Von ausländischen Agenten… und weiteren spannenden Urteilen

Der letzte Post liegt schon eine Weile zurück. Zeit, um sich einigen spannenden, verkehrsbezogenen Urteilen zu widmen. Dabei gibt sogar mal einen Ausreisser, wobei wir uns damit befassen, ob tatsächlich ausländische Agenten ihr Unwesen in der Schweiz trieben. Zum Glück ging es dabei „nur“ um die Durchsetzung von ausländischen Verkehrsbussen. Trotzdem ist die Frage interessant, ob das Inkasso ausländischer Verkehrsbussen als Handlung für einen fremnden Staat i.S.v. Art. 271 StGB gilt.

Urteil 7B_686/2023: Von italienischen Touristenfallen und Verkehrsbussen (gutgh. Beschwerde)

Italien, Ferienziel von tausenden von Schweizerinnen und Schweizern jedes Jahr. Die Sehnsucht nach mediterranem Gaumenschmaus, nach geschichtsträchtigen Innenstädtchen mit engen Gassen und das kristallklare Wasser des Mittelmeers locken jährlich viele Landsleute in unseren südlichen Nachbarn. Die Nähe macht es umso verlockender, die dortigen Ferien auf vier Rädern zu verbringen. Ein Roadtrip entlang der ligurischen Küste, durch die pittoresken Hügel der Toskana, oder gleich richtig in den Süden an die verlassenen Strände Kalabriens – für romantische Ferien muss man gar nicht weit fliegen. Und auch nicht weit sind die klassischen Touristenfallen: Wem fällt schon auf, dass man auf der Suche nach dem Hotel in eine „verkehrsberuhigte Zone“ fährt. Die Bussen fallen dann auch schnell saftig aus. Mit bis zu EUR 200 muss man rechnen. Bezahlte man die italienische Busse nicht, erhielt man plötzlich Schreiben oder Zahlungserinnerungen von inländischen Inkassobüros. Aber halt! Dürfen die das überhaupt? Muss dafür nicht der Weg der Rechtshilfe beschritten werden? Auf jedenfall betrachtete das BJ diese Praxis als illegal (vgl. Artikel auf 20min.ch vom April 2009). Die Bundesanwaltschaft sah dies ebenfalls so und erliess gegen zwei Personen einer in Chur ansässigen Inkassofirma einen Strafbefehl mit Schuldspruch wegen mehrfacher verbotener Handlung für einen fremden Staat gemäss Art. 271 Ziff. 1 StGB. Doch ist dieser Straftatbestand erfüllt?

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Bereits in Urteil 7B_72/73/2023 hatte das Bundesgericht einen ähnlich gelagerten Fall zu behandeln. Dort ging es um eine Inkassofirma im Waadtland, die ebenfalls im Auftrag von italienischen Behörden italienische Verkehrsbussen in der Schweiz eintrieb. In diesem Verfahren wurde die Beschwerde der Betroffenen gutgeheissen, weil ein Schuldspruch gegen den Grundsatz von „nulla poena sine lege“ verstiess.

In die gleiche Richtung geht auch dieses Urteil. Der Straftatbestand von Art. 271 StGB sanktioniert die Ausübung fremder Staatsgewalt auf dem Territorium der Schweiz. Das geschützte Rechtsgut ist die staatliche Souveränität der Schweiz. Entscheidend für die Erfüllung des Tatbestandes ist, ob die Tathandlung amtlichen Charakter hat und geeignet ist, die staatliche Herrschaftssphäre der Schweiz zu gefährden. Wurden solche Handlungen – z.B. durch einen Staatsvertrag – bewilligt, ist der Tatbestand nicht erfüllt (E. 2.1). Im Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip streng angewendet. Ohne Gesetz gibt es auch keine Strafe (E. 2.2).

Mit Bezug auf das Urteil 7B_72/73/2023 schliesst das Bundesgericht: „Handlungen, die auf schweizerischem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem internationalen Rechtshilferecht – sei es in Zivil- Straf- oder Verwaltungsrechtssachen – ausgeführt würden, gälten ipso facto als „bewilligt “ im Sinne von Art. 271 Ziff. 1 StGB. Ob die Zustellung von Schreiben, mit welchen die Adressaten zur Bezahlung italienischer Bussengelder aufgefordert werden, nach internationalem Rechtshilferecht zulässig sei, scheine nicht restlos klar. Dies hänge davon ab, ob die Schreiben als direkte Zustellung eines italienischen Urteils über eine Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (vgl. Art. 68 Abs. 2 des Rechtshilfegesetzes vom 20. März 1981 [IRSG; SR 351.1] i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Rechtshilfeverordnung vom 24. Februar 1982 [IRSV; SR 351.11], siehe auch Art. XII Ziff. 1 des Vertrags zwischen der Schweiz und Italien vom 10. September 1998 zur Ergänzung des EUeR und zur Erleichterung seiner Anwendung [SR 0.351.945.41]) oder als – in der Schweiz verbotene – direkte Vollstreckung eines solchen Urteils (Exequatur, vgl. Art. 94 ff. IRSG) zu betrachten seien. In Ermangelung einer hinreichend klaren Antwort im internationalen Rechtshilferecht sei es für die Rechtsunterworfenen nicht möglich, die Folgen ihres Verhaltens mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen“.

Aufgrund dieser undurchsichtigen Rechtslage schliesst das Bundesgericht, dass der Schuldspruch das Legalitätsprinzip verletzte. Der Rest des Urteils befasst sich mit den Kostenfolgen.

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn das Bundesgericht als höchste Instanz nicht nur festgestellt hätte, dass hier eine unklare Rechtslage herrscht, sondern wenn es diese auch gleich entflechtet und Klarheit geschaffen hätte. Für Betroffene ist dieser Entscheid unbefriedigend. Jedes Erinnerungsschreiben von Inkassobüros wird oft auch mit „Umtriebskosten“ verbunden und natürlich mit der latenten Drohung einer Betreibung. Aus diesem Grund wäre es nach der hier vertretenen Meinung und auch aus Bürgersicht unabdingbar gewesen, dass das Bundesgericht dieser Praxis der Eintreibung ausländischer Bussen durch private Inkassofirmen einen klaren Riegel geschoben hätte. Es gibt ja schliesslich den Weg der Rechtshilfe, sofern keine Staatsverträge etwas anderes regeln.


