Zum Jahresende hat das Bundesgericht noch einmal Vollgas gegeben und einige interessante Urteile zum Strassenverkehrsrecht veröffentlicht. Einige davon dürften die SVG-Cracks hier weniger überraschen. Als Lektüre ist aber insb. Urteil 1C_550/2022 zu empfehlen, da es sich zu einer interessanten Konstellation im Zusammenhang mit der charakterlichen Fahreignung beim Kaskadensicherungsentzug äussert. Viel Spass beim Lesen und gutes (metaphorisches) Rutschen.
Urteil 1C_550/2022: Der Entzug der Spezialkategorien und die Folgen in der Kaskade
Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob ein Entzug der Spezialkategorien F, G und M gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV ebenfalls mitzuzählen ist, wenn aufgrund der Kaskade ein Kaskadensicherungs-Entzug ansteht.
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Der Beschwerdegegner blickt auf eine reichhaltige SVG-Geschichte zurück:
25. November 2009 – Geschwindigkeitsüberschreitung – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1 Monat
24. Juni 2013 – Geschwindigkeitsüberschreitung – leichte Widerhandlung – Verwarnung
26. Mai 2014 – Auffahrkollision – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1.5 Monate
11. Oktober 2014 – nicht gesicherte Ladung auf Anhänger von Traktor – mittelschwere Widerhandlung – Zusatzmassnahme zur vorgenannten Massnahme, Entzug der Spezialkategorien F, G und M, Kat. B weiterhin fahrberechtigt.
19. Oktober 2019 – Lenken eines nicht betriebssicheren Traktors – mittelschwere Widerhandlung – Kaskadensicherungsentzug gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG.
Die kantonalen Instanzen hoben den Kaskadensicherungsentzug auf. Dagegen führt das Strassenverkehrsamt Beschwerde beim Bundesgericht. Es stellt sich auf den Standpunkt, dass dem Beschwerdegegner gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG der Führerausweis nun zum vierten Mal wegen einer mittelschweren Widerhandlung entzogen werde, weshalb ein Kaskadensicherungsentzug angeordnet werden muss. Bei diesem besteht sodann die gesetzliche Vermutung der fehlenden charakterlichen Fahreignung gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG. Das Strassenverkehrsamt stützte sich bei seiner Begründung für den Sicherungsentzug auch auf das Urteil 1C_248/2020, gemäss welchem auch Zusatzmassnahmen bei der Anordnung eines Kaskadensicherungsentzugs berücksichtigt werden müssen (E. 4.3).
Der vorliegende Fall unterscheidet sich zum im Urteil 1C_248/2020 behandelten Sachverhalt aber darin, dass vorliegend bei der mittelschweren Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 nur die Spezialkategorien entzogen wurden.
Ein (Kaskaden)Sicherungsentzug aus charakterlichen Gründen greift schwer in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person ein. Deshalb darf ein Sicherungsentzug nur dann angeordnet werden, wenn aufgrund des Verhaltens der betroffenen Person klar ist, dass diese auch künftig gegen die Verkehrsregeln verstossen wird. In anderen Worten muss eine Rückfallgefahr bestehen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG so auszulegen, dass die Vorbelastungen nur zu einem Kaskadensicherungsentzug führen können, wenn sie mit einer Hauptkategorie, also z.B. Kat. A oder B, begangen wurden. Denn nur dann kommt der Warnmassnahme „generelle Wirkung“ zu, indem der erzieherische Warnentzug gemäss Art. 33 Abs. 1 VZV über sämtliche Kategorien erfolgt. Im vorliegenden Fall betraf der Warnentzug bzgl. der Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 aber nur die Spezialkategorien F, G und M. Weil dabei die Kat. B nicht entzogen wurde, hatte die Massnahme keine „generelle Wirkung“ bzw. nur eine sehr eingeschränkte erzieherische Wirkung, weshalb sie bei der Prüfung eines Kaskadensicherungsentzugs gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG nicht berücksichtigt werden darf.
Die Beschwerde des Strassenverkehrsamtes wird deshalb abgewiesen.
