen Gründen greift schwer in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person ein. Deshalb darf ein Sicherungsentzug nur dann angeordnet werden, wenn aufgrund des Verhaltens der betroffenen Person klar ist, dass diese auch künftig gegen die Verkehrsregeln verstossen wird. In anderen Worten muss eine Rückfallgefahr bestehen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG so auszulegen, dass die Vorbelastungen nur zu einem Kaskadensicherungsentzug führen können, wenn sie mit einer Hauptkategorie, also z.B. Kat. A oder B, begangen wurden. Denn nur dann kommt der Warnmassnahme „generelle Wirkung“ zu, indem der erzieherische Warnentzug gemäss Art. 33 Abs. 1 VZV über sämtliche Kategorien erfolgt. Im vorliegenden Fall betraf der Warnentzug bzgl. der Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 aber nur die Spezialkategorien F, G und M. Weil dabei die Kat. B nicht entzogen wurde, hatte die Massnahme keine „generelle Wirkung“ bzw. nur eine sehr eingeschränkte erzieherische Wirkung, weshalb sie bei der Prüfung eines Kaskadensicherungsentzugs gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG nicht berücksichtigt werden darf.

Die Beschwerde des Strassenverkehrsamtes wird deshalb abgewiesen.

Vorsicht Meinung: Dieser Entscheid ist nur schwierig nachvollziehbar. Denn einerseits stellt sich die Frage, wie diese Rechtsprechung handzuhaben ist, wenn jemand nur im Besitz von Spezialkategorien ist, denn dort hätte ein Warnentzug wiederum „generelle Wirkung“. D.h. theoretisch wäre es möglich, dass eine Person, die nur Spezialkategorien hat, anders behandelt würde, als jene, die noch über Hauptkategorien verfügt. Zudem können Widerhandlungen mit einem landwirtschaftlichen Fahrzeug der Kat. G weitaus gefährlicher sein, als solche mit einem Fahrzeug der Kat. B. Im vorliegenden Fall hat die betroffene Person ohne weiteres bewiesen, dass sie nicht gewillt ist, die Verkehrsregeln einzuhalten. Eine sichernde Massnahme wäre angebracht gewesen.


Urteil 6B_500/2023: Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit

Dieses Urteil befasst sich mit der Abgrenzung zwischen (eventual)vorsätzlicher und (bewusst) fahrlässiger Tötung nach einem Strassenverkehrsdelikt.

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Der Beschwerdegegner fuhr im September 2021 ausserorts hinter einem anderen Auto her. Als dieses wegen zwei Fussgängern auf der rechten Strassenseite und einem entgegenkommenden Lieferwagen seine Fahrt verlangsamte, setzte der Beschwerdegegner zum Überholen an. Beim Überholmanöver gab es zunächst eine Streifkollision zwischen dem Beschwerdegegner und dem Lieferwagen. Als der Beschwerdegegner wieder auf die rechte Fahrbahn einbog, kollidierte er frontal mit den beiden Fussgängern. Eine Person starb an den Verletzungen. Im kantonalen Verfahren wurde der Beschwerdegegner u.a. wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung und Fahren in fahrunfähigem Zustand verurteilt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Der Beschwerdegegner sei wegen (versuchter) eventualvorsätzlicher Tötung schuldig zu sprechen.

Bei krassen Verkehrsunfällen kann die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit schwierig sein. Eventualvorsätzlich handelt, wer mit dem Eintritt eines Taterfolges – also hier dem Tod eines Menschen – rechnet, aber dennoch handelt, weil man den Taterfolg in Kauf nimmt bzw. sich damit abfindet. Die bewusst fahrlässig handelnde Person rechnet zwar auch mit dem Eintritt des Taterfolgs, vertraut aber in pflichtwidriger Weise darauf, dass der Erfolg nicht eintritt. Ohne Geständnis der beschuldigten Person, muss der Richter anhand der Einzelfallumstände entscheiden, ob der Täter oder die Täterin den Taterfolg billigte. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (E. 2.3.2). Bei Strassenverkehrsdelikten darf eine eventualvorsätzliche Tatbegehung aber nicht leichthin angenommen werden. Nur in krassen Fällen darf davon ausgegangen werden, dass sich der Täter oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (zum Ganzen E. 2.3.5).

