Das mildere Recht(süberholen)

Urteil 6B_231/2022: Ist das nicht eine Ordnungsbusse?

Per 1. Januar 2021 wurden die Regeln zum Rechtsüberholen geändert. Rechtsvorbeifahren wurde entkriminalisiert. Rechtsüberholen ist hingegen weiterhin verboten und wird mit einer Ordnungsbusse geahndet. So steht es auf der Internetseite des ASTRA. Mit dieser Gesetzesänderung sollte nach dem infamosen BGE 142 IV 93 Rechtsklarheit geschaffen werden (vgl. dazu die Erläuterungen des ASTRA vom 10.12.2019). Der Entscheid befasst sich mit der Frage, ob das neue mildere Recht auf altrechtliche Sachverhalte angewendet werden muss.

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, im Juli 2019 auf der Autobahn vier Fahrzeuge rechts überholt zu haben, durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen. Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass seine Widerhandlung nach dem neuen Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV hätte beurteilt werden müssen.

Art. 2 Abs. 2 StGB beinhaltet den Grundsatz der lex mitior. Hat ein Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen, so wird er nach neuen Recht beurteilt, wenn es für ihn milder ist. Ob das neue Recht milder ist, muss anhand des Einzelfalles geprüft werden (sog. Grundsatz der konkreten Vergleichsmethode). Das Gericht muss die Widerhandlung nach altem und neuem Recht beurteilen und danach vergleichen, nach welchem der Rechte der Täter besser gestellt ist. Die Bestimmung der Rechtslage erfolgt nach objektiven Gesichtspunkten. Steht fest, dass die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens unter neuem Recht fortbesteht, muss in einem zweiten Schritt der Strafrahmen verglichen werden (E. 2.1). Die Vorinstanz erwägt, dass das klassische Rechtsüberholmanöver nach wie vor verboten ist. Zudem gilt der Grundsatz der „lex mitior“ nicht ausnahmslos. Er greift nur, wenn in der neuen Regelung eine andere ethische Wertung zum Ausdruck kommt, nicht jedoch bei Änderungen aus Gründen der Zweckmässigkeit. Zwar kann das klassische Rechtsüberholen unter dem neuen Recht nunmehr mit einer Ordnungsbusse von CHF 250 bestraft werden. Allerdings konnte auch unter dem alten Recht das Rechtsüberholen als einfache Verkehrsregelverletzung geahndet werden. Eine Qualifizierung als grobe Verkehrsregelverletzung ist auch unter dem neuen Recht möglich, denn eine Ordnungsbusse kann gemäss Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG nicht ausgesprochen werden, wenn durch die Widerhandlung jemand erhöht abstrakt gefährdet wurde (E. 2.2).

Daraus folgert das Bundesgericht, dass zwar eine mildere Bestrafung von Rechtsüberholen möglich ist, dass aber der Grundsatz der lex mitior keine Anwendung findet, weil das Rechtsüberholen nach wie vor als (grobe) Verkehrsregelverletzung geähndet werden kann (E. 2.3).

Danach setzt sich das Bundesgericht mit der Qualifikation des Rechtsüberholens als grobe Verkehrsregelverletzung auseinander. Ausführlich geht es dabei auf seine gefestigte Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung und des Rechtsüberholens ein. Es bestätigt die Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer sowohl eine ernstliche Gefahr geschaffen hat und rücksichtslos handelte. Erwähnenswert ist, dass das Bundesgericht eine Publikation des Rechtsvertreters erwähnt, in welcher dieser das Bundesgericht einer „evidenzignoranten Rechtsprechung“ bezichtigt. Nach Ansicht des Rechtsvertreters habe der Bundesrat der „blinden Justitia“ durch Änderungen der Verordnung die „längst erhärtete Differenzierungsnotwendigkeit“ zwischen Überholen/Vorbeifahren auf Autobahnen gegenüber anderen Strassenarten verordnet. Diese Kritik nimmt das Bundesgericht zwar zur Kenntnis. Es hält aber an seiner Praxis fest, wonach ein Rechtsüberholmanöver eine erhebliche Unfallgefahr nach sich ziehe. Wird eine Person rechts überholt, reiche deren Reaktion von Erschrecken bis zu ungeplanten Manövern. Rechtsüberholen führt damit grds. zu einer erhöht abstrakten Gefährdung.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Vorsicht Meinung: Die Änderung der Rechtslage sollte eigentlich nach dem Willen des Gesetzgebers zu einfacheren, klaren Verkehrsregeln führen, damit sich Verkehrsteilnehmer danach richten können. Mit diesem Urteil wird die Thematik um das Rechtsüberholen aber wieder „schwammiger“. So stellt sich z.B. die Frage, ob der Ordnungsbussentatbestand „Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen auf Autobahnen und Autostrassen mit mehreren Fahrstreifen“ (vgl. Anhang 1 Ziff. 314.3 OBV) überhaupt je angewendet werden kann, wenn dem Rechtsüberholen nach Ansicht des Bundesgerichts stets eine erhöht abstrakte Gefahr inhärent ist. Zudem widerspricht dieses Urteil der oben verlinkten Medienmitteilung des ASTRA bis zu einem gewissen Grad, wonach das klassische Rechtsüberholen mit einer Ordnungsbusse bestraft wird. Immerhin wird es uns nicht langweilig…