Vorsicht Meinung: Dieser Entscheid ist nur schwierig nachvollziehbar. Denn einerseits stellt sich die Frage, wie diese Rechtsprechung handzuhaben ist, wenn jemand nur im Besitz von Spezialkategorien ist, denn dort hätte ein Warnentzug wiederum „generelle Wirkung“. D.h. theoretisch wäre es möglich, dass eine Person, die nur Spezialkategorien hat, anders behandelt würde, als jene, die noch über Hauptkategorien verfügt. Zudem können Widerhandlungen mit einem landwirtschaftlichen Fahrzeug der Kat. G weitaus gefährlicher sein, als solche mit einem Fahrzeug der Kat. B. Im vorliegenden Fall hat die betroffene Person ohne weiteres bewiesen, dass sie nicht gewillt ist, die Verkehrsregeln einzuhalten. Eine sichernde Massnahme wäre angebracht gewesen.
Urteil 6B_500/2023: Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit
Dieses Urteil befasst sich mit der Abgrenzung zwischen (eventual)vorsätzlicher und (bewusst) fahrlässiger Tötung nach einem Strassenverkehrsdelikt.
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Der Beschwerdegegner fuhr im September 2021 ausserorts hinter einem anderen Auto her. Als dieses wegen zwei Fussgängern auf der rechten Strassenseite und einem entgegenkommenden Lieferwagen seine Fahrt verlangsamte, setzte der Beschwerdegegner zum Überholen an. Beim Überholmanöver gab es zunächst eine Streifkollision zwischen dem Beschwerdegegner und dem Lieferwagen. Als der Beschwerdegegner wieder auf die rechte Fahrbahn einbog, kollidierte er frontal mit den beiden Fussgängern. Eine Person starb an den Verletzungen. Im kantonalen Verfahren wurde der Beschwerdegegner u.a. wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung und Fahren in fahrunfähigem Zustand verurteilt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Der Beschwerdegegner sei wegen (versuchter) eventualvorsätzlicher Tötung schuldig zu sprechen.
Bei krassen Verkehrsunfällen kann die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit schwierig sein. Eventualvorsätzlich handelt, wer mit dem Eintritt eines Taterfolges – also hier dem Tod eines Menschen – rechnet, aber dennoch handelt, weil man den Taterfolg in Kauf nimmt bzw. sich damit abfindet. Die bewusst fahrlässig handelnde Person rechnet zwar auch mit dem Eintritt des Taterfolgs, vertraut aber in pflichtwidriger Weise darauf, dass der Erfolg nicht eintritt. Ohne Geständnis der beschuldigten Person, muss der Richter anhand der Einzelfallumstände entscheiden, ob der Täter oder die Täterin den Taterfolg billigte. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (E. 2.3.2). Bei Strassenverkehrsdelikten darf eine eventualvorsätzliche Tatbegehung aber nicht leichthin angenommen werden. Nur in krassen Fällen darf davon ausgegangen werden, dass sich der Täter oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (zum Ganzen E. 2.3.5).
Im vorliegenden Fall fuhr der Beschwerdegegner in fahrunfähigem Zustand (Art. 31 Abs. 2 SVG) und überholte ein anderes Fahrzeug in waghalsiger Art und Weise (Art. 35 Abs. 3 i.V.m. Art. 90 Abs. 3 SVG). Da er aber zu Beginn des Überholmanövers die Fussgänger auf der Fahrbahn noch nicht erblickte, konnte er nicht vorhersehen, dass sich ein Unfall mit Todesfolge ergeben könnte. Deshalb konnte vorliegend nicht darauf geschlossen werden, dass er erkennen musste, dass ein Unfall mit Todesfolge droht. Insofern kann dem Beschwerdegegner auch nicht angelastet werden, dass er mit dem krassen Überholmanöver den Tod der Fussgänger in Kauf nahm.
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird in diesem Punkt abgewiesen.
Urteil 6B_85/2023: Ein Ausweichemanöver als grobe Verkehrsregelverletzung
Wenn man zuwenig Abstand einhält aufgrund eines verkehrsbedingten Anhaltens des vorfahrenden Autos ausweichen muss und einen Unfall verursacht, liegt eine grobe Verkehrsregelverletzung vor.
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Der Beschwerdeführer fuhr nachmittags einem anderen Auto nach. Dieses musste anhalten, um dem Gegenverkehr das Kreuzen zu ermöglichen. Der Beschwerdeführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, wich nach rechts auf eine Wiese aus, touchierte leicht das Heck des vorfahrenden Fahrzeuges, fuhr durch einen Holzzaun in einen Graben und kam schliesslich bei einer Scheune zum Stillstand.
Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht das hier eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt. Die sich in diesem Fall stellende Frage ist, ob sich der Beschwerdeführer rücksichtslos verhalten hat und damit den subjektiven Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung erfüllte. Rücksichtslos i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG handelt der Täter auch, wenn er sich grobfahrlässig verhält. Dies ist auch bei unbewusst fahrlässigem Verhalten möglich. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen. Je schwerer die Unfallfolgen, desto eher kann auch von Rücksichtslosigkeit ausgegangen werden, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen. Allerdings muss die Annahme restriktiv erfolgen und nicht jede Unaufmerksamkeit wiegt automatisch auch schwer (zum Ganzen ausführlich E. 1.2.1).
Im vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer nicht aufmerksam (Art. 31 Abs. 1 SVG) und hielt zuwenig Abstand ein zum vorfahrenden Fahrzeug (Art. 34 Abs. 4 SVG). Als Fahrzeuglenker muss man grds. immer genug Abstand haben, sodass man auch rechtzeitig anhalten kann, wenn das vorfahrende Auto eine Notbremsung einleitet (zu diesen beiden Verkehrsregeln ausführlich E. 1.2.2). Bei beiden Regeln handelt es sich um wichtige Regeln. Der Beschwerdeführer wandte seinen Blick seiner Beifahrerin zu und achtete nicht auf die Strasse, obwohl diese relativ schmal war, wegen Blütenstaub rutschig und auch noch Velofahrer unterwegs waren. Unter diesen Umständen liegt entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers keine „normale“ Auffahrkollision vor, die als einfache Verkehrsregelverletzung hätte bestraft werden können. Die durch den Beschwerdeführer geschaffene Gefahr erfüllte ohne weiteres den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG. Da es im vorliegenden Fall keine besonderen Gegenindizien gab, durfte die Vorinstanz von der objektiv groben Verkehrsregelverletzung auf ein grobfahrlässiges Handeln des Beschwerdeführers schliessen.
Urteil 1C_168/2022: Unfall im Kreisel – Qualifikation der Widerhandlung
Wenn man die Kreiselvorfahrt missachtet und einen Verkehrsunfall verursacht, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor.
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Die Beschwerdeführerin wurde mit einer Busse von CHF 300.00 bestraft, weil sie beim Einfahren in einen Kreisel einen Velofahrer übersah und mit diesem kollidierte. Daraufhin wurde ihr der Führerausweis wegen einer mittelschweren Widerhandlung für einen Monat entzogen. Damit ist sie aber nicht einverstanden und verlangt als Massnahme eine Verwarnung. Aus ihrer Sicht habe man zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nur Schrittgeschwindigkeit gefahren sei. Ebenfalls habe man das Fahrverhalten des Unfallgegners nicht mitberücksichtigt.
Die Beschwerdeführerin muss sich anlasten lassen, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nicht aufmerksam war (Art. 31 Abs. 1 SVG). Dadurch missachtete sie den Vortritt des sich im Kreisel befindlichen Fahrradfahrers (Art. 41b VRV). Damit diese Verkehrsregelverletzung noch mit einer Verwarnung sanktioniert werden könnte, müsste durch das Verhalten der Beschwerdeführerin lediglich eine geringe Gefahr entstanden sein und ihr Verschulden leicht sein (E. 3.1.2.).
An den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt ist die Verwaltungsbehörde grds. gebunden, in der rechtlichen Würdigung einer Verkehrsregelverletzung ist sie hingegen frei (E. 3.2). Aus diesem Grund kann sich die Beschwerdeführerin nicht darauf stützen, dass sie im Strafverfahren wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer milden Busse von CHF 300.00 bestraft wurde. Massgeblich für die Administrativmassnahme ist die Gefährdung sowie das Verschulden. Auch wenn die Beschwerdeführerin langsam in den Kreisel gefahren sein sollte, war die von ihr geschaffene und konkrete Gefahr nicht mehr leicht. Der Velofahrer stürzte wegen den Kollision und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Da damit die Voraussetzungen der leichten Widerhandlung nicht erfüllt sind, kommt der Auffangtatbestand der mittelschweren Widerhandlung zum Zug. Auf das Verschulden wird im Entscheid nicht eingegangen.