Im vorliegenden Fall fuhr der Beschwerdegegner in fahrunfähigem Zustand (Art. 31 Abs. 2 SVG) und überholte ein anderes Fahrzeug in waghalsiger Art und Weise (Art. 35 Abs. 3 i.V.m. Art. 90 Abs. 3 SVG). Da er aber zu Beginn des Überholmanövers die Fussgänger auf der Fahrbahn noch nicht erblickte, konnte er nicht vorhersehen, dass sich ein Unfall mit Todesfolge ergeben könnte. Deshalb konnte vorliegend nicht darauf geschlossen werden, dass er erkennen musste, dass ein Unfall mit Todesfolge droht. Insofern kann dem Beschwerdegegner auch nicht angelastet werden, dass er mit dem krassen Überholmanöver den Tod der Fussgänger in Kauf nahm.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird in diesem Punkt abgewiesen.


Urteil 6B_85/2023: Ein Ausweichemanöver als grobe Verkehrsregelverletzung

Wenn man zuwenig Abstand einhält aufgrund eines verkehrsbedingten Anhaltens des vorfahrenden Autos ausweichen muss und einen Unfall verursacht, liegt eine grobe Verkehrsregelverletzung vor.

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Der Beschwerdeführer fuhr nachmittags einem anderen Auto nach. Dieses musste anhalten, um dem Gegenverkehr das Kreuzen zu ermöglichen. Der Beschwerdeführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, wich nach rechts auf eine Wiese aus, touchierte leicht das Heck des vorfahrenden Fahrzeuges, fuhr durch einen Holzzaun in einen Graben und kam schliesslich bei einer Scheune zum Stillstand.

Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht das hier eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt. Die sich in diesem Fall stellende Frage ist, ob sich der Beschwerdeführer rücksichtslos verhalten hat und damit den subjektiven Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung erfüllte. Rücksichtslos i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG handelt der Täter auch, wenn er sich grobfahrlässig verhält. Dies ist auch bei unbewusst fahrlässigem Verhalten möglich. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen. Je schwerer die Unfallfolgen, desto eher kann auch von Rücksichtslosigkeit ausgegangen werden, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen. Allerdings muss die Annahme restriktiv erfolgen und nicht jede Unaufmerksamkeit wiegt automatisch auch schwer (zum Ganzen ausführlich E. 1.2.1).

Im vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer nicht aufmerksam (Art. 31 Abs. 1 SVG) und hielt zuwenig Abstand ein zum vorfahrenden Fahrzeug (Art. 34 Abs. 4 SVG). Als Fahrzeuglenker muss man grds. immer genug Abstand haben, sodass man auch rechtzeitig anhalten kann, wenn das vorfahrende Auto eine Notbremsung einleitet (zu diesen beiden Verkehrsregeln ausführlich E. 1.2.2). Bei beiden Regeln handelt es sich um wichtige Regeln. Der Beschwerdeführer wandte seinen Blick seiner Beifahrerin zu und achtete nicht auf die Strasse, obwohl diese relativ schmal war, wegen Blütenstaub rutschig und auch noch Velofahrer unterwegs waren. Unter diesen Umständen liegt entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers keine „normale“ Auffahrkollision vor, die als einfache Verkehrsregelverletzung hätte bestraft werden können. Die durch den Beschwerdeführer geschaffene Gefahr erfüllte ohne weiteres den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG. Da es im vorliegenden Fall keine besonderen Gegenindizien gab, durfte die Vorinstanz von der objektiv groben Verkehrsregelverletzung auf ein grobfahrlässiges Handeln des Beschwerdeführers schliessen.


Urteil 1C_168/2022: Unfall im Kreisel – Qualifikation der Widerhandlung

Wenn man die Kreiselvorfahrt missachtet und einen Verkehrsunfall verursacht, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor.