Urteil 7B_654/2024: Kampf um CHF 298.00 (gutgh. Beschwerde)

Da SVG-Strafverfahren auch immer auf der „Ladefläche“ des Strafprozessrechts „mitfahren“, widmen wir uns ab und zu auch strafprozessualen Themen. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob nur der die Strafverteidigung gemäss Art. 429 Abs. 3 StPO legitimiert ist, eine Beschwerde gegen einen Entschädigungsentscheid zu erheben, oder eben auch die betroffene Person.

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Im vorliegenden Fall wurde ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen eine COVID-Verordnung eingestellt. Eine Entschädigung wurde nicht zugesprochen, obwohl der Strafverteidiger eine Kostennote von CHF 289.00 einreichte. Das Obergericht ZH trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein. Der Beschwerdeführer sei zur Beschwerde nicht legitimiert. Die Wahlverteidigung hätte die Beschwerde in eigenem Namen führen müssen.

Gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO hat die beschuldigte Person nach einer Verfahrenseinstellung Anspruch auf angemessene Entschädigung der Kosten der Wahlverteidigung. Art. 429 Abs. 3 StPO lautet: „Hat die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung mit ihrer Verteidigung betraut, so steht der Anspruch auf Entschädigung nach Absatz 1 Buchstabe a ausschliesslich der Verteidigung zu unter Vorbehalt der Abrechnung mit ihrer Klientschaft. Gegen den Entschädigungsentscheid kann die Verteidigung das Rechtsmittel ergreifen, das gegen den Endentscheid zulässig ist.“ Daraus könnte man schliessen, dass nur die Rechtsvertretung in eigenem Namen gegen einen Kostenentscheid Beschwerde führen kann. Ziel des Gesetzgebers war es aber, dass gewährleistet wird, dass Entschädigungen für die Rechtsvertretung direkt dieser zustehen und von der beschuldigten Person nicht anders verwendet wird. Die damit einhergehende Beschwerdelegitimation der Wahlverteidigung verhindert, dass der Entschädigungsentscheid gegen deren Willen unangefochten bleibt, so insbesondere nach Beendigung des Mandatsverhältnisses (E. 2.2). Unter Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Gedanken muss Art. 429 Abs. 3 StPO so ausgelegt werden, dass die Bestimmung eine zusätzliche Befugnis der Wahlverteidigung statuiert, den Entscheid über ihre Entschädigung gemäss Abs. 1 lit. a anzufechten.

Die Beschwerde wird gutgeheissen, weil die Rechtsansicht der Vorinstanz überspitzt formalistisch war.


Urteil 6B_272/2023: Rechtsüberholen ist soooo 2023 (gutgh. Beschwerde)

In diesem Fall geht es um die Frage, ob ein dreifaches Rechtsüberhol-Manöver eines Aston Martin Fahrers auf der A13 zwischen Chur und Thusis eine grobe oder einfache Verkehrsregelverletzung darstellt. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts, wonach eine einfache Verkehrsregelverletzung vorläge.

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Die Vorinstanz beruft sich bei ihrer Begründung auf die allseits bekannten neuen Regelungen zum Rechtsüberholen. Der Gesetzgeber habe eine mildere Handhabung vom Rechtsüberholen gewollt, weshalb gewisse SVG-Widerhandlungen – so auch die vorliegende – auch als einfache Verkehrsregelverletzungen bestraft werden können. Im vorliegenden Fall waren die Strassen- und Sichtverhältnisse einwandfrei und die Verkehrslage ruhig (E. 1.2).

Eine grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG begeht, wer eine ernstliche Gefahr für andere schafft und sich rücksichtlos verhält (ausführlich dazu E. 1.3.1). Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG muss man links überholen, wobei das Rechtsüberholverbot auf Autobahnen in Art. 36 Abs. 5 VRV explizit erwähnt wird (E. 1.3.2). Das Bundesgericht verweist auch auf seine gefestigte Rechtsprechung, wonach Rechtsüberholmanöver regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzungen zu qualifizieren sind (E. 1.3.3).

Dass Bundesgericht erblickt im Umstand, dass der Beschwerdegegner seine Überholmanövier im Bereich einer 800m langen Ausspurstrecke durchführte eine ernstliche abstrakte Gefährdung. In solchen Konstellationen muss nämlich vermehrt mit Spurwechseln gerechnet werden. Wenn jemand in einer solchen Verkehrssituation rechts überholt, kann es zu gefährlichen Bremsmanövern und Kollisionen kommen, auch wenn der Beschwerdegegner die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritt. Die Anwendung des Ordnungsbussentatbestandes kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht (E. 1.4.1).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.


Urteil 7B_797/2023: Der Bancomat als Zeuge

Kann das Video einer Überwachungskamera bei einem Bancomaten als Beweismittel bei einem SVG-Delikt verwendet werden? Dieses Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen einen Schuldspruch wegen pflichtwidrigem Verhalten nach einem Unfall sowie Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit. Beim Verlassen eines Tankstellen-Shops überfuhr der Betroffene eine Verkehrsinsel und rasierte einen Inselpfosten. Seine Täterschaft konnte einzig wegen der Überwachungskamera eines Bancomates bei der Tankstelle und einem Tunnelvideo eruiert werden. Er bringt natürlich vor, dass diese Beweismittel aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegen ihn verwendet werden dürfen. Diese Thematik hat uns immer wieder beschäftigt (Beitrag vom 15.07.2024; Beitrag vom 04.11.2023; Beitrag vom 17.10.2019), weshalb das ganze summarisch abgehandelt werden kann.

