Fahreignung bei Ausländern und weitere Urteile

Hallo geschätzte SVG-Nerds
Einige Urteile haben sich seit dem letzten Post angesammelt. Da sich darunter keine absoluten Blockbuster befinden, erfolgt deren Aufarbeitung – wie auch schon – in telegramartiger Kurzzusammenfassung. Die ersten beiden Entscheide zeigen, dass das Strassenverkehrsrecht auch gegenüber ausländischen Staatsangehörigen wirksam ist, deren charakterliche Fahreignung zweifelhaft ist.

Urteil 1C_619/2022: Auch Ausländer müssen Charakter haben

Mit diesem Urteil bestätigt das Bundesgericht, dass die Regeln für Ausweisentzüge auch für Fahrverbote bei Ausländern gelten. So wurde bei einem Italiener, der ein Raserdelikt beging, mehrere Vorbelastungen hatte und sich weigerte, eine Fahreignungsabklärung zu machen, zu Recht eine Sicherungsaberkennung auf unbestimmte Zeit wegen fehlender charakterlicher Fahreignung angeordnet.

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Der Beschwerdeführer ist Italiener, wohnt in Italien und besitzt eine italienische Fahrerlaubnis. Im Mai 2018 fuhr er auf der Autobahn 201 km/h, wofür er wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. IM März 2021 wurde die Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers für vier Jahre aberkannt, von Januar 2021 bis Januar 2025. Die Wiederzulassung zu Schweizer Strassen wurde von einem positiv lautenden verkehrspsychologischen Gutachten, dem Ablauf der Sperrfrist sowie einem klaglosen Verhalten abhängig gemacht. Der Beschwerdeführer verlangt vor Bundesgericht die Anordnung eines Fahrverbotes von 48 Monaten. Von sichernden Massnahmen, also der verkehrspsychologischen Abklärung, sei aber abzusehen.

Die Verkehrszulassungsverordnung enthält in Art. 42ff. regeln für Motorfahrzeugführer aus dem Ausland. Ausländische Führerausweise werden gemäss Art. 45 Abs. 1 VZV nach den gleichen Regeln aberkannt, die auch für den Entzug von Schweizer Führerausweisen gilt. Entzogen werden dürfen ausländische Ausweise aber nicht, da damit das Territorialitätsprinzip verletzt würde. Die Fahreignung ist eine generelle Grundvoraussetzung für das Führern von Motorfahrzeugen in der Schweiz (Art. 14 SVG). Ist jemandem die Fahreignung – medizinisch oder charakterlich – abzusprechen, muss die Fahrerlaubnis entzogen bzw. aberkannt werden (Art. 16d SVG).

Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass es für die Aberkennung einer ausländischen Fahrerlaubnis keine genügende gesetzliche Grundlage gäbe und dass die Aberkennung im Widerspruch zu Art. 42 Abs. 3 des
Wiener Übereinkommen vom 8. November 1968 über den Strassenverkehr (SR 0.741.10) stehe, der grds. eine Anerkennungspflicht von ausländischen Führerausweisen vorsehe. Dem widerspricht das Bundesgericht, denn die Norm soll es eben gerade erlauben, Sicherungsmassnahmen gegenüber Ausländern anzuordnen. Da diese nur für die Schweiz gelten, wird auch das Territorialitätsprinzip nicht verletzt. Der italienische Staat kann selber entscheiden, ob er gegenüber dem Beschwerdeführer Massnahmen ergreift oder nicht (E. 4).

Der Beschwerdeführer erachtet die Aberkennung auf unbestimmte Zeit zudem als unverhältnismässig. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass bei einem ersten Raserdelikt lediglich eine Warnmassnahme von zwei Jahren angeordnet werden darf. Allerdings widerspricht das Bundesgericht auch diesem Argument. Der Beschwerdeführer ist einschlägig vorbelastet. Innert drei Jahren beging er nicht nur ein Raserdelikt, sondern fünf weitere Geschwindigkeitsüberschreitungen im Bereich einer schweren Widerhandlung. Zudem war der Beschwerdeführer gemäss den Feststellungen der Vorinstanz nicht bereit, bei der Abklärung seiner charakterlichen Fahreignung mitzuwirken. Bei der grossen Anzahl als Widerhandlungen durfte die Vorinstanz ohne weiteres von einer Rücksichtslosigkeit gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG ausgehen. Die Sicherungsaberkennung war damit ohne weiteres erforderlich und geeignet und die Verkehrssicherheit in der Schweiz zu gewährleisten, auch wenn vorher kein Gutachten eingeholt wurde. Schliesslich durfte für die Wiederzulassung auch ein klagloses Verhalten gefordert werden (E. 5).


Urteil 1C_536/2022: „Das hier ist nicht die deutsche Autobahn!“

Dieser Entscheid befasst sich vorbildlich mit der Bindung der Administrativbehörde an den im Strafverfahren gefällten Entscheid. Ausländer können sich nicht darauf berufen, dass sie nicht gewusst hätten, dass sie sich bereits im Strafverfahren wehren müssen. Der Entscheid äussert sich zudem zum Schematismus bei Geschwindigkeitsdelikten und zur vorsorglichen Aberkennung von ausländischen Führerausweisen.