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Die Beschwerdeführerin wurde mit einer Busse von CHF 300.00 bestraft, weil sie beim Einfahren in einen Kreisel einen Velofahrer übersah und mit diesem kollidierte. Daraufhin wurde ihr der Führerausweis wegen einer mittelschweren Widerhandlung für einen Monat entzogen. Damit ist sie aber nicht einverstanden und verlangt als Massnahme eine Verwarnung. Aus ihrer Sicht habe man zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nur Schrittgeschwindigkeit gefahren sei. Ebenfalls habe man das Fahrverhalten des Unfallgegners nicht mitberücksichtigt.

Die Beschwerdeführerin muss sich anlasten lassen, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nicht aufmerksam war (Art. 31 Abs. 1 SVG). Dadurch missachtete sie den Vortritt des sich im Kreisel befindlichen Fahrradfahrers (Art. 41b VRV). Damit diese Verkehrsregelverletzung noch mit einer Verwarnung sanktioniert werden könnte, müsste durch das Verhalten der Beschwerdeführerin lediglich eine geringe Gefahr entstanden sein und ihr Verschulden leicht sein (E. 3.1.2.).

An den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt ist die Verwaltungsbehörde grds. gebunden, in der rechtlichen Würdigung einer Verkehrsregelverletzung ist sie hingegen frei (E. 3.2). Aus diesem Grund kann sich die Beschwerdeführerin nicht darauf stützen, dass sie im Strafverfahren wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer milden Busse von CHF 300.00 bestraft wurde. Massgeblich für die Administrativmassnahme ist die Gefährdung sowie das Verschulden. Auch wenn die Beschwerdeführerin langsam in den Kreisel gefahren sein sollte, war die von ihr geschaffene und konkrete Gefahr nicht mehr leicht. Der Velofahrer stürzte wegen den Kollision und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Da damit die Voraussetzungen der leichten Widerhandlung nicht erfüllt sind, kommt der Auffangtatbestand der mittelschweren Widerhandlung zum Zug. Auf das Verschulden wird im Entscheid nicht eingegangen.

Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer – Part III

Urteil 6B_658/2022: Vorsicht Spaziergänger (gutgh. Beschwerde der Staatsanwaltschaft)

Dieses Urteil befasst sich mit einem tragischen Unfall, bei welchem ein Fussgänger verstarb, nachdem er von einem Fahrrad erfasst wurde. Der Fussgänger und seine Frau gingen auf einer Strasse in der Region Lavaux am rechten Rand einer Mauer entlang. In gleicher Richtung befuhr der Beschwerdegegner mit seinem Fahrrad die Strasse mit ca. 50 km/h. Als er in eine leichte Rechtskurve fuhr, sah er plötzlich den Spaziergänger, welcher dabei war, von rechts auf die linke Strassenseite zu wechseln. Der Beschwerdegegner schrie, um die Aufmerksamkeit des Fussgängers auf sich zu ziehen. Der Beschwerdegegner wollte dann zwischen dem Fussgänger und der Mauer durchfahren, wobei er immer noch ca. 46 km/h fuhr. Im gleichen Moment entschied sich der Fussgänger wieder nach rechts an die Mauer zu gehen. Der Fahrradfahrer kollidierte mit dem Fussgänger. Dieser vertarb später im Spital, der Fahrradfahrer zog sich schwere Verletzungen zu. In zweiter Instanz wurde der Fahrradfahrer vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen wehren sich die Witwe sowie die Staatsanwaltschaft.

Wie schon in Part I und II setzt auch die fahrlässige Tötung gemäss Art. 117 StGB eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus. Diese bemisst sich im Strassenverkehr nach den Verkehrsregeln. Auch in Part III stellt sich die Frage, ob dieser Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang für den Fahrradfahrer vorherseh- sowie vermeidbar war oder ob er die grenze des erlaubten Risikos noch nicht überschritten hat. Ebenso stellt sich hier die Frage, ob das Verhalten des Verstorbenen den Kausalverlauf unterbrechen konnte. Das Bundesgericht verweist auch hier wieder darauf, dass es nicht total unverhersehbar ist, dass sich Menschen auf der Fahrbahn befinden, auch wenn sie komische Dinge tun, wie z.B. aus einem Sack gefallene Herdöpfel aufsammeln (E. 2.1).