Keine Änderung beim Abstand

BGE 6B_164/2020: Keine denkbaren Gegenindizien (gutgh. Beschw.)

Zwar kein bahnbrechendes Urteil, aber es ist dennoch interessant, dass auf kantonaler Ebene die faktischen Probleme beim Abstand mehr und mehr beachtet werden.

Der Beschwerdegegner wurde mit Strafbefehl wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er auf der Autobahn über eine Strecke von 500m zeitweise nur einen Abstand von 0.48s hatte. Die obere kantonale Instanz hiess die dagegen erhobene Berufung gut und verurteilte den Beschwerdegegner wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, weil der subj. Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht erfüllt sei. Die Staatsanwaltschaft führt dagegen erfolgreich Beschwerde.

Die Vorinstanz führte aus dass der obj. Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung erfüllt sei. Zum subj. Tatbestand hingegen legte sie diverse Einzelfallumstände zugunsten des Beschwerdegegners aus. So habe sich dieser durch das nachfolgende Polizeiauto bedrängt gefühlt. Ebenso herrschte hohes Verkehrsaufkommen, wobei es unter solchen Umständen naturgemäss als faktisch deutlich erschwert erscheine die Abstandsvorschriften einzuhalten. Die Abstandsunterschreitung dauerte nur wenige Sekunden. Ein rücksichtsloses Verhalten liege nicht vor (E. 2.1). Die Beschwerdeführerin entgegner dazu, dass das hohe Verkehrsaufkommen eben nicht zugunsten des Beschwerdegegners ausgelegt werden könne, denn gerade bei hohem Verkehrsaufkommen drohen auch schwere Unfälle. Der Beschwerdegegner habe sich auch selber in seine Situation gebracht, indem er auf das vorfahrende Fahrzeug aufgefahren ist. Zudem sei es widersprüchlich sich bedrängt zu fühlen und zugleich dann dem nächsten wieder aufzufahren. Das Verhalten sei rücksichtslos (E. 2.2).

Gemäss Art. 34 Abs. 4 SVG i.V.m. Art. 12 Abs. 1 VRV muss man beim Hinternanderfahren genügend Abstand halten. Rücksichtslos verhält sich, wer die Rechtsgüter Dritter bedenkenlos gefährdet bzw. deren Gefährdung gar nicht erst bedenkt, wozu auch grobe Fahrlässigkeit reicht. Besondere Gegenindizien können die Rücksichtslosigkeit ausschliessen (zum Ganzen E. 2.4.3.).

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, allerdings hauptsächlich weil die Vorinstanz ihren Entscheid ungenügend begründete. So war nicht erkennbar, auf welche notwendigen Sachverhaltsfeststellungen die Vorinstanz die Verneinung der Rücksichtslosigkeit stützte. Trotzdem nimmt es auch Stellung zu den vorgebrachten Rügen und stimmt der Staatsanwaltschaft zu. Zur Verkehrslage sagt es, dass zwar dichter Verkehr geherrscht habe, dass dieser aber keine verkürzten Abstände notwendig gemacht hätte. Auch wenn bei hohem Verkehrsaufkommen auf Autobahnen die Abstände oft nicht eingehalten werden, verliert die Abstandsregel nicht automatisch an Gültigkeit. Die Regel ist insb. bei viel Verkehr elementar, um Unfälle zu vermeiden.