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Der Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger und wohnt auch in Deutschland. Ihm gegenüber wurden schon diverse Fahrverbote wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen angeordnet. Schliesslich wurde seine Fahrerlaubnis wegen einer schweren Widerhandlung im Februar 2022 vorsorglich für immer aberkannt. Wegen dieser jüngsten Geschwindigkeitsüberschreitung wurde der Beschwerdeführer mit einer unbedingten Geldstrafe strafrechtlich verurteilt.

Der Beschwerdeführer rügt zunächst einen willkürlich festgestellten Sachverhalt. Der Blitzkasten habe nicht richtig funktioniert und man sei von einer falschen Höchstgeschwindigkeit ausgegangen. Die kantonale Behörde ging vom Sachverhalt aus, sowie er im Strafverfahren festgestellt wurde.

Zur Bindung nur kurz: Die Administrativbehörde ist grds. an den Strafentscheid gebunden. Nur wenn sie feststellen muss, das der Entscheid im Strafverfahren auf offensichtlich unrichtig festgestellten Tatsachen beruht, muss sie eigene Abklärungen treffen. In der rechtlichen Würdigung eines Sachverhalts hingegen ist die Administrativbehörde grds. frei. Sie muss aber auch hier darauf achten, dass sie den Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ einhält, also dass die Massnahme im Administrativverfahren zur Strafe im Strafverfahren nicht total widersprüchlich ist.

In Deutschland werden Fahrverbote (soweit ich weiss) von der Strafbehörde ausgesprochen, also z.B. mit einem Bussgeldbescheid oder einem Strafbefehl. Trotzdem konnte der Beschwerdeführer als deutscher Staatsangehöriger sich nicht darauf berufen, dass er die Schweizerische Dualität der Verfahren nicht kannte und deshalb den Entscheid im Strafverfahren nicht anfechtete. Das Bundesgericht erwartet von Ausländern, insb. jenen die hier beruflich unterwegs sind, dass sie sich zumindest oberflächlich mit den in der Schweiz geltenden Regeln auseinandergesetzt haben. Beim Beschwerdeführer gilt das umso mehr, da ihm gegenüber schon diverse Fahrverbote angeordnet wurden (E. 3).

Der Beschwerdeführer überschritt die Geschwindigkeits-Limite von 60 km/h auf der Autobahn um 36 km/h. Das ist gemäss der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Schematismus ohne weiteres eine schwere Widerhandlung (E. 4).

Und schliesslich erfolgte i.c. die vorsorgliche Aberkennung zu Recht, denn bei einer drohenden Sicherungsaberkennung ist es wegen der Verkehrssicherheit nicht verantwortbar den betroffenen Lenker weiterfahren zu lassen. Bei Sicherungsmassnahmen haben aus diesem Grund Rechtsmittel grds. auch keine aufschiebende Wirkung (E. 5).


Urteil 1C_600/2022: Wiederzulassung zum Strassenverkehr nach Drogensucht

Dieses Urteil befasst sich mit der Verhältnismässigkeit von medizinischen Auflagen, die für eine Wiedererteilung einer sicherheitshalber entzogenen Fahrerlaubnis nötig sind.

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Dem Beschwerdeführer wurde der Führerausweis im Jahr 1995 wegen einer Drogenproblematik (Heroin) entzogen. Nachdem ihm der Führerausweis unter Auflagen im Juli 2015 wiedererteilt wurde, musste die Fahrerlaubnis aber schon wieder im Oktober 2016 entzogen werden, da der Beschwerdeführer Kokain konsumierte und damit gegen die Auflagen verstiess. In der Folge verliefen drei verkehrsmedizinische Begutachtungen für den Beschwerdeführer negativ. Bei jüngsten Abklärung im August 2021 bestätigte die Haaranalyse zwar eine knapp sechsmonatige Drogenabstinenz. Dafür wurde ein übermässiger Alkoholkonsum (35pg/mg ETG) festgestellt. Schliesslich wurde für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis vorausgesetzt:
– Alkohol- und Drogenabstinenz, Nachweis mittels Haaranalyse
– Fortsetzung einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung
– Beibringen eines pneumologisch-schlafmedizinischen Berichts
– Aktuelles verkehrsmedizinisches Gutachten und
– Neue theoretische und praktische Führerprüfung.

Der Beschwerdeführer erachtet einerseits die Begutachtung als willkürlich und andererseits die Voraussetzungen für die Wiederzulassung zum Strassenverkehr als derart unverhältnismässig, dass ihm eine Rückkehr auf die Strassen faktisch verunmöglicht werde. Aus seiner Sicht werde bei ihm zu Unrecht von einer Sucht ausgegangen, die seine Fahreignung gemäss Art. 16d Abs. 1 lit. b SVG ausschliesse.