Die Verkehrsregeln gelten grds. auch für Fahrradfahrer (Art. 1 Abs. 2 SVG), so auch dass man seine Geschwindigkeit stets den Umständen anpassen muss (Art. 32 Abs. 1 SVG). Das bedeutet, dass man die Höchstgeschwindigkeit (als Motorfahrzeugführer) nicht immer ausreizen darf. Man muss sich u.a. am Verkehrsaufkommen und den Sichtverhältnissen orientieren. Die Geschwindigkeit muss so angepasst sein, dass man stets innerhalb der überblickbaren Distanz anhalten kann (vgl. Art. 4 Abs. 1 VRV). Auch auf grossen Durchgangsstrassen muss man als Verkehrsteilnehmer grds. damit rechnen, dass in einer nicht einsehbaren Kurve ein langsames Landwirtschaftsfahrzeug oder ein stehendes Auto mit Panne auftauchen kann (zum Ganzen ausführlich E. 2.2.2). An Expertisen sind Gerichte grds. gebunden. Wären die Schlussfolgerungen eines Experten aber überhaupt nicht nachvollziehbar, würde das Abstellen auf die Expertise gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung verstossen (E. 2.2.3).

Die Vorinstanz war (stark zusammengefasst) der Meinung, dass der Unfall letztlich aufgrund unglücklicher Zusammenhänge geschah, insb. im Umstand, dass der Spaziergänger in letzter Sekunde wieder einen Schritt zurückmachte und sich damit in die Fahrbahn des Beschwerdegegners begab. Eine Sorgfaltspflichtsverletzung nahm sie nicht an (E. 2.3). Eine Expertise kam (ebenfalls stark zusammengefasst) zu Schluss, dass eine Notbremsung nicht gereicht hätte, um den Unfall zu vermeiden. Die Aufprallgeschwindigkeit wäre aber nicht ca. 46 km/h, sondern 29 km/h gewesen. Mit einer Geschwindigkeit von 37.5 km/h hätte der Fahrradfahrer noch bremsen können. Die Expertise bezeichnete es als nachvollziehbar, dass unter diesen Umständen ein Ausweichmanöver versucht wurde. Allerdings hätte es gemäss Expertise wohl auch einen Unfall gegeben, wenn der Beschwerdegegner gar nicht reagiert hätte und der Verstorbene normal weitergelaufen wäre (E. 2.4).

Darauf stützt sich schliesslich auch das Bundesgericht. Wenn es den Verkehrsunfall so oder so gegeben hätte, dann war die Geschwindigkeit des Beschwerdegegners nicht angepasst. Der Beschwerdegegner hätte eine nicht einsehbare Rechtskurve nicht mit knapp 50 km/h befahren dürfen, so dass er nicht mehr auf Sicht anhalten konnte. Der Beschwerdegegner kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Expertise sein Ausweichmanöver als nachvollziehbar bezeichnete. Denn er selbst hat sich durch das Nichtanpassen der Geschwindigkeit erst in diese Gefahrensituation gebracht (ausführlich und umschweifend E. 2.6). Letztlich war es auch nicht dermassen ausserordentlich, dass ein Spaziergänger auf einer touristischen Route im Lavaux an einem Sonntagabend die Strassenseite wechselt. Insofern wurde der adäquate Kausalzusammenhang durch das Verhalten des Verstorbenen nicht unterbrochen. Das gleiche gilt für den Ausweichschritt in die Fahrbahn des Beschwerdegegners (E. 2.7).

Der Freispruch der Vorinstanz verstösst damit gegen Bundesrecht, womit die Beschwerden gutgeheissen werden.

