Endspurt zum Jahresende mit spannenden Bundesgerichtsurteilen

Zum Jahresende hat das Bundesgericht noch einmal Vollgas gegeben und einige interessante Urteile zum Strassenverkehrsrecht veröffentlicht. Einige davon dürften die SVG-Cracks hier weniger überraschen. Als Lektüre ist aber insb. Urteil 1C_550/2022 zu empfehlen, da es sich zu einer interessanten Konstellation im Zusammenhang mit der charakterlichen Fahreignung beim Kaskadensicherungsentzug äussert. Viel Spass beim Lesen und gutes (metaphorisches) Rutschen.

Urteil 1C_550/2022: Der Entzug der Spezialkategorien und die Folgen in der Kaskade

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob ein Entzug der Spezialkategorien F, G und M gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV ebenfalls mitzuzählen ist, wenn aufgrund der Kaskade ein Kaskadensicherungs-Entzug ansteht.

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Der Beschwerdegegner blickt auf eine reichhaltige SVG-Geschichte zurück:

25. November 2009 – Geschwindigkeitsüberschreitung – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1 Monat
24. Juni 2013 – Geschwindigkeitsüberschreitung – leichte Widerhandlung – Verwarnung
26. Mai 2014 – Auffahrkollision – mittelschwere Widerhandlung – Entzug 1.5 Monate
11. Oktober 2014 – nicht gesicherte Ladung auf Anhänger von Traktor – mittelschwere Widerhandlung – Zusatzmassnahme zur vorgenannten Massnahme, Entzug der Spezialkategorien F, G und M, Kat. B weiterhin fahrberechtigt.
19. Oktober 2019 – Lenken eines nicht betriebssicheren Traktors – mittelschwere Widerhandlung – Kaskadensicherungsentzug gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG.

Die kantonalen Instanzen hoben den Kaskadensicherungsentzug auf. Dagegen führt das Strassenverkehrsamt Beschwerde beim Bundesgericht. Es stellt sich auf den Standpunkt, dass dem Beschwerdegegner gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG der Führerausweis nun zum vierten Mal wegen einer mittelschweren Widerhandlung entzogen werde, weshalb ein Kaskadensicherungsentzug angeordnet werden muss. Bei diesem besteht sodann die gesetzliche Vermutung der fehlenden charakterlichen Fahreignung gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG. Das Strassenverkehrsamt stützte sich bei seiner Begründung für den Sicherungsentzug auch auf das Urteil 1C_248/2020, gemäss welchem auch Zusatzmassnahmen bei der Anordnung eines Kaskadensicherungsentzugs berücksichtigt werden müssen (E. 4.3).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich zum im Urteil 1C_248/2020 behandelten Sachverhalt aber darin, dass vorliegend bei der mittelschweren Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 nur die Spezialkategorien entzogen wurden.

Ein (Kaskaden)Sicherungsentzug aus charakterlichen Gründen greift schwer in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person ein. Deshalb darf ein Sicherungsentzug nur dann angeordnet werden, wenn aufgrund des Verhaltens der betroffenen Person klar ist, dass diese auch künftig gegen die Verkehrsregeln verstossen wird. In anderen Worten muss eine Rückfallgefahr bestehen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG so auszulegen, dass die Vorbelastungen nur zu einem Kaskadensicherungsentzug führen können, wenn sie mit einer Hauptkategorie, also z.B. Kat. A oder B, begangen wurden. Denn nur dann kommt der Warnmassnahme „generelle Wirkung“ zu, indem der erzieherische Warnentzug gemäss Art. 33 Abs. 1 VZV über sämtliche Kategorien erfolgt. Im vorliegenden Fall betraf der Warnentzug bzgl. der Widerhandlung vom 11. Oktober 2014 aber nur die Spezialkategorien F, G und M. Weil dabei die Kat. B nicht entzogen wurde, hatte die Massnahme keine „generelle Wirkung“ bzw. nur eine sehr eingeschränkte erzieherische Wirkung, weshalb sie bei der Prüfung eines Kaskadensicherungsentzugs gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. e SVG nicht berücksichtigt werden darf.

Die Beschwerde des Strassenverkehrsamtes wird deshalb abgewiesen.

Vorsicht Meinung: Dieser Entscheid ist nur schwierig nachvollziehbar. Denn einerseits stellt sich die Frage, wie diese Rechtsprechung handzuhaben ist, wenn jemand nur im Besitz von Spezialkategorien ist, denn dort hätte ein Warnentzug wiederum „generelle Wirkung“. D.h. theoretisch wäre es möglich, dass eine Person, die nur Spezialkategorien hat, anders behandelt würde, als jene, die noch über Hauptkategorien verfügt. Zudem können Widerhandlungen mit einem landwirtschaftlichen Fahrzeug der Kat. G weitaus gefährlicher sein, als solche mit einem Fahrzeug der Kat. B. Im vorliegenden Fall hat die betroffene Person ohne weiteres bewiesen, dass sie nicht gewillt ist, die Verkehrsregeln einzuhalten. Eine sichernde Massnahme wäre angebracht gewesen.


Urteil 6B_500/2023: Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit

Dieses Urteil befasst sich mit der Abgrenzung zwischen (eventual)vorsätzlicher und (bewusst) fahrlässiger Tötung nach einem Strassenverkehrsdelikt.

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Der Beschwerdegegner fuhr im September 2021 ausserorts hinter einem anderen Auto her. Als dieses wegen zwei Fussgängern auf der rechten Strassenseite und einem entgegenkommenden Lieferwagen seine Fahrt verlangsamte, setzte der Beschwerdegegner zum Überholen an. Beim Überholmanöver gab es zunächst eine Streifkollision zwischen dem Beschwerdegegner und dem Lieferwagen. Als der Beschwerdegegner wieder auf die rechte Fahrbahn einbog, kollidierte er frontal mit den beiden Fussgängern. Eine Person starb an den Verletzungen. Im kantonalen Verfahren wurde der Beschwerdegegner u.a. wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung und Fahren in fahrunfähigem Zustand verurteilt. Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft Beschwerde. Der Beschwerdegegner sei wegen (versuchter) eventualvorsätzlicher Tötung schuldig zu sprechen.

Bei krassen Verkehrsunfällen kann die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit schwierig sein. Eventualvorsätzlich handelt, wer mit dem Eintritt eines Taterfolges – also hier dem Tod eines Menschen – rechnet, aber dennoch handelt, weil man den Taterfolg in Kauf nimmt bzw. sich damit abfindet. Die bewusst fahrlässig handelnde Person rechnet zwar auch mit dem Eintritt des Taterfolgs, vertraut aber in pflichtwidriger Weise darauf, dass der Erfolg nicht eintritt. Ohne Geständnis der beschuldigten Person, muss der Richter anhand der Einzelfallumstände entscheiden, ob der Täter oder die Täterin den Taterfolg billigte. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen. Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (E. 2.3.2). Bei Strassenverkehrsdelikten darf eine eventualvorsätzliche Tatbegehung aber nicht leichthin angenommen werden. Nur in krassen Fällen darf davon ausgegangen werden, dass sich der Täter oder die Täterin gegen das geschützte Rechtsgut von Leib und Leben entschieden hat (zum Ganzen E. 2.3.5).

Im vorliegenden Fall fuhr der Beschwerdegegner in fahrunfähigem Zustand (Art. 31 Abs. 2 SVG) und überholte ein anderes Fahrzeug in waghalsiger Art und Weise (Art. 35 Abs. 3 i.V.m. Art. 90 Abs. 3 SVG). Da er aber zu Beginn des Überholmanövers die Fussgänger auf der Fahrbahn noch nicht erblickte, konnte er nicht vorhersehen, dass sich ein Unfall mit Todesfolge ergeben könnte. Deshalb konnte vorliegend nicht darauf geschlossen werden, dass er erkennen musste, dass ein Unfall mit Todesfolge droht. Insofern kann dem Beschwerdegegner auch nicht angelastet werden, dass er mit dem krassen Überholmanöver den Tod der Fussgänger in Kauf nahm.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird in diesem Punkt abgewiesen.


Urteil 6B_85/2023: Ein Ausweichemanöver als grobe Verkehrsregelverletzung

Wenn man zuwenig Abstand einhält aufgrund eines verkehrsbedingten Anhaltens des vorfahrenden Autos ausweichen muss und einen Unfall verursacht, liegt eine grobe Verkehrsregelverletzung vor.

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Der Beschwerdeführer fuhr nachmittags einem anderen Auto nach. Dieses musste anhalten, um dem Gegenverkehr das Kreuzen zu ermöglichen. Der Beschwerdeführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, wich nach rechts auf eine Wiese aus, touchierte leicht das Heck des vorfahrenden Fahrzeuges, fuhr durch einen Holzzaun in einen Graben und kam schliesslich bei einer Scheune zum Stillstand.

Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht das hier eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt. Die sich in diesem Fall stellende Frage ist, ob sich der Beschwerdeführer rücksichtslos verhalten hat und damit den subjektiven Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung erfüllte. Rücksichtslos i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG handelt der Täter auch, wenn er sich grobfahrlässig verhält. Dies ist auch bei unbewusst fahrlässigem Verhalten möglich. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen (momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen. Je schwerer die Unfallfolgen, desto eher kann auch von Rücksichtslosigkeit ausgegangen werden, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen. Allerdings muss die Annahme restriktiv erfolgen und nicht jede Unaufmerksamkeit wiegt automatisch auch schwer (zum Ganzen ausführlich E. 1.2.1).