Der verkehrsmedizinische Suchtbegriff deckt sich nicht mit dem schulmedizinischen. Eine Sucht aus verkehrsrechtlicher Sicht liegt dann vor, wenn jemand soviel „Genussmittel“ konsumiert, dass die Gefahr besteht, dass die Person im Rauschzustand am Strassenverkehr teilnimmt (ausführlicher zum Suchtbegriff E. 2.1.2). Die Kontrolle von Alkohol- und Drogenabstinenzen per Haaranalyse ist ohne weiteres möglich. Ab einem EtG-Wert von 30 pg/mg im Haar gilt ein Alkoholkonsum als übermässig. Die Haaranalyse des Beschwerdeführers ergab bei der letzten Begutachtung einen EtG-Wert von 35 pg/mg. Im Gutachten wird deshalb von einer Suchtverlagerung ausgegangen. Dass der Beschwerdeführer nie alkoholisiert Auto gefahren ist, ist dabei unerheblich. Im Gutachten muss auch nicht der Betäubungsmittel- und Alkoholkonsum unabhängig von einander beurteilt werden, sondern es ist korrekt, wenn die Lebensgeschichte der Betroffenen Person ganzheitlich beurteilt wird. Insofern war das Gutachten schlüssig begründet und damit für die Behörden verbindlich (zu allem ausführlich E. 2).

Nach einer Sicherungsmassnahme erfolgt die Wiedererteilung eines Führerausweises in der Regel mit Auflagen (Art. 17 Abs. 3 SVG). Auflagen müssen dem Einzelfall entsprechen und verhältnismässig sein. Insb. bei der Überwindung von Süchten sind längere Abstinenz-Auflagen ein geeigneter Eingriff in die Grundrechte, um einerseits eine Person wieder am Strassenverkehr teilnehmen zu lassen, aber zugleich auch die Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Die im vorliegenden Fall für die Wiederzulassung angeordneten Voraussetzungen sind ohne weiteres gerechtfertigt (zum Ganzen E. 3).


Urteil 1C_219/2023: Der Grundsatz der lex mitior hat auch seine Grenzen

In diesem Fall befasst sich das Bundesgericht mit einem kaskadenbedingt viermonatigen Ausweisentzug. Die Vorbelastung war ein Rechtsüberholen bzw. schwere Widerhandlung. Auch wenn heute Rechtsüberholen in gewissen Fällen milder bestraft wird, kann darauf nicht mehr zurückgekommen werden.

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Der Beschwerdeführer wurde wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung mit einer Busse bestraft. Er hielt auf der Autobahn zu einem vorfahrenden Auto bei 96 km/h lediglich einen Abstand von 18.2 m bzw. 0.68 s. Wegen einer mittelschweren Widerhandlung wurde ihm der Führerausweis entzogen, weil er mit einer schweren Widerhandlung wegen Rechtsüberholens vorbelastet ist.

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass seine aktuelle Widerhandlung mittelschwer ist und damit bei einer Vorbelastung mit einer schweren Widerhandlung ein mind. viermonatiger Ausweis-Entzug folgen muss (Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG). Er stört sich aber daran, dass seine Vorbelastung, ein als schwere Widerhandlung geahndetes Rechtsüberholmanöver, bei der aktuellen Beurteilung als schwere Vorbelastung gewertet wird und damit zu einer viermonatigen Massnahme führt. Gemäss der neueren Rechtsprechung zum Rechtsüberholen kann ein solches Manöver auch ein Ordnungsbussentatbestand erfüllen und damit nicht massnahmewürdig sein (vgl. BGE 149 II 96).

Der Grundsatz der lex mitior ist auch im Administrativmassnahmen-Verfahren anwendbar (Art. 102 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 StGB). Der Grundsatz regelt, wann ein Gericht (oder im Bereich des SVG auch eine Verwaltungsbehörde) einen bestimmten Sachverhalt nicht anhand des Rechts zu beurteilen hat, das bei Tatbegehung gegolten hat, sondern gestützt auf die im Urteilszeitpunkt geltenden (milderen) Normen. Dem Beschwerdeführer geht es aber nicht um den aktuellen Fall, sondern um die längst rechtskräftige Vorbelastung. Dies sprengt allerdings den Anwendungsbereich der lex mitior. Diese gilt einzig für noch nicht beurteilte Sachverhalte und stellt für sich alleine keinen Revisionsgrund dar. Die Anwendung des milderen Rechts auf sämtliche Vorbelastungen bezeichnet das Bundesgericht als unpraktikabel, da dies faktisch in den meisten Fällen auch gar nicht mehr möglich wäre. Zudem wäre der behördliche Aufwand immens.


Urteil 1C_284/2022: Woher das Haar kommt, ist sekundär…

Dieses Urteil befasst sich mit dem Nachweis einer Trunksucht mittels Sekundärhaare. Diese können ohne weiteres für die verkehrsmedizinische Begutachtung herangezogen werden, sofern sich das Gutachten nicht nur auf die Haaranalyse abstellt.