Das Erstellen von Video-Aufnahmen im öffentlichen Raum wird von aArt. 3 lit. a und lit. e DSG erfasst, wenn darauf Autoschilder und Personen erkennbar sind. Werden Personendaten von Privaten illegal erhoben, liegt gemäss aArt. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor. Die Erhebung von Personendaten kann allerdings gemäss aArt. 13 DSG gerechtfertigt sein, wenn ein überwiegendes privates Interesse an der Erhebung der Daten besteht. Als überwiegende Bearbeitungsinteressen kommen in erster Linie die Interessen der bearbeitenden Person, aber auch solche von Dritten in Frage. Als schützenswerte Interessen gilt z.B. die Bearbeitung von Personendaten zur Verhinderung von Straftaten oder zum Schutz von Personen oder Sachen. Da im vorliegenden Fall die Videoüberwachung beim Bancomaten offensichtlich zum Schutz von Dritten beim Abheben von Geld dient, erblickt das Bundesgericht darin eine gerechtfertigte Datenerfassung i.S.v. aArt. 13 DSG. Damit ist dieses private Beweismittel uneingeschränkt gegen den Beschwerdeführer verwendbar.

Ein Beschleunigungsrennen und seine beweisrechtlichen Folgen (und mehr)

Wir alle erinnern uns an das legendäre Urteil des Kantonsgerichts Schwyz vom 20. Juni 2017, welches den Grundstein für die Rechtsprechung zur Verwertung von privaten Videoaufnahmen bei krassen Verkehrsdelikten legte. Ging man anfänglich noch davon aus, dass es sich bei den „schweren Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO im Strassenverkehr um Raserdelikte handelt und nur dort private Video- oder Dashcam-Aufnahmen als Beweise verwendet werden dürfen, entschied das Bundesgericht im Urteil 6B_821/2021 (s.a. Beitrag vom 4.11.2023), dass auch grobe Verkehrsregelverletzungen unter den Begriff der „schweren Straftat“ fallen können. Nun hat es drei neue Urteile zum Thema Beweisverwertung gegeben, die sich alle um dasselbe Beschleunigungsrennen drehen. In diesen Urteilen stellt das Bundesgericht klar, ob eine Verletzung der Teilnahmerechte an Einvernahmen in einem späteren Zeitpunkt geheilt werden kann oder eben nicht. Es passt in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung an.


Urteil 6B_92/2022: Der Porsche und das gefilmte Beschleunigungsrennen (Gutgeheissene Beschwerde)

Der Beschwerdeführer lieferte sich innerorts mit einem Kollegen ein Beschleunigungsrennen, wobei er mit seinem Porsche auf der Normalspur und der andere Autofahrer mit einem BMW auf der Gegenfahrbahn fuhr. Über eine Strecke von 75m beschleunigten sie bis auf 63 km/h bzw. 64 km/h. Die Tat wurde als grobe Verkehrsregelverletzung gewertet. Das Rennen wurde von einem nachfahrenden Kollegen mit dem Handy gefilmt. Die Frage dreht sich darum, ob dieses Video als Beweis verwertet werden darf.

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Im Strafverfahren liegt die Beweishoheit grds. beim Staat. Von Privatpersonen rechtmässig erlangte Beweise dürfen im Strafverfahren ohne weiteres verwendet werden. Von Privatpersonen rechtswidrig erlangte Beweise dürfen allerdings nur verwendet werden, wenn
– die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erlangen können und
– der Beweis zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Ein von Privaten erstelltes Video ist rechtswidrig, wenn es in Verletzung der Bestimmungen des Datenschutzgesetzes erstellt wurde und z.B. kein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 31 DSG (Art. 13 aDSG) vorliegt (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zumindest konkludent in das Filmen des Rennens eingewilligt hat, deshalb das Handyvideo nicht rechtswidrig erstellt wurde und damit als Beweis verwertbar ist. Zu diesem Schluss kam sie u.a. aufgrund der verschiedenen Aussagen der Beteiligten im Strafverfahren. Dazu rügt der Beschwerdeführer wiederum, dass diese Aussagen unter Verletzung der Teilnahmerechte bzw. des Konfrontationsanspruches durchgeführt wurden. Aus diesem Grund seien diese Aussagen nicht verwertbar, weshalb folglich aus diesen Aussagen auch nicht auf eine Einwilligung der Fahrenden in das Filmen des Beschleunigungsrennens geschlossen werden kann.

Das Teilnahmerecht an Einvernahmen von anderen Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus Art. 147 StPO. Eine Verletzung der Teilnahmerechte führt gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Beweise zu Lasten der Person, die nicht anwesend war. Der Konfrontationsanspruch, also das Recht Belastungszeugen Fragen zu stellen, ergibt sich aus Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK und ist ein Teilaspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Nur so kann die beschuldigte Person die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen. Der Beschwerdeführer konnte an den Aussagen der anderen Beteiligten nicht teilnehmen und er verzichtete auch nicht auf die Teilnahme (ausführlich dazu E. 1.6.3).

Das Argument der Vorinstanz, dass die Strafverfahren gegen die Beteiligten getrennt durchgeführt wurden und damit auch kein Anspruch auf Teilnahme bestehe, verwirft das Bundesgericht, denn das Untersuchungsverfahren wurde gegen alle Beteiligten noch „gemeinsam“ geführt (ausführlich E. 1.6.5).

Interessant sind die Ausführungen des Bundesgerichts dazu, ob eine Verletzung des Konfrontationsanspruches durch spätere Einvernahmen oder Befragungen mit Gewährung der Teilnahmerechte geheilt werden kann. Nachdem die bisherige Rechtsprechung darauf hindeutet, dass dies der Fall sein könnte, stellt das Bundesgericht klar, dass es widersprüchlich wäre, wenn eine Einvernahme zunächst gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO unter Verletzung der Teilnahmerechte als Beweis nicht verwertbar wäre, diese Verletzung aber später durch eine erneute Befragung geheilt werden könnte. Die Regelung von Art. 147 Abs. 4 StPO würde so ihres Sinnes entleert. Zudem würde dadurch die Stellung der beschuldigten Person im Strafverfahren geschwächt, was nicht dem gesetzgeberischen Wille entspräche (zum Ganzen ausführlich E. 1.6.7.3).