Verantwortung des Geschäftsführers

Urteil 6B_1066/2022: Tödlicher Unfall beim Kuppeln

Dieses Urteil befasst sich mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Geschäftsführers eines Logistik-Unternehmens, wenn einer seiner Mitarbeiter bei einem Unfall ums Leben kommt. Ausgangslage ist ein tragischer Unfall. Ein Mitarbeiter des Beschwerdegegners kam bei einem Kupplungsmanöver ums Leben, als er einen Anhänger an sein Zugfahrzeug ankuppeln wollte. Anstatt mit dem Zugfahrzeug rückwärts auf den gesicherten Anhänger zuzufahren, liess er entgegen den SUVA-Richtlinien den Anhänger auf das Zugfahrzeug zurollen. Die Deichsel des Anhängers verfehlte die Kupplung des Zugfahrzeuges und der Mitarbeiter wurde zwischen dem Anhänger und dem Zug-LKW eingeklemmt. Dabei zog er sich tödliche Verletzungen zu.

Der Geschäftsführer wurde erstinstanzlich vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen wehrt sich die Witwe des Verstorbenen. Sie verlangt die Verurteilung des Beschwerdegegners sowie eine Genugtuung.

Gemäss Art. 117 StGB wird bestraft, wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht. Der Tatbestand setzt den Tod einer Person, eine Sorgfaltspflichtverletzung und den Kausalzusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Tod voraus. Vorliegend geht es um ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt. Fahrlässig handelt kurz gesagt, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt und dabei das erlaubte Risiko überschreitet. Bei einem Unterlassungsdelikt bleibt pflichtwidrig untätig, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist (Art. 11 Abs. 2 StGB). Der eingetretene Erfolg muss für den Täter vorherseh- und damit auch vermeidbar sein (E. 2.1.1).

Die Staatsanwaltschaft warf dem Beschwerdegegner und Geschäftsführer der Transportfirma vor, dass dieser den Verstorbenen nicht genügend instruiert habe. Zudem habe er aus Sicht der Anklage den Verstorbenen beim fatalen Kupplungsmanöver nicht überwacht. Der Verstorbene war zudem erst im Besitze eines Lernfahrausweises für Anhänger, weshalb er noch enger hätte überwacht werden müssen. Auch die Beschwerdeführerin bringt hervor, dass ihr verstorbener Gatte besonders eng durch den Beschwerdegegner hätte überwacht werden müssen, da Ersterer zweimal durch die Führerprüfung der Kat. CE gefallen ist. Aus ihrer Sicht hätte der Verstorbene nur noch LKW ohne Anhänger fahren dürfen.

Der Beschwerdegegner stellt sich dagegen auf den Standpunkt, dass Neulinge in seiner Firma stets durch erfahrene Mitarbeiter eingearbeitet und instruiert werden. Er persönlich hatte dem Verstorbenen das korrekte Kuppeln erklärt und es mit ihm geübt. Sogar am Unfallort übten sie zusammen das Kuppeln. Diese Aussagen wurden von weiteren Mitarbeitern gestützt. Nach der Vorinstanz kann dem Beschwerdegegner auch nicht vorgeworfen werden, dass der Verstorbene alleine unterwegs war. Andernfalls würde das faktisch dazu führen, dass LKW-Fahrer immer von ihren Vorgesetzten oder anderen Personen begleitet werden müssten. Auch wenn LKW-Fahrer nur den Lernfahrausweis für das Mitführen von Anhängern haben, benötigen diese nicht unbedingt eines Spezialbehandlung. Die Zeugen sagten zugunsten des Beschwerdegegners aus, dass dieser bei fehlerhaftem Verhalten stets und sofort eingegriffen habe und seinen Vorsichtspflichten nachgekommen sei. Es sei deshalb auch unerklärlich, wieso der Verstorbene die SUVA-Richtlinien zum Ankuppeln des Anhängers nicht einhielt (E. 2.3).

Der Beschwerdegegner hielt seine Sorgfaltspflichten also ein und wurde zu Recht freigesprochen. Im Umkehrschluss wurde die Zivilforderung der Beschwerdeführerin abgewiesen. Nur im Kostenpunkt reüssiert die Beschwerdeführerin. Zu Unrecht wurden ihr die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt.