Der Zwei-Sekunden-Blick

BGE 6B_27/2023: Das Handy im Auto (gutgh. Beschwerde)

Das Mobiltelefon ist heutzutage allgegenwärtig – leider auch am Steuer. Damit befasst sich dieses Urteil, wobei unser höchstes Gericht exemplarisch seine Rechtsprechung zur Aufmerksamkeit im Strassenverkehr zusammenfasst.

Die Beschwerdeführerin wehrt sich gegen einen Strafbefehl, mit welchem sie mit CHF 250 gebüsst wurde. Sie fuhr innerorts, wobei sie mit ca. 50 km/h auf einer Strecke von ca. 20 Metern während ein bis zwei Sekunden ihr Kopf senkte und auf ihr Mobiltelefon blickte. Es herrschte mittleres Verkehrsaufkommen. Die Strafbehörden warfen ihr vor, eine Verrichtung vorgenommen zu haben, welche die Bedienung des Fahrzeuges erschwerte (Art. 3 Abs. 1 VRV). Die Beschwerdeführerin sieht das natürlich ganz anders. Ihr Verhalten sei gar nicht tatbestandsmässig, denn ihre Aufmerksamkeit sei durch den Blick aufs Handy nicht beeinträchtigt worden. So sei auch die Nutzung der Fingerprint-Funktion oder der Face-ID zum Entsperren des Mobiltelefons nicht verboten. Auch wenn das blosse Halten eines Mobiltelefons erlaubt ist (vgl. Urteil 6B_1183/2014), war die Vorinstanz der Meinung das insb. durch das Senken des Kopfes die Aufmerksamkeit beeinträchtigt wurde.

Sein Auto beherrscht man nur, wenn man sich aufmerksam dem Verkehr widmet (Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV). Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den Einzelfallumständen. Ist auf der Strasse „weniger los“, werden an die Aufmerksamkeit weniger hohe Ansprüche gestellt. Ob eine Verrichtung die Beherrschung über das Fahrzeug verunmöglicht, hängt von der Verkehrssituation ab und von der Dauer der Verrichtung. Eine weitere Rolle spielt es, ob man seine Körperhaltung ändern muss. Faustregel: Je kürzer die Verrichtung, desto eher legal (zum Ganzen E. 1.3).

Kasuistik – Erlaubt:
Urteil 1C_470/2020 E. 4.2: Blick auf Armaturenbrett, wenn Verkehr ok
Urteil 1C_183/2016 E. 2.1: Blick auf Uhr oder internes Navi, wenn Verkehr ok
Urteil 6P.68/2006 E. 3.3: Zeitunglesen im Stau bei Stillstehen erlaubt
Urteil 6B_1183/2014 E. 1.5: Handy für 15s halten auf Autobahn bei 100km/h erlaubt

Nicht erlaubt:
Urteil 6B_666/2009 E. 1.3: Längerer Blick auf Handy zum SMS schreiben
Urteil 1C_183/2016 E. 2.6: Navi beim Steuer halten und länger draufblicken
Urteil 1C_422/2016 E. 3.3: 7s Blick auf ein Blatt Papier
Urteil 6B_894/2016 E. 3.3: Rechts Mobilgerät bedienen, linke Hand am Kopf
Urteil 6B_1423/2017 E. 3: Lasermessgerät drei Sekunden bedienen
Urteil 1C_566/2018 E. 2.5.2: Papier auf Lenkrad beschreiben

Die Beschwerdeführerin hatte das Lenkrad im Griff. Auch wenn ihr Kopf leicht geneigt war, hatte sie den Verkehr noch im Blick. Die Verrichtung dauerte nur sehr kurz. Das Bundesgericht vergleicht den Blick mit einem Blick in die Seiten- oder den Rückspiegel, welcher auch in Innenstädten wegen Velos und Fussgängern nötig ist. Sofern es also die Verkehrssituation – wie vorliegend – zulässt, erfüllt ein kurzer Blick aufs Handy den Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 VRV nicht (ausführlich E. 1.5).

Das Bundesgericht weist die Sache aber an die Vorinstanz zurück mit folgendem interessanten Hinweis:

Gemäss Ziffer 311 der Bussenliste in der OBV wird die Verwendung eines Telefons während der Fahrt mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 bestraft. „Verwenden“ bedeutet aus Sicht von unseren Bundesrichtern nicht nur das Telefonieren, sondern auch die Nutzung von weiteren Funktionen, wie das Verfassen von Kurznachrichten oder E-Mails oder auch deren Lektüre (zum Ganzen ausführlich E. 2).

Die Beschwerdeführerin wird wohl mit einer Ordnungsbusse von CHF 100 davonkommen.

Der Drei-Sekunden-Blick

BGE 1C_470/2020: Handy am Steuer, das wird teuer

Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Annullation seines Führerausweises auf Probe. Grund für die Annullation ist der Vorwurf einer leichten Widerhandlung, die allerdings wegen einer vorbelastenden mittelschwerden Widerhandlung zur zweiten Widerhandlung wird, die einen Führerscheinentzug zur Folge hat. Logische Konsequenz ist die Annullation des FAP gemäss Art. 15a SVG. Konkret wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, dass er innerorts während drei Sekunden auf sein Mobiltelefon geschaut hat um ein Lied zu wechseln. Der Entscheid liest sich recht gut, weil er die Rechtsprechung zur Aufmerksamkeit und zum Vornehmen einer Verrichtung gut zusammenfasst. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass ein besonders leichter Fall vorliegt.