Rechtlich gesehen scheint sich die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand auf Autobahnen in naher Zukunft nicht zu ändern, es sei denn diese Sache geht in Runde zwei.

Von der Sonne geblendet

BGE 6B_1318/2019: Fussgänger anfahren ist grds. rücksichtslos

Der Beschwerdeführer wurde ca. 14 Meter vor einem Fussgängerstreifen dermassen von der Sonne geblendet, dass er trotz heruntergeklappter Sonnenblende kaum mehr etwas gesehen hat. Aus diesem Grund hat er einen Fussgänger auf dem Streifen zu spät wahrgenommen. Trotz Vollbremsung hat der Beschwerdeführer den Fussgänger noch touchiert, wodurch dieser umgefallen ist und sich Prellungen zugezogen hat.

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung. Er habe nicht rücksichtslos gehandelt und möchte wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung verurteilt werden.

Zunächst äussert sich das BGer zu den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung (E. 2.3.2) und zur Aufmerksamkeit (E. 2.3.3). Sodann äussert es sich zu den Pflichten, die Autofahrer gegenüber Fussgängern haben. Art. 33 SVG stipuliert, dass vor Fussgängerstreifen besonders vorsichtig zu fahren ist und den Fussgängern der Vortritt zu lassen ist. Dazu muss die Geschwindigkeit gemässigt und nötigenfalls angehalten werden, wobei die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen ist. Der Fahrzeugführer muss insoweit Sicht auf die gesamte Strasse und den Gehsteig in der Nähe des Fussgängerstreifens haben und hat – sofern dies nicht der Fall ist – die Geschwindigkeit so zu verlangsamen, dass er bei überraschend auftauchenden Fussgängern jederzeit anhalten kann (E. 2.3.3).

Die Missachtung des Fussgängervortritts ist i.d.R. sowohl objektiv als auch subjektiv eine schwere Verletzung von Verkehrsregeln. Schon bei geringer Kollisionsgeschwinigkeit können Fussgänger schwer verletzt werden (E. 2.4.2). Der Beschwerdeführer war ortskundig und bremste trotz der blendenden Sonne erst kurz vor dem Fussgängerstreifen. Dass er schon nur ca. 20-30 km/h gefahren sei, nützt ihm nichts, denn innerorts darf die Höchstgeschwindigkeit nur bei günstigen Verhältnissen ausgefahren werden. Wer trotz tiefstehender Sonne seine Geschwindigkeit nicht anpasst bzw. nicht anhält und auf einen Fussgängerstreifen zufährt, der gefährdert Dritte in hohem Masse und erfüllt den obj. Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG (E: 2.4.3). Indem der Beschwerdeführer „nur“ Bremsbereitschaft erstellte und sein Tempo nicht anpasste, handelte er bewusst grobfahrlässig, zumal er als Ortskundiger den Fussgängerstreifen kannte. Damit handelte er rücksichtslos. Der subj. Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG ist damit erfüllt.

Die Beschwerde wird abgewiesen. Die einzigen Fälle, in welchen wohl von einer Rücksichtslosigkeit abgesehen werden kann, sind jene, wo die Fussgänger selber überraschend die Fahrbahn betreten und damit wiederum die Regeln für Fussgänger nicht einhalten.

Rechtswidrige Signalisation

BGE 6B_1439/2019: Stufenweise Herabsetzung von Tempolimiten

Der Beschwerdeführer überschritt auf einer Autostrasse die Höchstgeschwindigkeit von 60km/h um 36km/h und wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er bemängelt die vor Bundesgericht, dass die Signalisation rechtskonform sei und schliesst daraus, dass er nicht rücksichtslos gehandelt habe.

Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die dafür vorauszusetzende Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen. Nach ständiger Rechtsprechung sind die objektiven und grundsätzlich auch die subjektiven Voraussetzungen einer groben Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG ungeachtet der konkreten Umstände zu bejahen, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Autostrassen um 30 km⁠/⁠h oder mehr resp. auf Autobahnen um 35 km⁠/⁠h oder mehr überschritten wird. Diese Vermutung ist anhand aussergewöhnlicher Umstände widerlegbar (E. 1.1).