Im vorliegenden Fall war der Beschwerdeführer nicht aufmerksam (Art. 31 Abs. 1 SVG) und hielt zuwenig Abstand ein zum vorfahrenden Fahrzeug (Art. 34 Abs. 4 SVG). Als Fahrzeuglenker muss man grds. immer genug Abstand haben, sodass man auch rechtzeitig anhalten kann, wenn das vorfahrende Auto eine Notbremsung einleitet (zu diesen beiden Verkehrsregeln ausführlich E. 1.2.2). Bei beiden Regeln handelt es sich um wichtige Regeln. Der Beschwerdeführer wandte seinen Blick seiner Beifahrerin zu und achtete nicht auf die Strasse, obwohl diese relativ schmal war, wegen Blütenstaub rutschig und auch noch Velofahrer unterwegs waren. Unter diesen Umständen liegt entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers keine „normale“ Auffahrkollision vor, die als einfache Verkehrsregelverletzung hätte bestraft werden können. Die durch den Beschwerdeführer geschaffene Gefahr erfüllte ohne weiteres den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG. Da es im vorliegenden Fall keine besonderen Gegenindizien gab, durfte die Vorinstanz von der objektiv groben Verkehrsregelverletzung auf ein grobfahrlässiges Handeln des Beschwerdeführers schliessen.


Urteil 1C_168/2022: Unfall im Kreisel – Qualifikation der Widerhandlung

Wenn man die Kreiselvorfahrt missachtet und einen Verkehrsunfall verursacht, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor.

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Die Beschwerdeführerin wurde mit einer Busse von CHF 300.00 bestraft, weil sie beim Einfahren in einen Kreisel einen Velofahrer übersah und mit diesem kollidierte. Daraufhin wurde ihr der Führerausweis wegen einer mittelschweren Widerhandlung für einen Monat entzogen. Damit ist sie aber nicht einverstanden und verlangt als Massnahme eine Verwarnung. Aus ihrer Sicht habe man zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nur Schrittgeschwindigkeit gefahren sei. Ebenfalls habe man das Fahrverhalten des Unfallgegners nicht mitberücksichtigt.

Die Beschwerdeführerin muss sich anlasten lassen, dass sie beim Einfahren in den Kreisel nicht aufmerksam war (Art. 31 Abs. 1 SVG). Dadurch missachtete sie den Vortritt des sich im Kreisel befindlichen Fahrradfahrers (Art. 41b VRV). Damit diese Verkehrsregelverletzung noch mit einer Verwarnung sanktioniert werden könnte, müsste durch das Verhalten der Beschwerdeführerin lediglich eine geringe Gefahr entstanden sein und ihr Verschulden leicht sein (E. 3.1.2.).

An den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt ist die Verwaltungsbehörde grds. gebunden, in der rechtlichen Würdigung einer Verkehrsregelverletzung ist sie hingegen frei (E. 3.2). Aus diesem Grund kann sich die Beschwerdeführerin nicht darauf stützen, dass sie im Strafverfahren wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer milden Busse von CHF 300.00 bestraft wurde. Massgeblich für die Administrativmassnahme ist die Gefährdung sowie das Verschulden. Auch wenn die Beschwerdeführerin langsam in den Kreisel gefahren sein sollte, war die von ihr geschaffene und konkrete Gefahr nicht mehr leicht. Der Velofahrer stürzte wegen den Kollision und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt auf. Da damit die Voraussetzungen der leichten Widerhandlung nicht erfüllt sind, kommt der Auffangtatbestand der mittelschweren Widerhandlung zum Zug. Auf das Verschulden wird im Entscheid nicht eingegangen.

Das mildere Recht(süberholen)

Urteil 6B_231/2022: Ist das nicht eine Ordnungsbusse?

Per 1. Januar 2021 wurden die Regeln zum Rechtsüberholen geändert. Rechtsvorbeifahren wurde entkriminalisiert. Rechtsüberholen ist hingegen weiterhin verboten und wird mit einer Ordnungsbusse geahndet. So steht es auf der Internetseite des ASTRA. Mit dieser Gesetzesänderung sollte nach dem infamosen BGE 142 IV 93 Rechtsklarheit geschaffen werden (vgl. dazu die Erläuterungen des ASTRA vom 10.12.2019). Der Entscheid befasst sich mit der Frage, ob das neue mildere Recht auf altrechtliche Sachverhalte angewendet werden muss.

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, im Juli 2019 auf der Autobahn vier Fahrzeuge rechts überholt zu haben, durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen. Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass seine Widerhandlung nach dem neuen Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV hätte beurteilt werden müssen.

Art. 2 Abs. 2 StGB beinhaltet den Grundsatz der lex mitior. Hat ein Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen, so wird er nach neuen Recht beurteilt, wenn es für ihn milder ist. Ob das neue Recht milder ist, muss anhand des Einzelfalles geprüft werden (sog. Grundsatz der konkreten Vergleichsmethode). Das Gericht muss die Widerhandlung nach altem und neuem Recht beurteilen und danach vergleichen, nach welchem der Rechte der Täter besser gestellt ist. Die Bestimmung der Rechtslage erfolgt nach objektiven Gesichtspunkten. Steht fest, dass die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens unter neuem Recht fortbesteht, muss in einem zweiten Schritt der Strafrahmen verglichen werden (E. 2.1). Die Vorinstanz erwägt, dass das klassische Rechtsüberholmanöver nach wie vor verboten ist. Zudem gilt der Grundsatz der „lex mitior“ nicht ausnahmslos. Er greift nur, wenn in der neuen Regelung eine andere ethische Wertung zum Ausdruck kommt, nicht jedoch bei Änderungen aus Gründen der Zweckmässigkeit. Zwar kann das klassische Rechtsüberholen unter dem neuen Recht nunmehr mit einer Ordnungsbusse von CHF 250 bestraft werden. Allerdings konnte auch unter dem alten Recht das Rechtsüberholen als einfache Verkehrsregelverletzung geahndet werden. Eine Qualifizierung als grobe Verkehrsregelverletzung ist auch unter dem neuen Recht möglich, denn eine Ordnungsbusse kann gemäss Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG nicht ausgesprochen werden, wenn durch die Widerhandlung jemand erhöht abstrakt gefährdet wurde (E. 2.2).