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Der Beschwerdeführer geriet in eine Polizeikontrolle mit einer Atemalkoholkonzentration von 0.82 mg/L. Seine Fahrerlaubnis wurde daraufhin vorsorglich entzogen und eine Fahreignungsabklärung angeordnet. Die Begutachtung verlief negativ, weil im Beinhaar des Beschwerdeführers ein EtG-Wert von 56 pg/mg festgestellt wurde. Der im Zeitpunkt der Begutachtung kurzgeschorene Beschwerdeführer stört sich daran, dass die Haaranalyse in seinem Fall nicht an Kopfhaar durchgeführt wurde. Er stützt sich dabei medizinische Lehrmeinungen, nach welchen Haaranalysen anhand von Sekundärhaaren nur zurückhalten durchgeführt werden sollten. Nach seiner Ansicht hätte man ihn auffordern müssen, die Kopfhaare wachsen zu lassen. Sekundärhaar eignet sich aus seiner Sicht höchstens für eine Abstinenzkontrolle, nicht aber für die Bestimmung von Konsumationszeitspanne oder konsumierte Menge.

Auch wenn es andere Lehrmeinungen zu Sekundärhaaren gibt, geht der Beschwerdeführer nicht darauf ein, dass gemäss den Empfehlungen der SGRM zur Haaranalyse bei fehlendem Kopfhaar auf Arm-, Bein- oder Brustbehaarung ausgewichen werden kann (E. 2.3). Sofern die Beinhaare mind. 3 cm lang sind, können sie also ohne Weiteres für eine Haaranalyse herhalten (E. 2.4).

Sodann stütze sich die Begutachtung nicht ausschliesslich auf die Haaranalyse. Das Gutachten berücksichtigte auch die weiteren Einzelfallumstände, welche gemäss Rechtsprechung geprüft werden müssen:
– Prüfung der persönlcihen Verhältnisse inkl. Fremdberichte
– Gründliche Aufarbeitung von Trunkenheitsfahrten
– Spezifische Alkoholanamnese
– Umfassende medizinische Untersuchung.
All diese Einzelheiten wurden bei der Begutachtung berücksicht. Schliesslich nützt es dem Beschwerdeführer auch nichts, dass er bis jetzt einen reinen verkehrsrechtlichen Leumund hatte.

Der definitive Sicherungsentzug nach der negativ ausgefallenen Begutachtung wurde also zu Recht angeordnet.

Kleiner Wochenrückblick

Diese Woche sind einige Urteile gefallen, wobei aber keine Blockbuster darunter sind. Deshalb fassen wir diese Urteile summarisch zusammen:

Urteil 6B_1430/2021: Rechtliches Gehör im Berufungsverfahren (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird eine einfache Verkehrsregelverletzung vorgeworfen, weil er im November 2017 mit einem Sattelschlepper einen Selbstunfall verursachte. Nachdem er bereits im Urteil 6B_1177/2019 wegen willkürlicher Beweiswürdigung vor Bundesgericht reüssierte, gelangt er in dieser Sache ein weiteres Mal vor Bundesgericht. Er rügt dabei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil die kantonale Berufungsinstanz zunächst eine mündliche Berufungsverhandlung ansetzte und dann doch plötzlich das schriftliche Verfahren anordnete.

Die Berufungsverhandlung ist grds. mündlich durchzuführen. Das schriftliche Verfahren kann nur in den Fällen von Art. 406 StPO angeordnet werden, z.B. wenn Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils bilden und keine reformation in peius droht (Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO). Die schriftliche Durchführung des Verfahrens muss mit Art. 6 EMRK zu vereinbaren sein, d.h. sich auf Fragen beschränken, die eine Anhörung der beschuldigten Person unnötig erscheinen lassen. Das Gericht muss dies von Amtes wegen prüfen (zum Ganzen E. 1.2.1). Das schriftliche Verfahren richtet sich nach Art. 406 Abs. 3 StPO, d.h. die appellierende Person muss die Gelegenheit haben, ihre Berufung schriftlich zu begründen. Es ist offensichtlich, dass die Gerichte im Rahmen des rechtlichen Gehörs die beschuldigte Person anhören müssen. Ist ein kantonales Urteil mangelhaft begründet, weist das Bundesgericht diesen zurück (Art. 112 Abs. 3 BGG).