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen (E. 1.6.7.4).

Folglich verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, als sie von einer Verwertbarkeit der Aussagen ausging, aus welchen sie schloss, dass der Beschwerdeführer in das Filmen einwilligte. Die Verletzung seiner Teilnahmerechte macht die Einvernahmen unverwertbar, was auch nicht im späteren Verlauf des Verfahrens geheilt werden konnte.


Urteil 6B_137/2022: Gehilfe durch Filmen ( Tlw. Gutgeheissene Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit dem Kollegen, der das Rennen filmte. Er wurde wegen Gehilfenschaft zur groben Verkehrsregelverletzung verurteilt. Auch hier dreht sich die Frage um die Verwertbarkeit von Einvernahmen, an denen der filmende Beschwerdeführer nicht teilnehmen konnte. Im Grossen und Ganzen kann hier auf das obige Urteil verwiesen werden. Anders verhält es sich nur, wenn sich die filmende Person selber darauf beruft, dass die Verwertung des Videos rechtswidrig sei.

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Wie seine Kollegen stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass das von ihm selber erstellte Video nicht gegen ihn verwendet werden dürfe. Er beruft sich dabei auf den Umstand, dass seine Kollegen nicht in das Filmen einwilligten. Diese Argumentation verwirft das Bundesgericht allerdings als zweckwidrig. Wer selber eine Filmaufnahme erstellt, gibt den Schutz ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte bewusst auf. Sich nachher auf eine Unverwertbarkeit der Aufnahme zu berufen, ist als missbräuchlich zu qualifizieren. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, kann die Videoaufnahme gegen den filmenden Beschwerdeführer verwendet werden (E. 1.5).

Dass die Voraussetzungen der Gehilfenschaft erfüllt seien, schloss die Vorinstanz auch in diesem Fall aus den Aussagen aller Beteiligten. Allerdings konnte weder der Beschwerdeführer, noch sein Rechtsvertreter an den Einvernahmen der anderen Beteiligten teilnehmen. Daraus entstehen letztlich dieselben Probleme, wie bereits im oben zitierten Urteil. Indem die Vorinstanz die Einvernahmen der Kollegen des filmenden Gehilfen herbeizog, um die Gehilfenschaft zu begründen, der filmende Beschwerdeführer aber keine Möglichkeit hatte, seinen Konfrontationsanspruch auszuleben, verletzte die Vorinstanz Bundesrecht bzw. Art. 147 Abs. 4 StPO. Auch diese Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.


Urteil 6B_147/2022: Gehilfe durch Filmen Part II (Tlw. gutgeheissene Beschwerde)

Und nun noch zum Dritten im Bunde der Rennfahrer. Auch er wurde wegen dem Beschleunigungsrennen wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Zudem wird ihm noch Gehilfenschaft zu einer Rasertat vorgeworfen, weil er eine weitere Person dabei filmte, wie diese ein Fahrzeug auf einer Probefahrt auf 200 km/h beschleunigte. Die zentrale Frage bei dieser zweiten Tat ist, ob man durch Filmen die Haupttat durch psychische Gehilfenschaft unterstützt.

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In Bezug auf das Beschleunigungsrennen kennen wir nun die Problematik. Auch der Lenker des BMW und Beschwerdeführer konnte an den Einvernahmen seiner Kollegen nicht teilnehmen, womit sein Recht auf ein faires Verfahren und der Anspruch auf Konfrontation verletzt wurde. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Der Beschwerdeführer wendet sich auch noch gegen den Vorwurf der psychischen Gehilfenschaft zu einer Rasertat. Er bemängelt, dass der Haupttäter hier hätte befragt werden müssen, ob das Filmen ihn überhaupt beeinflusst habe. Das nachgewiesene Filmen allein reiche nicht aus, um rechtsgenügend zu beweisen, dass der Haupttäter ohne das Filmen seine Tat nicht oder weniger gravierend durchgeführt hätte.

Als Gehilfe macht sich gemäss Art. 25 StGB strafbar, wenn man zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Die Hilfe kann tatsächlicher oder psychischer Natur sein. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Der Gehilfe muss zudem wissen, dass er eine Straftat unterstützt und dies auch in Kauf nehmen. Eine reine Billigung einer Straftat reicht allerdings für die Annahme einer psychischen Gehilfenschaft nicht aus (E. 2.2.3). Psychische Hilfe leistet, wer den Täter in irgendeiner Form zur Tat ermutigt, seine Tatentschlossenheit stützt oder bestärkt, dadurch etwa, dass er Hilfe zusagt, letzte Zweifel und Hemmungen des Täters beseitigt oder ihn davon abhält, den gefassten Entschluss wieder aufzugeben. Der psychische Gehilfe wirkt in dem Sinne in affektiv-emotionaler Hinsicht auf den Haupttäter ein, bestärkt diesen seelisch in seinem Tatentschluss und erleichtert diesem damit die Durchführung der Straftat (E. 2.4.2).

Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer durch das Filmen der Rasertat dem Haupttäter signalisierte, dass er die Tat guthiess und auch wollte, woraus der Haupttäter wiederum motiviert wurde. Das Filmen war also nicht nur eine innere Billigung, sondern wirkte sich kausal auf das Verhalten aus. Das ergibt sich auch aus dem Video, in welchem ersichtlich ist, wie sich der Beschwerdeführer und der Fahrer gegenseitig „hochstacheln“.

Vorsicht Meinung: Dieses Urteil ist für die Praxis äusserst relevant. Viele schwere Verkehrsdelikte werden erst entdeckt, wenn ein Täter zufälligerweise von der Polizei erwischt wird und dann dessen Smartphone ausgewertet wird. Die Strafbehörden entdecken dann Videos, welche in einer Art Schneeballsystem auf immer mehr Täter und auch Täterinnen hindeuten. In Zeiten von Social Media macht das Bundesgericht klar, dass auch die filmende Person Verantwortung übernehmen muss. Oder wie würde Grossmutter sagen: Mitgegangen, Mitgehangen.