Das Hauptargument des Beschwerdeführers beruht darauf, dass die Geschwindigkeitslimite auf der von ihm befahrenen Strecke von 100km/h abrupt auf 60km/h reduziert wird. Dies widerspreche aus seiner Sicht Art. 22 Abs. 2 SSV i.V.m. Art. 108 Abs. 5 lit. b SSV. Diese Bestimmungen stipulieren, dass die Höchstgeschwindigkeit grds. stufenweise zu reduzieren ist und dass die Abstufungen 10km/h zu betragen haben. Im Bereich von Baustellen auf Autobahnen z.B. wird das Tempolimit in der Praxis i.d.R. von 120km/h auf 100km/h und dann auf 80km/h redziert. Dies dient der Verkehrssicherheit und soll insb. Auffahrunfälle verhindern. Nach Ansicht der Vorinstanz stellt die fehlende Abstufung allerdings keinen so grossen Mangel dar, als dass die Signalisation nicht beachtet werden müsse. Das Bundesgericht lässt die Frage nach der Rechtmässigkeit der Temporeduktion offen, denn angesichts der Verkehrssituation hätte der Beschwerdeführer sein Tempo sowieso anpassen müssen, was er aber unterliess. Es erachtet den objektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG als erfüllt (E. 1.5). Da der Beschwerdeführer in den Einvernahmen aussagte, dass er von der Geschwindigkeitstafel wusste, erachtet das Bundesgericht auch den subjektiven Tatbestand als erfüllt, auch wenn der Beschwerdeführer der Ansicht war, dass die Tafel für ihn nicht gelte (E. 1.6).

Gefährliches Überholen

BGE 6B_462/2019: Gefährliches Überholmanöver

In diesem Fall hat sich die Staatsanwaltschaft erfolgreich mit Beschwerde gegen eine zu milde Bestrafung gewehrt.

Der Beschwerdegegner wollte nach dem Hellwald bei Haslen einen vorfahrenden Renault überholen. Bereits auf der Gegenfahrbahn, kam ihm ein Jeep entgegen, sodass der Beschwerdegegner stark abbremste und wieder hinter den Renault auf seine Fahrspur zurückkehrte. Der Jeep seinerseits wich nach rechts aus und fuhr durch einen Zaun auf eine Wiese. Die STA verurteilte den Beschwerdegegner wegen SVG 90 II, wogegen sich der Beschwerdegegner erfolgreich vor den kantonalen Instanzen wehrte, da die subjektive Komponente der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt gewesen sei. Das BGer hingegen heisst die Beschwerde der STA gut:

E. 1.1.1 zur groben Verkehrsregelverletzung:

SVG 90 II setzt objektiv voraus, dass der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit dadurch ernstlich gefährdet wird. Dazu reicht eine erhöht abstrakte Gefährdung. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrsregelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, mind. grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit kommt aber auch in Betracht, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht zieht. Die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung setzt in diesem Fall voraus, dass das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen.

E. 1.1.2 zum Überholen:

Überholen auf Strassen mit Gegenverkehr gehört zu den gefährlichsten Fahrmanövern überhaupt. Nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem Zeitpunkt zurücklegt, an dem der Überholende die linke Strassenseite freigegeben haben wird.

E. 1.2ff. zur Subsumption:

Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Beschwerdegegner nicht rücksichtslos handelte, weil er sein Überholmanöver abbrach, als er das entgegenkommende Fahrzeug sah. Die Vorinstanz bejaht das Vorliegen der objektiven, nicht aber der subjektiven Komponente der groben Verkehrsregelverletzung. Dem widerspricht das BGer ziemlich deutlich. Liegt objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung vor, ist diese grds. auch subjektiv erfüllt. Gegenindizien liegen gerade keine vor. Das Verhalten des Beschwerdegegners muss nicht erst dann berücksichtigt werden, als er das entgegenkommende Fahrzeug sah, sondern als er zum Überholen ansetzte, obwohl er wegen einer Kurve gar nicht sehen konnte, ob er das Manöver gefahrlos zu Ende führen konnte. Dies erachtet das BGer (zu Recht) als krass sorgfaltspflichtwidrig und rücksichtslos.

Die Beschwerde der STA wird gutgeheissen.

So einfach wird das Grobe zum Einfachen

BGE 6B_1324/2017, das Elefantenrennen (gutgh. Beschwerde)

Beschwerdeführer ist LKW-Fahrer und hat einen anderen Brummi auf der Autobahn überholt. Für sein Ausschwenken auf die Überholspur, wodurch ein PKW abbremsen musste, wurde er mit am Ende des kantonalen Instanzenzugs mit grober Verkehrsregelverletzung bestraft. Vor BGer verlangt er eine einfache Verkehrsregelverletzung und erhält Recht.