Im vorliegenden Fall ordnete die Vorinstanz zunächst eine mündliche Verhandlung an, verlangte vom Beschwerdeführer eine schriftliche Berufungsbegründung, wobei sie darauf hinwies, dass dieser an der Verhandlung noch Ergänzungen anbringen könne. Der Beschwerdeführer reichte daraufhin eine „summarische“ Berufungsbegründung ein. Darauf wechselte die Vorinstanz in schriftliche Verfahren, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, sich zu äussern oder seine Berufungsbegründung zu ergänzen. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Urteil 6B_26/2022: Kein milderes Recht für Personenwagen mit Anhänger

Seit Januar 2021 dürfen Personenwagen mit Anhänger auf der Autobahn 100 km/h schnell fahren (Art. 5 Abs. 2 lit. c VRV). Der Beschwerdeführer überschritt im März 2019 auf der Autobahn mit einem Anhänger die damals für diese Fahrzeugkombination geltende Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 36 km/h, wofür er zunächst wegen grober, dann im Rechtsmittelverfahren wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit Busse von CHF 600.00 bestraft wurde. Da mittlerweile die Bestimmungen für Personenwagen mit Anhänger änderten, verlangt der Beschwerdeführer die Bestrafung mit einer Ordnungsbusse von CHF 180.00. Da man mit Anhängern bis 3.5 t heute 100 km/h fahren darf, überschritt er die Geschwindigkeit nach heutigem und milderem Recht nur noch um 16km/h, womit aus seiner Sicht eine Ordnungsbusse fällig würde (Ziffer 303.3.d).

Die Anwendung des milderen Rechts nach Art. 2 Abs. 2 StGB gilt nicht uneingeschränkt. Damit die lex mitior angewendet wird, muss die Gesetzesänderung aufgrund einer ethischen Neubewertung des verbotenen Verhaltens erfolgt sein (zum Ganzen E. 1.2.2; s. auch der Beitrag vom August 2022). Auch wenn das Bundesgericht der Begründung der Vorinstanz nicht folgt (E. 1.3), weist es die Beschwerde dennoch ab, denn aus seiner Sicht erfolgte die Änderung der Höchstgeschwindigkeit für Anhänger nicht wegen einer „ethischen Neubewertung“. Es verweist auch auf einen älteren Entscheid, nach welchem die Änderung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn nicht bedeutet, dass Widerhandlungen vor der Änderung nicht trotzdem bestraft werden müssen (BGE 123 IV 84 E. 3b).

Urteil 6B_1201/2021: Die Havarie des modernen Autos

Der Beschwerdeführer überschritt innerorts die Geschwindigkeit um 27 km/h, wofür er wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch, subsidiär die Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, weil sein Fahrzeug einer „Havarie“ unterlegen sei. Das Bundesgericht verweist natürlich zunächst auf den bei Geschwindigkeitsüberschreitungen geltenden Schematismus, wonach die vorliegende Schnellfahrt grds. den objektiven und subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG erfüllt. Liegen allerdings aussergewöhnliche Umstände vor, ist es möglich, dass der Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt ist.

Der Beschwerdeführer behauptete, dass die „automatische Geschwindigkeitserkennung“ seines Autos, auf welche er sich bis jetzt immer verlassen konnte, nicht funktionierte und er, weil er so total von der „Havarie“ seines Autos überrascht war, erst einige Sekunden später reagieren konnte. Sein Verhalten war insofern nicht rücksichtslos, womit der subjektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht erfüllt sei. Einen Beweis für die „Havarie“ brachte der Beschwerdeführer allerdings nicht bei. Ebensowenig wandte er sich nachher an einen Garagisten. Auch wenn sein Fahrzeug eine Fehlfunktion erlitt, hätte der Beschwerdeführer viel schneller reagieren müssen, denn man muss trotz Assistenzsysteme stets aufmerksam sein und Signale beachten.

Rechtsüberholen: Voll im Trend

Urteil 1C_105/2022: Keine Massnahme ohne qualifizierende Merkmale beim Rechtsüberholen (gutgh. Laienbeschwerde)

Rechtsüberholen ist voll im Trend, zumindest in der Jurisprudenz. Nach dem strafrechtlichen Urteil 6B_231/2022, wo der neue Ordnungsbussentatbestand zum Rechtsübeholen nicht angewendet wurde (zum Ganzen der Beitrag vom 22. Juni 2022) und dem Leitentscheid 1C_626/2021, wo im Administrativmassnahmen-Verfahren die lex mitior der Ordnungsbusse analog angewendet und trotz Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung auf eine Massnahme verzichtet wurde (ausführlich dazu der Beitrag vom 10. Dezember 2022) folgt nun ein weiteres Urteil, wo sich ein Motorradfahrer gegen einen kaskadenbedingt 12-monatigen Führerscheinentzug wehrt, weil seine grobe Verkehrsregelverletzung mittlerweile aus seiner Sicht ein Ordnungsbussentatbestand wurde, der ohne administrativrechtliche Sanktion bleiben muss. Das Urteil schliesst nahtlos an den Leitentscheid 1C_626/2021 an, weshalb der vorliegende Beitrag kurz ausfallen kann.

Der Beschwerdeführer überholte auf der Autobahn mit seinem Motorrad ein anderes Fahrzeug, indem er von der Überhol- auf die Normalspur wechselte, am anderen Fahrzeug vorbeifuhr und seine Fahrt dann auf der Normalspur fortsetzte. Es herrschte schwaches Verkehrsaufkommen, schönes Wetter, gute Sicht, die Strasse war trocken und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass die rechts überholte Person irgendwie erschrocken sei.