Bonus: Urteil 1C_539/2022: Keine Gefahr beim Missachten rechtswidriger Signale?

Im letzten Beitrag vom 18. Juni 2024 haben wir uns der strafrechtlichen Rechtsprechung zur Verbindlichkeit von rechtswidrigen Signalen gewidmet. Wegen dem Vertrauensgrundsatz sind diese trotzdem zu beachten, es sei denn sie stehen an einem Ort, wo man sie überhaupt nicht erwarten muss oder wenn ein Signal dermassen verblichen ist, dass es nicht mehr als solches erkennbar ist. Nun wird diese Thematik auch noch aus administrativmassnahmen-rechtlicher Sicht beleuchtet. Der Beschwerdeführer stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die Missachtung des rechtswidrigen Signals keine konkrete Gefährdung mit sich brachte und deshalb die Voraussetzungen für eine Warnmassnahme nicht erfüllt sind.

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Der Beschwerdeführer überschritt die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn am Walensee um 40km/h, weshalb ihm der Führerausweis für drei Monaten entzogen wurde. Er stellt sich im Verfahren auf den teilweise in der Lehre vertretenen Standpunkt, dass eine weitere Voraussetzung für die Beachtung von rechtswidrigen Signalen das Kriterium der konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei. Er stützt seine Meinung auf ältere Urteile des Bundesgerichts, bei welchen es allerdings um das Missachten von rechtswidrigen Parkverboten ging. Beim ruhenden Verkehr wird i.d.R. niemand gefährdet. In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts spielt die Voraussetzung der konkreten Gefährdung allerdings keine Rolle mehr (E. 5.2). Die Lehre ist sich nicht gänzlich einig, geht aber im überwiegenden Teil davon aus, dass die Missachtung rechtswidriger Signale gefährlich ist bzw. dass auch rechtswidrige Signale zu Gunsten der Verkehrssicherheit befolgt werden müssen (E. 5.3). Und schliesslich ist es ganz einfach logisch, dass wenn man rechtswidrige Signale nicht beachten müsse, trotzdem eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern vom Rechtsmangel gar nichts wüssten. Diese würden logischerweise auch rechtswidrige (Geschwindigkeits-)Signale beachten, woraus sich gefährliche Situationen ergeben können (E. 5.4). Daraus folgert das Bundesgericht, dass es nicht auf eine konkrete Gefährdung ankommt. Auch eine rechtswidrige Signalisation der Höchstgeschwindigkeit muss beachtet werden. Mängel an der Signalisation können sodann auch dem Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden (E. 5.5).

Sodann liegt gemäss dem vom Bundesgericht entwickelten Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten vorliegend eine schwere Widerhandlung vor (E. 6) und der Beschwerdeführer kann auch aus der langen Verfahrensdauer von insgesamt sechs Jahren nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil er sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft hatte (E. 7).


Bonus-Bonus: Urteil 7B_264/2022: Das stinkt mir ziemlich!

Wer mit einem Traktor ein Jauche-Anhänger zieht, aus welchem während der Fahrt Gülle austritt, der führt ein nicht vorschriftsgemässer Anhänger (Art. 29 SVG i.V.m. Art. 59 VRV), was gemäss Art. 93 Abs. 2 SVG mit Busse bestraft wird.

Freiheits- vs. Geldstrafe und deren Aufschub

Urteil 6B_1332/2023: Die besonders günstigen Umstände nach Art. 42 Abs. 2 StGB (tlw. gutgh. Beschwerde)

Bei einem Überholmanöver verursachte der Beschwerdeführer einen Verkehrsunfall, bei welchem die Lenkerin und drei Insassen des anderen Fahrzeuges verletzt wurden. Ohne sich um den Sachschaden oder die verletzten Personen zu kümmern floh der Beschwerdeführer von der Unfallstelle. Sein Fahrzeug war bei seiner Flucht stark beschädigt und entsprach nicht mehr den Vorschriften. Am folgenden Tag stellte sich der Beschwerdeführer bei der Polizei.

Wegen dem Unfall wurde der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 90 Tagen und einer Busse verurteilt wegen grober Verkehrsregelverletzung, Führerflucht und Lenken eines nicht betriebssicheren Fahrzeuges. Grund dafür: Seine Vorstrafen. Mit seiner Beschwerde verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse.

Die grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) sowie die Führerflucht (Art. 92 Abs. 2 SVG) sind Vergehen, die mit Freiheitsstrafe bis drei Jahren oder Geldstrafe sanktioniert werden können. Ein Gericht richtet sich bei der Strafzumessung nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB, wobei es über ein grosses Ermessen verfügt. Das Bundesgericht greift in die Strafzumessung deshalb nur ein, wenn

– die Strafe gesetzlich nicht vorgesehen ist,
– wenn sie auf anderen Kriterien als Art. 47 StGB gründet,
– wenn wichtige Elemente nicht berücksichtigt wurden,
– oder wenn ein Ermessensmissbrauch wegen zu milder oder harter Strafe vorliegt.

Das Gericht muss bei der Strafzumessung begründen, welche Elemente für die Strafe relevant waren, wobei es unwichtige Elemente nicht unbedingt erwähnen muss.

Das Gericht kann anstelle von Geldstrafen auch kurze Freiheitsstrafen anordnen, wenn die Voraussetzungen gemäss Art. 41 StGB erfüllt sind. Die Geldstrafe hat aber bei kleiner und mittlerer Kriminalität nach wie vor Vorrang. Nur wenn der Staat die öffentliche Sicherheit nicht anders garantieren kann, soll der Freiheitsstrafe der Vorrang gewährt werden. Sprechen sowohl gute Gründe für eine Geldstrafe, als auch Freiheitsstrafe, muss im Rahmen der Verhältnismässigkeit der Geldstrafe den Vorzug gegeben werden. Bei der Wahl der Strafe ist schliesslich nicht das Verschulden massgebend, sondern die spezialpräventive Wirkung der Strafe. Wählt es die Freiheitsstrafe, muss das Gericht dies ausführlich begründen (E. 1.1).