E. 1. Zur Sistierung des Administrativverfahrens: Der Beschwerdeführer verlangt die Sistierung des Administrativverfahrens, was natürlich im Strafverfahren nicht geht. Allerdings merkt das BGer an, „dass die Verwaltungsbehörde – sofern ein Strafverfahren eingeleitet worden ist – mit dem Erlass einer administrativen Massnahme grundsätzlich zuwarten muss, bis ein rechtskräftiges Strafurteil vorliegt, soweit der Sachverhalt oder die rechtliche Qualifikation des in Frage stehenden Verhaltens für das Verwaltungsverfahren von Bedeutung ist.“

E. 2.1. zur den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung, insb. dass die Rücksichtslosigkeit verneint werden kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen.

E. 2.2 zu den Pflichten des Überholenden

E. 2.4. zur Meinung der Vorinstanz: Diese war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer auf den Spurwechsel hätte verzichten müssen, da er den nachfolgenden PKW im Seitenspiegel gesehen habe und als erfahrener Berufschauffeur um die Geschwindigkeitsdifferenzen von LKW und PKW wissen müsse. Dass er trotzdem überholte und auch den Blinker zu spät setzte, sei als rücksichtslos zu qualifizieren.

E. 2.5. Meinung des BGer: Nach dessen Ansicht handelte der Beschwerdeführer nicht rücksichtslos. Da der PKW relativ nah am LKW fuhr und fast gleichzeitig zum Überholen ausscherte, ist es durchaus denkbar, dass der Beschwerdeführer diesen beim kurzen Sicherheitsblick übersehen hat. Da der PKW auch schon eine gewisse Zeit hinter dem LKW fuhr, musste der Beschwerdeführer nicht damit rechnen, dass der PKW just im gleichen Moment überholen würde.

Fazit: Man muss stets versuchen, die besonderen Umstände zu finden, welche auf das Fehlen von Rücksichtslosigkeit hindeuten.

Vortrittsregel darf nicht aufgeweicht werden

BGE 6B_1300/2016: Spieglein, Spieglein an der Strasse…zum Vortritt (teilw. Gutgeheissene Beschwerde; zur Publikation vorgesehen)

Auf einer Strassenkreuzung im Val de Travers gab es eine heftige Kollision. X. fuhr aus einer nicht vortrittsberechtigten Strasse auf die Kreuzung und kollidierte mit dem Fahrzeug von A. Weil Ersterer keinen Sicherheitsgurt trug, wurde er durch den Unfall dauerhaft querschnittsgelähmt. A. fuhr auf der vortrittsberechtigten Strasse mit 87km/h, obwohl die Tempolimite 60km/h betrug. Zudem schnitt er die Sicherheitslinie. X. verlangt vor BGer einen Freispruch und eventualiter, dass er nur wegen einfacher, nicht aber grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wird.

E. 1.2.1 zum Vortrittsrecht: Auf Kreuzungen gilt der Vortritt grds. auf der ganzen Verkehrsfläche unter dem Vorbehalt abweichender Signale oder Markierungen. Der Vortritt ist missachtet, wenn der Berechtigte seine Fahrweise brüsk ändern muss, z.B. durch plötzliches Bremsen oder Beschleunigen oder wenn er zu einem Ausweichmanöver gezwungen wird. Diese Definition soll aber das Vortrittsrecht nicht aufweichen, dass nach dem BGer als wichtige Verkehrsregel einer klaren und einfachen Anwendung bedarf.

E. 1.2.2 zur Vortrittsbelastung: Der Vortrittsbelastete kann seinen Pflichten nur nachkommen, wenn er die vortrittsberechtigte Strasse in beide Richtungen einsehen kann. Wenn dies nicht der Fall ist, muss sich der Vortrittsbelastete sehr langsam und vorsichtig in die vortrittsberechtigte Strasse hineintasten („très lentement et prudemment“), z.B. wenn die Sicht durch eine Mauer oder eine Hecke beeinträchtigt ist.