Rechtsüberholen auf Autobahnen ist grds. verboten. Im Kolonnenverkehr darf man allerdings rechts an anderen Fahrzeugen vorbeifahren (vgl. Art. 36 Abs. 5 VRV). Führt man ein Rechtsüberholmanöver durch, muss gemäss der neuen Rechtsprechung unterschieden werden, ob ein „einfacher“ Fall von Rechtsüberholen vorliegt, der mit Ordnungsbusse bestraft wird, oder ob dem Rechtsüberholmanöver „qualifizierende“ Umstände zugerechnet werden müssen, womit es nach wie vor eine grobe Verkehrsregelverletzung wäre (E. 4). Der Grundsatz der lex mitior wird auch im Administrativmassnahmenverfahren angewendet. Wenn also eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung unter dem neuen Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllt, dann wird keine Massnahme ausgesprochen (vgl. Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Die Vorinstanz begründete ihre Massnahme insofern auch damit, dass das Rechtsüberholmanöver des Beschwerdeführers auch unter dem neuen Recht eine grobe Verkehrsregelverletzung gewesen wäre und keine Ordnungsbusse gegeben hätte, weil von dem Überholen eine erhöht abstrakte Gefährdung ausging (E. 5). Das Bundesgericht verweist zunächst ein bisschen „krampfhaft“ auf seine gefestigte Rechtsprechung, dass Rechtsüberholmanöver grds. als grobe Verkehrsregelverletzungen bzw. schwere Widerhandlungen zu ahnden sind. Im folgenden geht es aber auf seinen Leitentscheid 1C_626/2021 ein, in welchem es definierte, wann der Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 angewendet wird. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 6).

Kurz gesagt, gab es beim vorliegend beurteilten Überholmanöver keine erschwerenden Umstände und damit auch keine erhöht abstrakte Gefahr. Das Wetter war sogar besser als im Leitentscheid 1C_626/2021 beurteilten Sachverhalt (sonnig vs. bewölkt) und der Motorradfahrer bog nach dem Überholen auch nicht mehr auf die Überholspur zurück.

Der 12-monatige Führerausweisentzug wird aufgehoben.

Rechtsüberholen: The Saga Continues

Urteil 1C_626/2021: Der Ordnungsbussentatbestand (gutgh. Beschwerde und zur amtlichen Publikation vorgesehen)

Dieses Urteil schliesst unmittelbar an den Entscheid 6B_231/2022 an, welchen wir hier auch schon behandelt haben. Es ist ein wegweisender Entscheid, denn das Bundesgericht präzisiert in dem Urteil, wann ein Rechtsüberholmanöver auf der Autobahn vom neuen Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 erfasst wird und aus administrativrechtlicher Sicht eine SVG-Widerhandlung vorliegt, welche nicht massnahmewürdig ist. Mit diesem ausführlichen und äusserst gut begründeten Urteil schafft das Bundesgericht Klarheit, wie mit Rechtsüberholmanövern künftig umzugehen sein wird.

Die Ausganglage ist ziemlich identisch mit jener vom Urteil 6B_213/2022. Der Beschwerdeführer führte im Juli 2020 – also noch im „alten“ Recht – auf der A8 bei Matten ein klassisches Rechtsüberholmanöver durch. Er wurde dafür rechtskräftig wegen einer groben Verkehrsregelverletzung bestraft. Das Strassenverkehrsamt Kt. BE entzog dem Beschwerdefüherer daraufhin die Fahrerlaubnis wegen einer schweren Widerhandlung für zwölf Monate, weil der Beschwerdeführer bereits mit einer schweren Widerhandlung vorbelastet war. Dieser stellt sich nun auf den Standpunkt, dass der in Art. 2 Abs. 2 StGB stipulierte Grundsatz der lex mitior auch im Administrativverfahren anwendbar ist. Da er aus seiner Sicht nach neuem Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllte, sei die Anordnung eines Führerscheinentzuges bundesrechtswidrig, denn bei Widerhandlungen, die nach dem Ordnungsbussengesetz sanktioniert werden, werden keine Massnahmen angeordnet (Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Das Strassenverkehrsamt Kt. BE stellte sich auf den Standpunkt, dass Rechtsüberholen nach wie vor sehr gefährlich sei und deshalb als schwere Widerhandlungen sanktioniert werden müssen. Zudem sei für die Beurteilung einer Widerhandlung das Recht massgeblich, welches im Zeitpunkt der Widerhandlung herrschte, was die Anwendung des Grundsatzes der „lex mitior“ per se ausschliesse.