Das kantonale Gericht begründete die Wahl der Freiheitsstrafe im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer nur drei Monate vor dem Unfall aus einer Freiheitsstrafe (wegen versuchtem Mord) entlassen wurde. Zudem ist er mehrfach vorbelastet und erhielt auch schon Geldstrafen. Unter diesen Umständen durfte die kantonale Instanz davon ausgehen, dass eine Geldstrafe vorliegend keine Wirkung mehr habe. Die Dauer der Freiheitsstrafe begründete es zudem nachvollziehbar nach den Grundsätzen von Art. 47 StGB (zum Ganzen E. 1.2-1.4).

Der Beschwerdeführer verlangt, dass die Freiheitsstrafe bedingt auszusprechen sei, weil besonders günstige Umstände gemäss Art. 42 Abs. 2 StGB vorlägen. Wenn eine Person vorbestraft ist, entfällt grundsätzlich die Vermutung einer günstigen Legalprognose. Im Gegenteil sind die Vorstrafen ein Indiz dafür, dass die betroffene Person weiterhin delinquieren wird. Eine besonders günstige Prognose kann unter Würdigung aller Umstände vorliegen, wenn

– die zu beurteilende Straftat nicht mit den Vorstrafen zusammenhängt,
– oder sich die Lebensumstände der betroffenen Person besonders positiv verändert haben.

Auch bei dieser Beurteilung hat das Gericht einen grossen Ermessenspielraum. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn das Gericht hauptsächlich auf die Vorstrafen abstellt und übrige Einzelheiten ausser Acht lässt (E. 2.1).

Die kantonale Instanz hob zwar viele positive Entwicklungen des Beschwerdeführers hervor. Allerdings waren die Vorstrafen zu gravierend, als dass man nach Ansicht der Vorinstanz von einem besonders günstigen Fall hätte ausgehen können. Darin erblickt das Bundesgericht einen Ermessensmissbrauch. Aus Sicht der Bundesrichter wurde im kantonalen Verfahren zu sehr auf die Vorstrafen abgestellt. Denn der Beschwerdeführer führt mittlerweile wieder ein stabiles und strukturiertes Leben. Zudem bezieht sich das SVG-Delikt nicht auf seine Vorstrafen. Das Bundesgericht geht also von einem besonders günstigen Fall aus. Die Sache wird zur Festlegung der Probezeit an die Vorinstanz zurückgewiesen (E. 2.2 – 2.3).

Der Zwei-Sekunden-Blick

Urteil 6B_27/2023: Das Handy im Auto (gutgh. Beschwerde)

Das Mobiltelefon ist heutzutage allgegenwärtig – leider auch am Steuer. Damit befasst sich dieses Urteil, wobei unser höchstes Gericht exemplarisch seine Rechtsprechung zur Aufmerksamkeit im Strassenverkehr zusammenfasst.

Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen einen Strafbefehl, mit welchem sie mit CHF 250 gebüsst wurde. Sie fuhr innerorts, wobei sie mit ca. 50 km/h auf einer Strecke von ca. 20 Metern während ein bis zwei Sekunden ihr Kopf senkte und auf ihr Mobiltelefon blickte. Es herrschte mittleres Verkehrsaufkommen. Die Strafbehörden warfen ihr vor, eine Verrichtung vorgenommen zu haben, welche die Bedienung des Fahrzeuges erschwerte (Art. 3 Abs. 1 VRV). Die Beschwerdeführerin sieht das natürlich ganz anders. Ihr Verhalten sei gar nicht tatbestandsmässig, denn ihre Aufmerksamkeit sei durch den Blick aufs Handy nicht beeinträchtigt worden. So sei auch die Nutzung der Fingerprint-Funktion oder der Face-ID zum Entsperren des Mobiltelefons nicht verboten. Auch wenn das blosse Halten eines Mobiltelefons erlaubt ist (vgl. Urteil 6B_1183/2014), war die Vorinstanz der Meinung das insb. durch das Senken des Kopfes die Aufmerksamkeit beeinträchtigt wurde.

Sein Auto beherrscht man nur, wenn man sich aufmerksam dem Verkehr widmet (Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den Einzelfallumständen. Ist auf der Strasse „weniger los“, werden an die Aufmerksamkeit weniger hohe Ansprüche gestellt. Ob eine Verrichtung die Beherrschung über das Fahrzeug verunmöglicht, hängt von der Verkehrssituation ab und von der Dauer der Verrichtung. Eine weitere Rolle spielt es, ob man seine Körperhaltung ändern muss. Faustregel: Je kürzer die Verrichtung, desto eher legal (zum Ganzen E. 1.3).

Kasuistik – Erlaubt:
Urteil 1C_470/2020 E. 4.2: Blick auf Armaturenbrett, wenn Verkehr ok
Urteil 1C_183/2016 E. 2.1: Blick auf Uhr oder internes Navi, wenn Verkehr ok
Urteil 6P.68/2006 E. 3.3: Zeitunglesen im Stau bei Stillstehen erlaubt
Urteil 6B_1183/2014 E. 1.5: Handy für 15s halten auf Autobahn bei 100km/h erlaubt

Nicht erlaubt:
Urteil 6B_666/2009 E. 1.3: Längerer Blick auf Handy zum SMS schreiben
Urteil 1C_183/2016 E. 2.6: Navi beim Steuer halten und länger draufblicken
Urteil 1C_422/2016 E. 3.3: 7s Blick auf ein Blatt Papier
Urteil 6B_894/2016 E. 3.3: Rechts Mobilgerät bedienen, linke Hand am Kopf
Urteil 6B_1423/2017 E. 3: Lasermessgerät drei Sekunden bedienen
Urteil 1C_566/2018 E. 2.5.2: Papier auf Lenkrad beschreiben
Urteil 7B_221/2022 E. 4: Drei Sekunden-Blick und Manipulation mit Daumen 

Die Beschwerdeführerin hatte das Lenkrad im Griff. Auch wenn ihr Kopf leicht geneigt war, hatte sie den Verkehr noch im Blick. Die Verrichtung dauerte nur sehr kurz. Das Bundesgericht vergleicht den Blick mit einem Blick in die Seiten- oder den Rückspiegel, welcher auch in Innenstädten wegen Velos und Fussgängern nötig ist. Sofern es also die Verkehrssituation – wie vorliegend – zulässt, erfüllt ein kurzer Blick aufs Handy den Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 VRV nicht (ausführlich E. 1.5).