E. 1.2.3 zu Spiegeln: Spiegeln im Strassenverkehr dürfen lediglich als Notbehelfe („moyen de fortune“) betrachtet werden. Um eine grösseres Sichtfeld abzudecken, sind die Spiegel meistens konvex. Dies wiederum macht aber das Schätzen von Geschwindigkeit und Distanz von im Spiegel sichtbaren Fahrzeugen äusserst schwierig.

E. 1.2.4 zum Vertrauensgrundsatz: Auf diesen kann sich berufen, wer sich selber regelkonform verhält.

E. 1.3.: Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer das vortrittsberechtigte Fahrzeug im Spiegel sah. Er befand sich deshalb in einer unklaren Situation und hätte das vortrittsberechtige Auto vorbeifahren lassen müssen. Indem er in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche fuhr, hat er die Verkehrsregeln verletzt. Er kann sich auch nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, denn er hatte via Spiegel Sicht auf das vortrittsberechtigte Fahrzeug, tastete sich aber dennoch in die Kantonsstrasse vor.

E. 2. zu SVG 90 II: Das BGer heisst die Beschwerde in diesem Punkt gut. Die objektiv vorausgesetzte ernsthafte Gefährdung liegt zwar vor, die subjektiven Voraussetzungen sind aber in diesem Einzelfall nicht erfüllt. Eine grobe Fahrlässigkeit kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden. Er war ortsunkundig und insb. der Spiegel trug massgeblich zur Falscheinschätzung der Distanz und Geschwindigkeit des Beschwerdeführers bei.

Wenn also an einer Strassen ein Spiegel steht, muss man diesen beachten und darf sich nicht in die vortrittsberechtigte Strasse hineintasten, ansonsten missachtet man den Vortritt. Auch wenn die Folgen einer Vortrittsmissachtung gravierend sein können, so ist ein konvexer Spiegel aber als Gegenindiz zu werten, aufgrund von welchem von einer groben Verkehrsregelverletzung abgesehen werden muss.

Lichthupe rechtfertigt eine Vollbremsung nicht

BGE 6B_359/2017: Lichthupe rechtfertigt eine Vollbremsung nicht

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung und Nötigung. Nach einem Überholmanöver auf der Autobahn wurde der Beschwerdeführer vom überholten und nunmehr auf der Überholspur nachfahrenden Fahrzeug mehrmals per Lichthupe dafür „gerügt“, ein rechtswidriges Überholmanöver durchgeführt zu haben. Durch die Lichthupe und das Fernlicht sah sich der Beschwerdeführer in einem Notstand, worauf er abrupt bis fast zu Stillstand bremste und es zu einer kleinen Auffahrkollision kam. Das BGer verneint einen Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrund und weist die Beschwerde ab.

E. 2.2 zu den Voraussetzungen von SVG 90 II: „Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen (BGE 142 IV 93 E. 3.1 mit Hinweisen).“

E. 2.3: „Gemäss Art. 12 Abs. 2 VRV sind brüskes Bremsen und Halten nur gestattet, wenn kein Fahrzeug folgt und im Notfall.“

E. 2.4 zur Nötigung

E. 3.1: „Dass man durch das Licht respektive durch Fernlicht eines hinter einem fahrenden Personenwagens beim Blick in den (Rück-) Spiegel geblendet wird, ist eine alltägliche, wenn auch unangenehme, Verkehrssituation, die fast jeder Automobilist kennt. Eine normale und verkehrsadäquate Reaktion wäre gewesen, den Winkel des Innenspiegels mit dem extra hierfür angebrachten Hebel zu verstellen (oder nicht mehr in den Rückspiegel zu schauen).“ „Ein bewusstes und abruptes Abbremsen auf der Überholspur bei dicht folgendem Verkehr ist keine nachvollziehbare oder erklärbare Reaktion auf Fernlicht „von hinten.““

E. 3.2. richterlicher Fingerzeig: „Es steht den einzelnen Verkehrsteilnehmern nicht zu, das (Fahr-) Verhalten anderer Automobilisten zu beurteilen und – aus welchen Motiven auch immer – zu sanktionieren oder zu disziplinieren. Das Bremsmanöver auf der Überholspur war höchst gefährlich und begründet erhebliche Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers. Dass Y.________ sich ebenfalls verkehrswidrig und anmassend verhalten hat, ändert hieran nichts. Völlig unverständlich ist zudem, dass die beiden Unfallverursacher eine Vielzahl weiterer Verkehrsteilnehmer gefährdet und behindert haben, indem sie trotz des glimpflichen Auffahrunfalls bis zum Eintreffen der Polizei die Überholspur blockierten, anstatt die Autobahn möglichst schnell und gefahrlos frei zu geben.“

Das BGer rügt den Bremsenden zu Recht und fügt an, dass bei einer Schikanebremsung „erhebliche Zweifel an der Fahreigung“ eines Lenkers bestehen, präjudiziert damit in gewisser Weise das Administrativmassnahmenverfahren, denn bei erheblichen Zweifeln ist durchaus ein vorsorglicher Entzug mit Fahreignungsabklärung angesagt.