Daraus folgert das Bundesgericht, dass zwar eine mildere Bestrafung von Rechtsüberholen möglich ist, dass aber der Grundsatz der lex mitior keine Anwendung findet, weil das Rechtsüberholen nach wie vor als (grobe) Verkehrsregelverletzung geähndet werden kann (E. 2.3).

Danach setzt sich das Bundesgericht mit der Qualifikation des Rechtsüberholens als grobe Verkehrsregelverletzung auseinander. Ausführlich geht es dabei auf seine gefestigte Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung und des Rechtsüberholens ein. Es bestätigt die Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer sowohl eine ernstliche Gefahr geschaffen hat und rücksichtslos handelte. Erwähnenswert ist, dass das Bundesgericht eine Publikation des Rechtsvertreters erwähnt, in welcher dieser das Bundesgericht einer „evidenzignoranten Rechtsprechung“ bezichtigt. Nach Ansicht des Rechtsvertreters habe der Bundesrat der „blinden Justitia“ durch Änderungen der Verordnung die „längst erhärtete Differenzierungsnotwendigkeit“ zwischen Überholen/Vorbeifahren auf Autobahnen gegenüber anderen Strassenarten verordnet. Diese Kritik nimmt das Bundesgericht zwar zur Kenntnis. Es hält aber an seiner Praxis fest, wonach ein Rechtsüberholmanöver eine erhebliche Unfallgefahr nach sich ziehe. Wird eine Person rechts überholt, reiche deren Reaktion von Erschrecken bis zu ungeplanten Manövern. Rechtsüberholen führt damit grds. zu einer erhöht abstrakten Gefährdung.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Vorsicht Meinung: Die Änderung der Rechtslage sollte eigentlich nach dem Willen des Gesetzgebers zu einfacheren, klaren Verkehrsregeln führen, damit sich Verkehrsteilnehmer danach richten können. Mit diesem Urteil wird die Thematik um das Rechtsüberholen aber wieder „schwammiger“. So stellt sich z.B. die Frage, ob der Ordnungsbussentatbestand „Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen auf Autobahnen und Autostrassen mit mehreren Fahrstreifen“ (vgl. Anhang 1 Ziff. 314.3 OBV) überhaupt je angewendet werden kann, wenn dem Rechtsüberholen nach Ansicht des Bundesgerichts stets eine erhöht abstrakte Gefahr inhärent ist. Zudem widerspricht dieses Urteil der oben verlinkten Medienmitteilung des ASTRA bis zu einem gewissen Grad, wonach das klassische Rechtsüberholen mit einer Ordnungsbusse bestraft wird. Immerhin wird es uns nicht langweilig…

Keine Änderung beim Abstand

BGE 6B_164/2020: Keine denkbaren Gegenindizien (gutgh. Beschw.)

Zwar kein bahnbrechendes Urteil, aber es ist dennoch interessant, dass auf kantonaler Ebene die faktischen Probleme beim Abstand mehr und mehr beachtet werden.

Der Beschwerdegegner wurde mit Strafbefehl wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er auf der Autobahn über eine Strecke von 500m zeitweise nur einen Abstand von 0.48s hatte. Die obere kantonale Instanz hiess die dagegen erhobene Berufung gut und verurteilte den Beschwerdegegner wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, weil der subj. Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht erfüllt sei. Die Staatsanwaltschaft führt dagegen erfolgreich Beschwerde.

Die Vorinstanz führte aus dass der obj. Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung erfüllt sei. Zum subj. Tatbestand hingegen legte sie diverse Einzelfallumstände zugunsten des Beschwerdegegners aus. So habe sich dieser durch das nachfolgende Polizeiauto bedrängt gefühlt. Ebenso herrschte hohes Verkehrsaufkommen, wobei es unter solchen Umständen naturgemäss als faktisch deutlich erschwert erscheine die Abstandsvorschriften einzuhalten. Die Abstandsunterschreitung dauerte nur wenige Sekunden. Ein rücksichtsloses Verhalten liege nicht vor (E. 2.1). Die Beschwerdeführerin entgegner dazu, dass das hohe Verkehrsaufkommen eben nicht zugunsten des Beschwerdegegners ausgelegt werden könne, denn gerade bei hohem Verkehrsaufkommen drohen auch schwere Unfälle. Der Beschwerdegegner habe sich auch selber in seine Situation gebracht, indem er auf das vorfahrende Fahrzeug aufgefahren ist. Zudem sei es widersprüchlich sich bedrängt zu fühlen und zugleich dann dem nächsten wieder aufzufahren. Das Verhalten sei rücksichtslos (E. 2.2).

Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG i.V.m. Art. 12 Abs. 1 VRV muss man beim Hinternanderfahren genügend Abstand halten. Rücksichtslos verhält sich, wer die Rechtsgüter Dritter bedenkenlos gefährdet bzw. deren Gefährdung gar nicht erst bedenkt, wozu auch grobe Fahrlässigkeit reicht. Besondere Gegenindizien können die Rücksichtslosigkeit ausschliessen (zum Ganzen E. 2.4.3.).

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, allerdings hauptsächlich weil die Vorinstanz ihren Entscheid ungenügend begründete. So war nicht erkennbar, auf welche notwendigen Sachverhaltsfeststellungen die Vorinstanz die Verneinung der Rücksichtslosigkeit stützte. Trotzdem nimmt es auch Stellung zu den vorgebrachten Rügen und stimmt der Staatsanwaltschaft zu. Zur Verkehrslage sagt es, dass zwar dichter Verkehr geherrscht habe, dass dieser aber keine verkürzten Abstände notwendig gemacht hätte. Auch wenn bei hohem Verkehrsaufkommen auf Autobahnen die Abstände oft nicht eingehalten werden, verliert die Abstandsregel nicht automatisch an Gültigkeit. Die Regel ist insb. bei viel Verkehr elementar, um Unfälle zu vermeiden.

Rechtlich gesehen scheint sich die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand auf Autobahnen in naher Zukunft nicht zu ändern, es sei denn diese Sache geht in Runde zwei.

Von der Sonne geblendet

BGE 6B_1318/2019: Fussgänger anfahren ist grds. rücksichtslos

Der Beschwerdeführer wurde ca. 14 Meter vor einem Fussgängerstreifen dermassen von der Sonne geblendet, dass er trotz heruntergeklappter Sonnenblende kaum mehr etwas gesehen hat. Aus diesem Grund hat er einen Fussgänger auf dem Streifen zu spät wahrgenommen. Trotz Vollbremsung hat der Beschwerdeführer den Fussgänger noch touchiert, wodurch dieser umgefallen ist und sich Prellungen zugezogen hat.

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung. Er habe nicht rücksichtslos gehandelt und möchte wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung verurteilt werden.

Zunächst äussert sich das BGer zu den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung (E. 2.3.2) und zur Aufmerksamkeit (E. 2.3.3). Sodann äussert es sich zu den Pflichten, die Autofahrer gegenüber Fussgängern haben. Art. 33 SVG stipuliert, dass vor Fussgängerstreifen besonders vorsichtig zu fahren ist und den Fussgängern der Vortritt zu lassen ist. Dazu muss die Geschwindigkeit gemässigt und nötigenfalls angehalten werden, wobei die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen ist. Der Fahrzeugführer muss insoweit Sicht auf die gesamte Strasse und den Gehsteig in der Nähe des Fussgängerstreifens haben und hat – sofern dies nicht der Fall ist – die Geschwindigkeit so zu verlangsamen, dass er bei überraschend auftauchenden Fussgängern jederzeit anhalten kann (E. 2.3.3).

Die Missachtung des Fussgängervortritts ist i.d.R. sowohl objektiv als auch subjektiv eine schwere Verletzung von Verkehrsregeln. Schon bei geringer Kollisionsgeschwinigkeit können Fussgänger schwer verletzt werden (E. 2.4.2). Der Beschwerdeführer war ortskundig und bremste trotz der blendenden Sonne erst kurz vor dem Fussgängerstreifen. Dass er schon nur ca. 20-30 km/h gefahren sei, nützt ihm nichts, denn innerorts darf die Höchstgeschwindigkeit nur bei günstigen Verhältnissen ausgefahren werden. Wer trotz tiefstehender Sonne seine Geschwindigkeit nicht anpasst bzw. nicht anhält und auf einen Fussgängerstreifen zufährt, der gefährdert Dritte in hohem Masse und erfüllt den obj. Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG (E: 2.4.3). Indem der Beschwerdeführer „nur“ Bremsbereitschaft erstellte und sein Tempo nicht anpasste, handelte er bewusst grobfahrlässig, zumal er als Ortskundiger den Fussgängerstreifen kannte. Damit handelte er rücksichtslos. Der subj. Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG ist damit erfüllt.

Die Beschwerde wird abgewiesen. Die einzigen Fälle, in welchen wohl von einer Rücksichtslosigkeit abgesehen werden kann, sind jene, wo die Fussgänger selber überraschend die Fahrbahn betreten und damit wiederum die Regeln für Fussgänger nicht einhalten.

Rechtswidrige Signalisation

BGE 6B_1439/2019: Stufenweise Herabsetzung von Tempolimiten

Der Beschwerdeführer überschritt auf einer Autostrasse die Höchstgeschwindigkeit von 60km/h um 36km/h und wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er bemängelt die vor Bundesgericht, dass die Signalisation rechtskonform sei und schliesst daraus, dass er nicht rücksichtslos gehandelt habe.

Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die dafür vorauszusetzende Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen. Nach ständiger Rechtsprechung sind die objektiven und grundsätzlich auch die subjektiven Voraussetzungen einer groben Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG ungeachtet der konkreten Umstände zu bejahen, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Autostrassen um 30 km⁠/⁠h oder mehr resp. auf Autobahnen um 35 km⁠/⁠h oder mehr überschritten wird. Diese Vermutung ist anhand aussergewöhnlicher Umstände widerlegbar (E. 1.1).

Das Hauptargument des Beschwerdeführers beruht darauf, dass die Geschwindigkeitslimite auf der von ihm befahrenen Strecke von 100km/h abrupt auf 60km/h reduziert wird. Dies widerspreche aus seiner Sicht Art. 22 Abs. 2 SSV i.V.m. Art. 108 Abs. 5 lit. b SSV. Diese Bestimmungen stipulieren, dass die Höchstgeschwindigkeit grds. stufenweise zu reduzieren ist und dass die Abstufungen 10km/h zu betragen haben. Im Bereich von Baustellen auf Autobahnen z.B. wird das Tempolimit in der Praxis i.d.R. von 120km/h auf 100km/h und dann auf 80km/h redziert. Dies dient der Verkehrssicherheit und soll insb. Auffahrunfälle verhindern. Nach Ansicht der Vorinstanz stellt die fehlende Abstufung allerdings keinen so grossen Mangel dar, als dass die Signalisation nicht beachtet werden müsse. Das Bundesgericht lässt die Frage nach der Rechtmässigkeit der Temporeduktion offen, denn angesichts der Verkehrssituation hätte der Beschwerdeführer sein Tempo sowieso anpassen müssen, was er aber unterliess. Es erachtet den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG als erfüllt (E. 1.5). Da der Beschwerdeführer in den Einvernahmen aussagte, dass er von der Geschwindigkeitstafel wusste, erachtet das Bundesgericht auch den subjektiven Tatbestand als erfüllt, auch wenn der Beschwerdeführer der Ansicht war, dass die Tafel für ihn nicht gelte (E. 1.6).

Gefährliches Überholen

BGE 6B_462/2019: Gefährliches Überholmanöver

In diesem Fall hat sich die Staatsanwaltschaft erfolgreich mit Beschwerde gegen eine zu milde Bestrafung gewehrt.

Der Beschwerdegegner wollte nach dem Hellwald bei Haslen einen vorfahrenden Renault überholen. Bereits auf der Gegenfahrbahn, kam ihm ein Jeep entgegen, sodass der Beschwerdegegner stark abbremste und wieder hinter den Renault auf seine Fahrspur zurückkehrte. Der Jeep seinerseits wich nach rechts aus und fuhr durch einen Zaun auf eine Wiese. Die STA verurteilte den Beschwerdegegner wegen SVG 90 II, wogegen sich der Beschwerdegegner erfolgreich vor den kantonalen Instanzen wehrte, da die subjektive Komponente der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt gewesen sei. Das BGer hingegen heisst die Beschwerde der STA gut:

E. 1.1.1 zur groben Verkehrsregelverletzung:

SVG 90 II setzt objektiv voraus, dass der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit dadurch ernstlich gefährdet wird. Dazu reicht eine erhöht abstrakte Gefährdung. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrsregelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, mind. grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit kommt aber auch in Betracht, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht zieht. Die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung setzt in diesem Fall voraus, dass das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen.

E. 1.1.2 zum Überholen:

Überholen auf Strassen mit Gegenverkehr gehört zu den gefährlichsten Fahrmanövern überhaupt. Nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem Zeitpunkt zurücklegt, an dem der Überholende die linke Strassenseite freigegeben haben wird.

E. 1.2ff. zur Subsumption:

Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Beschwerdegegner nicht rücksichtslos handelte, weil er sein Überholmanöver abbrach, als er das entgegenkommende Fahrzeug sah. Die Vorinstanz bejaht das Vorliegen der objektiven, nicht aber der subjektiven Komponente der groben Verkehrsregelverletzung. Dem widerspricht das BGer ziemlich deutlich. Liegt objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung vor, ist diese grds. auch subjektiv erfüllt. Gegenindizien liegen gerade keine vor. Das Verhalten des Beschwerdegegners muss nicht erst dann berücksichtigt werden, als er das entgegenkommende Fahrzeug sah, sondern als er zum Überholen ansetzte, obwohl er wegen einer Kurve gar nicht sehen konnte, ob er das Manöver gefahrlos zu Ende führen konnte. Dies erachtet das BGer (zu Recht) als krass sorgfaltspflichtwidrig und rücksichtslos.

Die Beschwerde der STA wird gutgeheissen.

So einfach wird das Grobe zum Einfachen

BGE 6B_1324/2017, das Elefantenrennen (gutgh. Beschwerde)

Beschwerdeführer ist LKW-Fahrer und hat einen anderen Brummi auf der Autobahn überholt. Für sein Ausschwenken auf die Überholspur, wodurch ein PKW abbremsen musste, wurde er mit am Ende des kantonalen Instanzenzugs mit grober Verkehrsregelverletzung bestraft. Vor BGer verlangt er eine einfache Verkehrsregelverletzung und erhält Recht.