Das Bundesgericht weist die Sache aber an die Vorinstanz zurück mit folgendem interessanten Hinweis:

Gemäss Ziffer 311 der Bussenliste in der OBV wird die Verwendung eines Telefons während der Fahrt mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 bestraft. „Verwenden“ bedeutet aus Sicht von unseren Bundesrichtern nicht nur das Telefonieren, sondern auch die Nutzung von weiteren Funktionen, wie das Verfassen von Kurznachrichten oder E-Mails oder auch deren Lektüre (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Die Beschwerdeführerin wird wohl mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 davonkommen.

Rechtsüberholen: Voll im Trend

Urteil 1C_105/2022: Keine Massnahme ohne qualifizierende Merkmale beim Rechtsüberholen (gutgh. Laienbeschwerde)

Rechtsüberholen ist voll im Trend, zumindest in der Jurisprudenz. Nach dem strafrechtlichen Urteil 6B_231/2022, wo der neue Ordnungsbussentatbestand zum Rechtsübeholen nicht angewendet wurde (zum Ganzen der Beitrag vom 22. Juni 2022) und dem Leitentscheid 1C_626/2021, wo im Administrativmassnahmen-Verfahren die lex mitior der Ordnungsbusse analog angewendet und trotz Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung auf eine Massnahme verzichtet wurde (ausführlich dazu der Beitrag vom 10. Dezember 2022) folgt nun ein weiteres Urteil, wo sich ein Motorradfahrer gegen einen kaskadenbedingt 12-monatigen Führerscheinentzug wehrt, weil seine grobe Verkehrsregelverletzung mittlerweile aus seiner Sicht ein Ordnungsbussentatbestand wurde, der ohne administrativrechtliche Sanktion bleiben muss. Das Urteil schliesst nahtlos an den Leitentscheid 1C_626/2021 an, weshalb der vorliegende Beitrag kurz ausfallen kann.

Der Beschwerdeführer überholte auf der Autobahn mit seinem Motorrad ein anderes Fahrzeug, indem er von der Überhol- auf die Normalspur wechselte, am anderen Fahrzeug vorbeifuhr und seine Fahrt dann auf der Normalspur fortsetzte. Es herrschte schwaches Verkehrsaufkommen, schönes Wetter, gute Sicht, die Strasse war trocken und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass die rechts überholte Person irgendwie erschrocken sei.

Rechtsüberholen auf Autobahnen ist grds. verboten. Im Kolonnenverkehr darf man allerdings rechts an anderen Fahrzeugen vorbeifahren (vgl. Art. 36 Abs. 5 VRV). Führt man ein Rechtsüberholmanöver durch, muss gemäss der neuen Rechtsprechung unterschieden werden, ob ein „einfacher“ Fall von Rechtsüberholen vorliegt, der mit Ordnungsbusse bestraft wird, oder ob dem Rechtsüberholmanöver „qualifizierende“ Umstände zugerechnet werden müssen, womit es nach wie vor eine grobe Verkehrsregelverletzung wäre (E. 4). Der Grundsatz der lex mitior wird auch im Administrativmassnahmenverfahren angewendet. Wenn also eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung unter dem neuen Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllt, dann wird keine Massnahme ausgesprochen (vgl. Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Die Vorinstanz begründete ihre Massnahme insofern auch damit, dass das Rechtsüberholmanöver des Beschwerdeführers auch unter dem neuen Recht eine grobe Verkehrsregelverletzung gewesen wäre und keine Ordnungsbusse gegeben hätte, weil von dem Überholen eine erhöht abstrakte Gefährdung ausging (E. 5). Das Bundesgericht verweist zunächst ein bisschen „krampfhaft“ auf seine gefestigte Rechtsprechung, dass Rechtsüberholmanöver grds. als grobe Verkehrsregelverletzungen bzw. schwere Widerhandlungen zu ahnden sind. Im folgenden geht es aber auf seinen Leitentscheid 1C_626/2021 ein, in welchem es definierte, wann der Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 angewendet wird. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 6).

Kurz gesagt, gab es beim vorliegend beurteilten Überholmanöver keine erschwerenden Umstände und damit auch keine erhöht abstrakte Gefahr. Das Wetter war sogar besser als im Leitentscheid 1C_626/2021 beurteilten Sachverhalt (sonnig vs. bewölkt) und der Motorradfahrer bog nach dem Überholen auch nicht mehr auf die Überholspur zurück.

Der 12-monatige Führerausweisentzug wird aufgehoben.

Sperrfrist nach Annullierung des FAP

Urteil 1C_650/2021: Zusätzliche Sperrfrist nach Annullierung möglich? (gutgh. Beschwerde)

Spezialfälle sind die Knacknüsse der Juristen und bieten stets die Möglichkeit für kreative Lösungen, mit welchen die Grenzen des Rechtssystems ausgelotet werden. Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, ob bei notorischen Verkehrsregelbrechern, deren Führerausweis auf Probe annulliert wird, eine zusätzliche Sperrfrist zu der ein- bzw. zweijährigen Sperrfrist gemäss Art. 15a Abs. 5 SVG angeordnet werden kann. Die Idee beruht einerseits auf dem Umstand, dass Inhaber des definitiven Führerausweises aufgrund der Kaskade im Wiederholungsfalle mit stets strengeren Massnahmen rechnen müssen. Andererseits kann die Kaskade nach der Annullierung eines Führerausweises auf Probe bei erneuter Delinquenz nicht angewendet werden. Bei einer neuen Warnmassnahme in einer zweiten Probezeit darf aber der Leumund gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG trotz dem „clean break“ einer Annullierung berücksichtigt werden (vgl. dazu Urteil 1C_136/2017 E. 3.5, das hier auch schon gefeatured wurde).