Gemäss Art. 102 Abs. 1 SVG finden die allgemeinen Regeln des StGB bei Widerhandlungen im Strassenverkehr Anwendung, soweit das SVG keine eigenen Regeln enthält. Mangels anderer Regelung im SVG, wird der Grundsatz der „lex mitior“ auch im Administrativverfahren angewendet. Der Grundsatz gilt allerdings nicht ungeingeschränkt. Wurde das Gesetz aus Gründen der Zweckmässigkeit geändert, wird der Grundsatz der „lex mitior“ nicht angewendet. Wenn das strafbare Verhalten aber aus ethischen Gesichtspunkten neu evaluiert wurde und deshalb das Gesetz angepasst, dann kann sich die betroffene Person auf das mildere Recht berufen (zum Ganzen ausführlich und lesenswert E. 4).

Im Folgenden setzt sich das Bundesgericht mit seiner bisherigen Rechtsprechung zum Rechtsüberholen auseinander, den Lehrmeinungen dazu sowie den Beweggründen des Gesetzgebers, welche zur Gesetzesänderung vom 1. Januar 2021 führten. Hervorzuheben ist, dass die Beurteilung, ob das neue Recht milder ist, nicht abstrakt, sondern stets anhand des Einzelfalles zu erfolgen hat. Der Beschwerdeführer führte ein „klassisches“ Rechtsüberholmanöver durch – Spurwechsel auf den Normalstreifen, Vorbeifahren, Wiedereinbiegen auf die linke Fahrbahn. Nach der langjährigen und gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts stellten solche Fahrmanöver stets grobe Verkehrsregelverletzungen gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG dar (E. 5.3.1). Diese Rechtsprechung wurde von der Lehre als zu streng kritisiert, da sie nicht mehr der Realität entspräche. Rechtsüberholen gehört zum Alltag und dass eine rechtsüberholte Person erschrickt und zu Fehlreaktionen verleitet wird, ist eher unrealistisch, zumal die rechtsüberholte Person bei einem allfälligen Spurwechsel den Spurenvortritt beachten muss (E. 5.3.2).

Jetzt wirds interessant: Das Bundesgericht setzt sich nun mit dem neuen Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 auseinander und liefert die langersehnte Antwort, wann ein Rechtsüberholen von der OBV erfasst wird. Das Bundesgericht widmet sich zunächst den Materialen zur Gesetzesänderung. Es stellt dabei fest, dass nach dem Willen des Gesetzgebers – entgegen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts – nicht alle Fälle von Rechtsüberholen als grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung sanktioniert werden sollen. Ansonsten würde die Einführung des Ordnungsbussentatbestandes auch keinen Sinn ergeben. Der Gesetzgeber spezifizierte aber nicht, welche Fälle des Rechtsüberholens denn genau mit Ordnungsbusse bestraft werden sollen. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass „klassische Rechtsüberholmanöver“, welche eine nur geringe (oder keine) Gefährdung beinhalten, vom Ordnungsbussentatbestand erfasst werden. Sobald aber dem Rechtsüberholmanöver erschwerende Umstände hinzukommen und damit auch eine erhöht abstrakte Gefährdung, kommt der neue Ordnungsbussentatbestand nicht zur Anwendung (E. 5.4.3). Im übrigen hat der Bundesrat seine Kompetenzen aus Art. 15 OBG nicht überschritten. Damit muss das Bundesgericht den neuen Ordnungsbussentatbestand zwingend beachten und seine Rechtsprechung anpassen. Es spricht sich aber für eine enge Auslegung und zurückhaltende Anwendung der OBV aus. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 5.5).

Im Anschluss an seine Ausführungen widmet sich das Bundesgericht nun der Widerhandlung des Beschwerdeführers und eruiert, ob diese unter den Ordnungsbussentatbestand subsumiert werden kann. Der Beschwerdeführer führte ein „klassisches“ Rechtsüberholmanöver durch. Die Strassenverhältnisse waren gut, die überholte Person musste ihre Fahrweise nicht anpassen. Die Sicht war gut und die Verkehrsmenge schwach. Erschwerende Umstände waren keine ersichtlich. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich somit auch von jenem aus dem Urteil 6B_231/2022, wo das Überholmanöver bei einer Autobahnausfahrt durchgeführt wurde, wo vermehrt Spurwechsel vorkommen. Zudem wurden in diesem Fall gleich vier Fahrzeuge überholt. Damit fällt die vorliegend beurteilte Widerhandlung mangels erschwerender Umstände unter den Ordnungsbussentatbestand. Deshalb muss vorliegend das mildere Recht angewendet werden. Aufgrund von Art. 16 Abs. 2 SVG darf keine administrativrechtliche Massnahme angeordnet werden. Der Führerscheinentzug von zwölf Monaten wird aufgehoben.

Das mildere Recht(süberholen)

Urteil 6B_231/2022: Ist das nicht eine Ordnungsbusse?

Per 1. Januar 2021 wurden die Regeln zum Rechtsüberholen geändert. Rechtsvorbeifahren wurde entkriminalisiert. Rechtsüberholen ist hingegen weiterhin verboten und wird mit einer Ordnungsbusse geahndet. So steht es auf der Internetseite des ASTRA. Mit dieser Gesetzesänderung sollte nach dem infamosen BGE 142 IV 93 Rechtsklarheit geschaffen werden (vgl. dazu die Erläuterungen des ASTRA vom 10.12.2019). Der Entscheid befasst sich mit der Frage, ob das neue mildere Recht auf altrechtliche Sachverhalte angewendet werden muss.