E. 1. Zur Sistierung des Administrativverfahrens: Der Beschwerdeführer verlangt die Sistierung des Administrativverfahrens, was natürlich im Strafverfahren nicht geht. Allerdings merkt das BGer an, „dass die Verwaltungsbehörde – sofern ein Strafverfahren eingeleitet worden ist – mit dem Erlass einer administrativen Massnahme grundsätzlich zuwarten muss, bis ein rechtskräftiges Strafurteil vorliegt, soweit der Sachverhalt oder die rechtliche Qualifikation des in Frage stehenden Verhaltens für das Verwaltungsverfahren von Bedeutung ist.“

E. 2.1. zur den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung, insb. dass die Rücksichtslosigkeit verneint werden kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen.

E. 2.2 zu den Pflichten des Überholenden

E. 2.4. zur Meinung der Vorinstanz: Diese war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer auf den Spurwechsel hätte verzichten müssen, da er den nachfolgenden PKW im Seitenspiegel gesehen habe und als erfahrener Berufschauffeur um die Geschwindigkeitsdifferenzen von LKW und PKW wissen müsse. Dass er trotzdem überholte und auch den Blinker zu spät setzte, sei als rücksichtslos zu qualifizieren.

E. 2.5. Meinung des BGer: Nach dessen Ansicht handelte der Beschwerdeführer nicht rücksichtslos. Da der PKW relativ nah am LKW fuhr und fast gleichzeitig zum Überholen ausscherte, ist es durchaus denkbar, dass der Beschwerdeführer diesen beim kurzen Sicherheitsblick übersehen hat. Da der PKW auch schon eine gewisse Zeit hinter dem LKW fuhr, musste der Beschwerdeführer nicht damit rechnen, dass der PKW just im gleichen Moment überholen würde.

Fazit: Man muss stets versuchen, die besonderen Umstände zu finden, welche auf das Fehlen von Rücksichtslosigkeit hindeuten.

Vortrittsregel darf nicht aufgeweicht werden

BGE 6B_1300/2016: Spieglein, Spieglein an der Strasse…zum Vortritt (teilw. Gutgeheissene Beschwerde; zur Publikation vorgesehen)

Auf einer Strassenkreuzung im Val de Travers gab es eine heftige Kollision. X. fuhr aus einer nicht vortrittsberechtigten Strasse auf die Kreuzung und kollidierte mit dem Fahrzeug von A. Weil Ersterer keinen Sicherheitsgurt trug, wurde er durch den Unfall dauerhaft querschnittsgelähmt. A. fuhr auf der vortrittsberechtigten Strasse mit 87km/h, obwohl die Tempolimite 60km/h betrug. Zudem schnitt er die Sicherheitslinie. X. verlangt vor BGer einen Freispruch und eventualiter, dass er nur wegen einfacher, nicht aber grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wird.

E. 1.2.1 zum Vortrittsrecht: Auf Kreuzungen gilt der Vortritt grds. auf der ganzen Verkehrsfläche unter dem Vorbehalt abweichender Signale oder Markierungen. Der Vortritt ist missachtet, wenn der Berechtigte seine Fahrweise brüsk ändern muss, z.B. durch plötzliches Bremsen oder Beschleunigen oder wenn er zu einem Ausweichmanöver gezwungen wird. Diese Definition soll aber das Vortrittsrecht nicht aufweichen, dass nach dem BGer als wichtige Verkehrsregel einer klaren und einfachen Anwendung bedarf.

E. 1.2.2 zur Vortrittsbelastung: Der Vortrittsbelastete kann seinen Pflichten nur nachkommen, wenn er die vortrittsberechtigte Strasse in beide Richtungen einsehen kann. Wenn dies nicht der Fall ist, muss sich der Vortrittsbelastete sehr langsam und vorsichtig in die vortrittsberechtigte Strasse hineintasten („très lentement et prudemment“), z.B. wenn die Sicht durch eine Mauer oder eine Hecke beeinträchtigt ist.

E. 1.2.3 zu Spiegeln: Spiegeln im Strassenverkehr dürfen lediglich als Notbehelfe („moyen de fortune“) betrachtet werden. Um eine grösseres Sichtfeld abzudecken, sind die Spiegel meistens konvex. Dies wiederum macht aber das Schätzen von Geschwindigkeit und Distanz von im Spiegel sichtbaren Fahrzeugen äusserst schwierig.

E. 1.2.4 zum Vertrauensgrundsatz: Auf diesen kann sich berufen, wer sich selber regelkonform verhält.

E. 1.3.: Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer das vortrittsberechtigte Fahrzeug im Spiegel sah. Er befand sich deshalb in einer unklaren Situation und hätte das vortrittsberechtige Auto vorbeifahren lassen müssen. Indem er in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche fuhr, hat er die Verkehrsregeln verletzt. Er kann sich auch nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, denn er hatte via Spiegel Sicht auf das vortrittsberechtigte Fahrzeug, tastete sich aber dennoch in die Kantonsstrasse vor.