Die Vorinstanz war der Meinung, dass ein Blick für ca. drei Sekunden innerorts kein besonders leichter Fall mehr ist. Bei 50km/h legt man dabei ca. 40 Meter zurück. Eine Distanz, in welcher Fussgänger auf die Strasse laufen oder von Querstrassen andere Motorfahrzeuge einfahren könnten. Auch ein Bedienen der Auto-Stereoanlage für drei Sekunden wäre unter diesen Umständen verboten gewesen (E. 3.1). Der Beschwerdeführer bezieht sich auf den Strafbefehl, in welchem festgehalten wurde, dass keine Dritten gefährdet wurden, woraus er schliesst, dass lediglich eine abstrakte Gefahr vorlag, welche dem Autofahren immanent ist. Dem entgegnet das Bundesgericht, dass die Strafbehörde mit dem Fehlen einer Gefahr, eine konkrete meinte. Hätte es gar keine Gefährdung gegeben, hätte auch keine Bestrafung nach Art. 90 SVG erfolgen dürfen (E. 3.3).

Zur pflichtgemässen Beherrschung eines Motorfahrzeuges gehört, dass man seine Aufmerksamkeit der Strasse widmet. Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich stets nach den Einzelfallumständen, also der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht sowie den voraussehbaren Gefahrenquellen. Die lenkende Person darf während dem Autofahren keine Verrichtung vornehmen, welche die Bedienung des Fahrzeuges erschwert (vgl. Art. 3 VRV). Eine Hand muss stets am Steuer sein, wobei mit der anderen Hand geschaltet, geblinkt, gehupt usw. werden kann. Dauert eine solche Verrichtung nur sehr kurz und muss dabei weder der Blick vom Verkehr abgewendet noch die Körperhaltung geändert werden, so kann eine Erschwerung der Fahrzeugbedienung in der Regel verneint werden (E. 4.1).

Das Bundesgericht befasst sich sodann übersichtlich mit seiner bisherigen Rechtsprechung (E. 4.2). Erlaubt ist:

  • Kurzer Blick auf Armaturen, wenn es der Verkehr zulässt
  • Lesen einer Zeitung im Stau in den Phasen des Stillstandes
  • Halten eines Mobiltelefons mit einer Hand auf der Autobahn für 15s

Nicht erlaubt dagegen:

  • Schreiben einer SMS beim Fahren
  • Ein Papier auf dem Lenkrad beschreiben
  • Während 7s auf ein Papier auf dem Steuer schauen
  • Einige Sekunden auf ein Navi beim Steuer schauen
  • Ein Lasermessgerät während drei Sekunden bedienen
  • Mit der rechten Hand ein Handy bedienen und die linke Hand nicht am Steuer

Daraus schliesst das Bundesgericht, dass der Beschwerdeführer den Bogen überspannt hat und eine Verrichtung vorgenommen hat, die das Autofahren erschwerte (E. 4.3). Ein besonders leichter Fall liegt nicht vor. Zwar ist die Dauer von drei Sekunden relativ kurz. Trotzdem legte er dabei einen Weg von 40m zurück und widmete seine Aufmerksamkeit nicht uneingeschränkt dem Verkehr, auch wenn er die Strasse im Gesichtsfeld hatte.

Die Annullation des FAP erfolgte zu Recht. Das Handy gehört grds. ins Handschuhfach. Der Vollständigkeit halber wird hier noch darauf hingewiesen, dass in absehbarer Zukunft leichte Widerhandlungen, die kaskadenbedingt zu einem Führerscheinentzug führen, keine Annullation des FAP mehr zur Folge haben sollen. Die entsprechende Motion 15.3574 wurde im Parlament angenommen.

Handyblick

BGE 1C_422/2016: Der besonders leichte Fall

Ein Autofahrer blickt auf der Autobahn während 7 Sekunden auf ein Papier und legt dabei eine Strecke von 150m zurück. Er wehrt sich gegen die Verwarnung (StVA BE).

Das BGer: „Das Mass dieser Aufmerksamkeit richtet sich nach den gesamten konkreten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 137 IV 290 E. 3.6 S. 295 mit Hinweis). Demnach darf ein Fahrer, wenn es die Verkehrssituation erlaubt, zum Ablesen der Geschwindigkeit oder der Treibstoffreserve kurz auf das Armaturenbrett blicken, ohne dass ihm eine ungenügende Aufmerksamkeit zur Last gelegt werden könnte (vgl. Urteil 1C_183/2016 vom 22. September 2016 E. 2.1). Gleiches gilt bei einem Fahrzeugführer, der in Phasen des Stillstands seines Fahrzeugs im Stau eine Zeitung liest und diese in den Phasen des Aufrückens um einige Meter im Schritttempo teils auf seinen Oberschenkeln, teils am Lenkrad aufgestützt lässt (Urteil 6P.68/2066 vom 6. September 2006 E. 3.3).“ „Im Weiteren kann entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht auf einen besonders leichten Fall im Sinne von Art. 16a Abs. 4 SVG erkennt werden: Die vom ihm geschaffene objektive Gefährdungslage kann nach dem Vorerwähnten nicht als besonders gering eingestuft werden.“ „Vielmehr ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass diese durchaus auch Anlass für eine strengere, über eine leichte Widerhandlung hinausgehende Beurteilung hätte geben können.“

Die Verwarnung war OK und es hätte gar ein strengeres Urteil geben können.