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, im Juli 2019 auf der Autobahn vier Fahrzeuge rechts überholt zu haben, durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen. Die kantonalen Instanzen verurteilten ihn wegen grober Verkehrsregelverletzung. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass seine Widerhandlung nach dem neuen Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV hätte beurteilt werden müssen.

Art. 2 Abs. 2 StGB beinhaltet den Grundsatz der lex mitior. Hat ein Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen, so wird er nach neuen Recht beurteilt, wenn es für ihn milder ist. Ob das neue Recht milder ist, muss anhand des Einzelfalles geprüft werden (sog. Grundsatz der konkreten Vergleichsmethode). Das Gericht muss die Widerhandlung nach altem und neuem Recht beurteilen und danach vergleichen, nach welchem der Rechte der Täter besser gestellt ist. Die Bestimmung der Rechtslage erfolgt nach objektiven Gesichtspunkten. Steht fest, dass die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens unter neuem Recht fortbesteht, muss in einem zweiten Schritt der Strafrahmen verglichen werden (E. 2.1). Die Vorinstanz erwägt, dass das klassische Rechtsüberholmanöver nach wie vor verboten ist. Zudem gilt der Grundsatz der „lex mitior“ nicht ausnahmslos. Er greift nur, wenn in der neuen Regelung eine andere ethische Wertung zum Ausdruck kommt, nicht jedoch bei Änderungen aus Gründen der Zweckmässigkeit. Zwar kann das klassische Rechtsüberholen unter dem neuen Recht nunmehr mit einer Ordnungsbusse von CHF 250 bestraft werden. Allerdings konnte auch unter dem alten Recht das Rechtsüberholen als einfache Verkehrsregelverletzung geahndet werden. Eine Qualifizierung als grobe Verkehrsregelverletzung ist auch unter dem neuen Recht möglich, denn eine Ordnungsbusse kann gemäss Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG nicht ausgesprochen werden, wenn durch die Widerhandlung jemand erhöht abstrakt gefährdet wurde (E. 2.2).

Daraus folgert das Bundesgericht, dass zwar eine mildere Bestrafung von Rechtsüberholen möglich ist, dass aber der Grundsatz der lex mitior keine Anwendung findet, weil das Rechtsüberholen nach wie vor als (grobe) Verkehrsregelverletzung geähndet werden kann (E. 2.3).

Danach setzt sich das Bundesgericht mit der Qualifikation des Rechtsüberholens als grobe Verkehrsregelverletzung auseinander. Ausführlich geht es dabei auf seine gefestigte Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der groben Verkehrsregelverletzung und des Rechtsüberholens ein. Es bestätigt die Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer sowohl eine ernstliche Gefahr geschaffen hat und rücksichtslos handelte. Erwähnenswert ist, dass das Bundesgericht eine Publikation des Rechtsvertreters erwähnt, in welcher dieser das Bundesgericht einer „evidenzignoranten Rechtsprechung“ bezichtigt. Nach Ansicht des Rechtsvertreters habe der Bundesrat der „blinden Justitia“ durch Änderungen der Verordnung die „längst erhärtete Differenzierungsnotwendigkeit“ zwischen Überholen/Vorbeifahren auf Autobahnen gegenüber anderen Strassenarten verordnet. Diese Kritik nimmt das Bundesgericht zwar zur Kenntnis. Es hält aber an seiner Praxis fest, wonach ein Rechtsüberholmanöver eine erhebliche Unfallgefahr nach sich ziehe. Wird eine Person rechts überholt, reiche deren Reaktion von Erschrecken bis zu ungeplanten Manövern. Rechtsüberholen führt damit grds. zu einer erhöht abstrakten Gefährdung.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Vorsicht Meinung: Die Änderung der Rechtslage sollte eigentlich nach dem Willen des Gesetzgebers zu einfacheren, klaren Verkehrsregeln führen, damit sich Verkehrsteilnehmer danach richten können. Mit diesem Urteil wird die Thematik um das Rechtsüberholen aber wieder „schwammiger“. So stellt sich z.B. die Frage, ob der Ordnungsbussentatbestand „Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen auf Autobahnen und Autostrassen mit mehreren Fahrstreifen“ (vgl. Anhang 1 Ziff. 314.3 OBV) überhaupt je angewendet werden kann, wenn dem Rechtsüberholen nach Ansicht des Bundesgerichts stets eine erhöht abstrakte Gefahr inhärent ist. Zudem widerspricht dieses Urteil der oben verlinkten Medienmitteilung des ASTRA bis zu einem gewissen Grad, wonach das klassische Rechtsüberholen mit einer Ordnungsbusse bestraft wird. Immerhin wird es uns nicht langweilig…