E. 2. zu SVG 90 II: Das BGer heisst die Beschwerde in diesem Punkt gut. Die objektiv vorausgesetzte ernsthafte Gefährdung liegt zwar vor, die subjektiven Voraussetzungen sind aber in diesem Einzelfall nicht erfüllt. Eine grobe Fahrlässigkeit kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden. Er war ortsunkundig und insb. der Spiegel trug massgeblich zur Falscheinschätzung der Distanz und Geschwindigkeit des Beschwerdeführers bei.

Wenn also an einer Strassen ein Spiegel steht, muss man diesen beachten und darf sich nicht in die vortrittsberechtigte Strasse hineintasten, ansonsten missachtet man den Vortritt. Auch wenn die Folgen einer Vortrittsmissachtung gravierend sein können, so ist ein konvexer Spiegel aber als Gegenindiz zu werten, aufgrund von welchem von einer groben Verkehrsregelverletzung abgesehen werden muss.

Lichthupe rechtfertigt eine Vollbremsung nicht

BGE 6B_359/2017: Lichthupe rechtfertigt eine Vollbremsung nicht

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung und Nötigung. Nach einem Überholmanöver auf der Autobahn wurde der Beschwerdeführer vom überholten und nunmehr auf der Überholspur nachfahrenden Fahrzeug mehrmals per Lichthupe dafür „gerügt“, ein rechtswidriges Überholmanöver durchgeführt zu haben. Durch die Lichthupe und das Fernlicht sah sich der Beschwerdeführer in einem Notstand, worauf er abrupt bis fast zu Stillstand bremste und es zu einer kleinen Auffahrkollision kam. Das BGer verneint einen Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrund und weist die Beschwerde ab.

E. 2.2 zu den Voraussetzungen von SVG 90 II: „Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen (BGE 142 IV 93 E. 3.1 mit Hinweisen).“

E. 2.3: „Gemäss Art. 12 Abs. 2 VRV sind brüskes Bremsen und Halten nur gestattet, wenn kein Fahrzeug folgt und im Notfall.“

E. 2.4 zur Nötigung

E. 3.1: „Dass man durch das Licht respektive durch Fernlicht eines hinter einem fahrenden Personenwagens beim Blick in den (Rück-) Spiegel geblendet wird, ist eine alltägliche, wenn auch unangenehme, Verkehrssituation, die fast jeder Automobilist kennt. Eine normale und verkehrsadäquate Reaktion wäre gewesen, den Winkel des Innenspiegels mit dem extra hierfür angebrachten Hebel zu verstellen (oder nicht mehr in den Rückspiegel zu schauen).“ „Ein bewusstes und abruptes Abbremsen auf der Überholspur bei dicht folgendem Verkehr ist keine nachvollziehbare oder erklärbare Reaktion auf Fernlicht „von hinten.““

E. 3.2. richterlicher Fingerzeig: „Es steht den einzelnen Verkehrsteilnehmern nicht zu, das (Fahr-) Verhalten anderer Automobilisten zu beurteilen und – aus welchen Motiven auch immer – zu sanktionieren oder zu disziplinieren. Das Bremsmanöver auf der Überholspur war höchst gefährlich und begründet erhebliche Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers. Dass Y.________ sich ebenfalls verkehrswidrig und anmassend verhalten hat, ändert hieran nichts. Völlig unverständlich ist zudem, dass die beiden Unfallverursacher eine Vielzahl weiterer Verkehrsteilnehmer gefährdet und behindert haben, indem sie trotz des glimpflichen Auffahrunfalls bis zum Eintreffen der Polizei die Überholspur blockierten, anstatt die Autobahn möglichst schnell und gefahrlos frei zu geben.“

Das BGer rügt den Bremsenden zu Recht und fügt an, dass bei einer Schikanebremsung „erhebliche Zweifel an der Fahreigung“ eines Lenkers bestehen, präjudiziert damit in gewisser Weise das Administrativmassnahmenverfahren, denn bei erheblichen Zweifeln ist durchaus ein vorsorglicher Entzug mit Fahreignungsabklärung angesagt.

Klassisches Rechtsüberholen bleibt SVG 90 II

BGE 6B_558/2017: Klassisches Rechtsüberholen ist SVG 90 II (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer überholt auf der Autobahn einen Autofahrer rechts, indem er ausschwenkt, rechts vorbeifährt und wiedereinbiegt auf die Überholspur. Das BGer bestätigt die Verurteilung wegen SVG 90 II.

E. 1.2. zu den obj. und sub. Voraussetzungen von SVG 90 II u.a.: „Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen (Urteil 6B_1004/2016 vom 14. März 2017 E. 3.2 mit Hinweis).“

E. 1.3. zum Rechtsüberholverbot

E. 1.5. zur Subsumption: „Wie dargelegt, ist grundsätzlich von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Vorliegend sind keine Gründe ersichtlich, die das Verhalten des Beschwerdeführers subjektiv weniger schwer erscheinen liessen.“