Aber der Reihe nach:

Der Beschwerdeführer ist kein unbeschriebenes Blatt. Er verfügt über ein reichhaltiges Palmares an Widerhandlungen bzw. Sanktionen:

  • Mittelschwere Widerhandlung mit Spezialtraktur – Führerausweisentzug für einen Monat
  • Schwere Widerhandlung mit Motorrad – Führerausweisentzug für drei Monate
  • Schwere Widerhandlung mit Motorrad – Führerausweisentzug für zwölf Monate
  • Schwere Widerhandlung mit Motorrad (Fahren trotz Entzug) – Kaskadensicherungsentzug, Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit, Sperrfrist 24 Monate. Hier war der Beschwerdeführer bereits Inhaber des FAP für die Kat. B.
  • Nach positivem verkehrspsychologischen Gutachten wurde die Fahrerlaubnis wiedererteilt und die Probezeit verlängert.
  • Im Mai 2020 mittelschwere Widerhandlung mit Personenwagen – Annullierung des FAP.
  • Im Juni 2020 Führen eines Motorrades während der Sperrfrist.

Nun wird es aber interessant: Nach Einsprache ordnete die zuständige Behörde eine auf Art. 15a Abs. 5 SVG gestützte „Wartefrist“ von 24 Monaten an. Dazu wurde in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG eine zusätzliche Sperrfrist von 48 Monaten verfügt. Der Beschwerdeführer wehrt sich vor Bundesgericht gegen diese zusätzliche, „leumundbedingte“ Sperrfrist. Im Wesentlichen bringt er vor, dass die Spezialregeln des Führerausweises auf Probe in sich geschlossen sind und es keine gesetzliche Grundlage für die Berücksichtigung seines Leumundes im Sinne von Art. 16 Abs. 3 SVG gibt.

Die Vorinstanz leitet Ihre Begründung aus Urteil 1C_136/2017 E. 3.5 (bzw. BGE 143 II 699 E. 3.5.7) ab. Dort entschied das Bundesgericht, dass Art. 15a SVG nur eine teilweise spezifische Regelung zum Führerausweis auf Probe enthält. Zwar beginnt die Kaskade nach der Annullierung eines FAP von neuem. Die Widerhandlungen vor der Annullierung aber dürfen gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG als getrübter Leumund berücksichtigt werden bei erneuten Verkehrsregelverstössen. Die Vorinstanz stellt sich somit auf den Standpunkt, dass die gesetzliche Sperrfrist von Art. 15a SVG bei unbelehrbaren Neulenkern zu vorteilhaft und kurz ist und dass in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG zugunsten der Verkehrssicherheit Zusatzfristen angeordnet werden müssen. Aus Sicht des Bundesgerichts ist die Berufung der Vorinstanz auf BGE 143 II 699 E. 3.5.7 (und auch BGE 146 II 300) unbehelflich, weil sich diese mit andersgelagerten Fällen befassten. Trotzdem prüft es danach umfassend, ob das Gesetz zusätzliche Sperrfristen zu denen in Art. 15a Abs. 5 SVG erlaubt. Es legt dazu den Artikel und die Verordnungsbestimmungen grammatikalisch aus:

Es ist offensichtlich, dass weder Art. 15a Abs. 5 SVG, noch Art. 35a und Art. 35b VZV dem Wortlaut nach zusätzliche Sperrfristen zur einjährigen bzw. zweijährigen nach Fahren trotz Sperrfrist ermöglichen. Gleiches gilt für die durch die Motion Freysinger geänderte Fassung der Bestimmungen (E. 5.2.1). Auch die weiteren Auslegungselemente weisen nicht darauf hin, dass zusätzliche Sperrfristen angeordnet werden können. Das Bundesgericht bezeichnet die bestehenden Regeln zum Führerausweis auf Probe als strenge Ahndung und Prävention von SVG-Widerhandlungen durch Neulenkerinnen und Neulenker, die damit der Erhöhung der Verkehrssicherheit dienen. Die Regelungen sind aus Sicht des Bundesgericht recht streng und ein in sich weitgehend geschlossenes System. Deshalb betrachtet es das Bundesgericht als nicht nötig, dass Neulenker neben den bereits strengen Folgen einer Annullierung mit einer zusätzlichen Sperrfrist in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG sanktioniert werden müssen (E. 5.2.2).

Eine zusätzliche Sperrfrist anzuordnen, geht also nicht. Nun kommt das grosse ABER:

Die Sperrfrist von Art. 15a Abs. 5 SVG ist eine Mindestsperrfrist. Das Gesetz nennt keine Gründe, nach welchen die Sperrfrist länger angeordnet werden kann. Eine Verlängerung ist in Ausnahmefällen jedenfalls dann geboten, wenn die einjährige Mindestsperrfrist bei ganzheitlicher Betrachtungsweise mit Blick auf die Entzugsdauer, die unter den gegebenen Umständen nach den Regeln für den Entzug des definitiven Führerausweises zu verfügen wäre, auch in Berücksichtigung der mit dem Entzug mit Verfallwirkung einhergehenden weitreichenden Folgen unangemessen und unbillig wäre.

Die Beschwerde wird also gutgeheissen, weil zur Sperrfrist von Art. 15a Abs. 5 SVG keine zusätzliche Sperrfrist verfügt werden kann. Dem Beschwerdeführer wird das aber wenig nützen, denn es ist davon auszugehen, dass die kantonale Behörde eine Sperrfrist nach Art. 15a Abs. 5 SVG anordnen wird, die über die Mindestentzugsdauer von vorliegend zwei Jahre hinausgehen wird.