Klassisches Rechtsüberholen bleibt SVG 90 II

BGE 6B_558/2017: Klassisches Rechtsüberholen ist SVG 90 II (Bestätigung Rechtsprechung)

Der Beschwerdeführer überholt auf der Autobahn einen Autofahrer rechts, indem er ausschwenkt, rechts vorbeifährt und wiedereinbiegt auf die Überholspur. Das BGer bestätigt die Verurteilung wegen SVG 90 II.

E. 1.2. zu den obj. und sub. Voraussetzungen von SVG 90 II u.a.: „Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen (Urteil 6B_1004/2016 vom 14. März 2017 E. 3.2 mit Hinweis).“

E. 1.3. zum Rechtsüberholverbot

E. 1.5. zur Subsumption: „Wie dargelegt, ist grundsätzlich von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Vorliegend sind keine Gründe ersichtlich, die das Verhalten des Beschwerdeführers subjektiv weniger schwer erscheinen liessen.“

 

Missachtung Gelblicht bei einspuriger Baustelle

BGE 6B_1416/2016: Die einspurige Baustelle

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verurteilung für eine grobe Verkehrsregelverletzung. Auf einer zweispurigen Strassen überholt er bei der Ampelanlage das vorfahrende Fahrzeug und fährt bei Gelb in die einspurige Baustelle, wo er – je nach Version – anhalten musste wegen dem Gegenverkehr bzw. einer Beschädigung an seinem Fahrzeug. Das BGer weist die Beschwerde ab.

E. 1.2.2 zu den subjektiven und objektiven Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung.

E. 1.2.3 zum Gelblicht: „Gelbes Licht bedeutet, wenn es auf das grüne Licht folgt: „Halt“ für alle Fahrzeuge, die noch vor der Verzweigung halten können (Art. 68 Abs. 4 lit. a der Signalisationsverordnung vom 5. September 1979 [SSV; SR 741.21]). Das Beachten von Lichtsignalen, insbesondere des Gelblichts, gehört zu den elementarsten Pflichten, die ein Fahrzeuglenker zu befolgen hat. Ein Gelblicht, das bei einer Anhaltemöglichkeit vor der Ampel unbedingt „Halt“ gebietet, zählt zudem zu den auffälligsten, die Sicherheit im Strassenverkehr gewährleistenden Verkehrszeichen überhaupt. Wer trotz ausreichender Möglichkeit, während der Gelbphase anzuhalten, mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfährt, der handelt rücksichtslos und grobfahrlässig im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG, auch wenn er hofft, noch vor dem Umschalten auf Rot an der Ampel vorbeizukommen. Denn er muss sich bewusst sein, dass er sich noch während der Rotphase auf der Kreuzung befinden wird, was stets mit einem erheblichen Risiko für das Leben und die Gesundheit seiner Mitmenschen verbunden ist (BGE 123 IV 88 E. 4a und 4c mit Hinweisen).“

E. 1.4.1 zur subjektiven Kompnente: „Es erscheint gar als besonders rücksichtslos, dass er vor der Vorbeifahrt am ihm unmissverständlich „Halt“ gebietenden Gelblicht noch ein vorschriftsmässig anhaltendes Fahrzeug überholte, um überhaupt auf die Baustellenpassage zu gelangen. Gleiches gilt für den Umstand, dass er anschliessend auf 50 km/h beschleunigte, während die Kolonne vor ihm lediglich mit 30 km/h unterwegs war. Die reduzierte Geschwindigkeit war der Situation offensichtlich angemessenen, zumal im Baustellenbereich allgemein besonders vorsichtiges und aufmerksames Fahren angezeigt ist (Urteil 1C_50/2017 vom 16. Mai 2017 E. 4.3).“