Neues Raserurteil

BGE 6B_1404/2019: Schiefgegangener Fussballjubel

Nach einem Sieg der Italienischen Nationalmannschaft an den Europameisterschaften schloss sich der Beschwerdeführer einem Autocorso an. Nachdem er einem anderen Wagen den Vortritt gelassen hat, beschleunigte der Beschwerdeführer sein Wagen vor einer Bar so stark, dass er die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Das Heck des Wagens brach aus, das Fahrzeug geriet ins Driften und hat sich mit knapp 50km/h um die eigene Achse gedreht. Dabei geriet das Fahrzeug auf das Trottoir und schlitterte knapp an drei Personen vorbei.

Das Bezirksgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen grober Verkehrsregelverletzung. Auf Berufung der Staatsanwalt hin wurde der Beschwerdeführer vom Obergericht wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Vor Bundesgericht verlangt er die Verurteilung wegen Art. 90 Abs. 2 SVG. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

E. 1 – Verwertbarkeit von Handyaufnahmen: Es dreht sich zunächst die Frage, ob private Handyfilme des Corsos und des Unfalles überhaupt beweisrechtlich verwendet werden dürfen. Von privaten rechtswidrig erlangte Beweise sind im Strafprozess nur verwertbar, wenn sie zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich sind (zum Ganzen BGE 6B_1188/2018, Dashcam-Entscheid). Handyaufnahmen dürften unter das Datenschutzgesetz fallen und stellen eine Persönlichkeitsverletzung dar, wenn gefilmte Personen nicht in die Aufnahmen einwilligen. Die Frage der Widerrechtlichkeit der Aufnahme stellt sich i.c. aber nicht, da der Rasertatbestand ein Verbrechen und damit eine schwere Straftat i.S.v. Art. 141 Abs. 2 StPO ist. Die Aufnahmen sind also verwertbar (E. 1.4).

In E. 2 wendet sich der Beschwerdeführer gegen die vorinstanzliche Beweiswürdigung, dass er absichtlich ein Schleuder bzw. Driftmanöber eingeleitet habe. Um es kurz zu machen, das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz. Es liegt keine Willkür vor.

E. 3 – Rasertatbestand: Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass er nicht vorsätzlich handelte und den Kausalverlauf so auch nicht habe vorhersehen können. Insofen läge auch keine besondere Skrupellosigkeit vor. Die Vorinstanz beurteilt die geschaffene Gefahr aber als besonders krass und es sei nur dem Zufall zu verdanken, dass niemand ernsthaft verletzt wurde. Aufgrund seiner geringen Fahrpraxis habe der Beschwerdeführer den durch den Driftversuch verursachten Kontrollverlust in Kauf genommen.

Art. 90 Abs. 3 SVG verlangt ein hohes Risiko eines Unfalles mit Schwerverletzten oder Toten. Das Risiko muss ein qualifiziertes Ausmass erreichen und die „ernstliche Gefahr“ der groben Verkehrsregelverletzung übersteigen. Die Möglichkeit einer konkreten Gefahr muss besonders nahe liegen. Dies bedingt, dass eine konkrete Gefahr oder eine Verletzung aufgrund der Einzelfallumstände nur durch Zufall nicht eintreten. Subjektiv ist (Eventual)Vorsatz gefordert (E. 3.3).

Das Bundesgericht stütz hier die Ansicht der Vorinstanz. Der Beschwerdeführer versuchte im Siegesrausch im Nachgang des Fussballspiels die Besucher einer Bar mit einem Drift zu beeindrucken. Dabei schleuderte er unkontrolliert und knapp an Fussgänger vorbei. Er hatte sein Auto nicht unter Beherrschung und verletzte damit Art. 31 SVG in krasser Weise. Der Beschwerdeführer wusste, dass sich beim Trottoir Personen befanden und wusste ebenfalls um seine geringe Fahrpraxis, insb. bzgl. Stuntmanöver. Er verhielt sich gegenüber den Fussgängern besonders rücksichtslos und nahm eine Gefahr für diese in Kauf.

Das Ausweichmanöver

BGE 6B_351/2017: Das bestrafte Ausweichmanöver (gutgh. Beschwerde)

Endlich wieder einmal ein BGE mit so richtig saftigem SVG-Fleisch am Knochen. Der Beschwerdeführer war mit seinem Lieferwagen auf einer vortrittsberechtigten Strasse mit ca. 50km/h unterwegs. Plötzlich nahm er ein Auto wahr, das etwa 10m vor ihm von einem Parkplatz auf seine Fahrbahn hinausfuhr. Intuitiv leitete er bremsend ein Ausweichmanöver auf die Gegenfahrbahn ein, wobei es zu einer Kollision mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kam, dessen Lenker ein Schleudertrauma erlitt. Wegen dem Unfall wurde der Beschwerdeführer von den kantonalen Instanzen TG wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Das BGer heisst die Beschwerde gut.

E. 1.1./2. zu den Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass in einer Gefahrsituation, in welcher man sich blitzartig für eine Reaktion entscheiden muss, rückblickend dem Reagierenden das Wählen einer objektiv schlechteren Reaktion nicht vorgeworfen werden kann. Die Vorinstanzen hingegen beziehen sich auf ein Gutachten, nach welchem mit einer Vollbremsung die Kollision mit dem vortrittsbelastenden Auto „beinahe“ hätte vermieden werden können. Insofern habe der Beschwerdeführer sein Fahrzeug durch das Vornehmen des Ausweichmanövers nicht beherrscht und gegen Art. 31 SVG verstossen.

E. 1.3. zur Sorgfaltspflichtsverletzung des Fahrlässigkeitsdeliktes im SVG: „Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat.“ “ Die Zurechenbarkeit des Erfolgs bedingt die Vorhersehbarkeit nach dem Massstab der Adäquanz. Weitere Voraussetzung ist, dass der Erfolg vermeidbar war.“ Im Strassenverkehr ergeben sich die Sorgfaltspflichten aus dem SVG. Das Beherrschen des Fahrzeuges setzt voraus, dass der Lenker seine Aufmerksamkeit der Strasse zuwendet (SVG 31 i.V.m. VRV 3). Ebenso muss er seine Geschwindigkeit stets den Umständen anpassen (SVG 32).“ Dies gilt auch beim Befahren von Hauptstrassen, weil auch der Vortrittsberechtigte der allgemeinen Sorgfaltspflicht untersteht und sich nicht blindlings auf sein Vortrittsrecht verlassen darf (BGE 89 IV 140 E. 3c S. 145 mit Hinweisen).“

In gewissen Situationen wird die Sicht des Vortrittsbelastenden in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche dermassen behindert, „dass er zwangsläufig mit dem Vorderteil seines Wagens in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche gelangt, bevor er von seinem Fahrersitz aus überhaupt Einblick in diese erhält. In solchen Situationen ist daher gemäss der Praxis des Bundesgerichts ein sehr vorsichtiges Hineintasten zulässig, wenn der Vortrittsberechtigte das ohne Sicht langsam einmündende Fahrzeug rechtzeitig genug sehen kann, um entweder selbst auszuweichen oder den Wartepflichtigen durch ein Signal zu warnen (BGE 143 IV 500 E. 1.2.2; 127 IV 34 E. 3c/bb S. 43 f.; 122 IV 133 E. 2a S. 136; BGE 105 IV 339 E. 3; je mit Hinweisen). Dabei darf grundsätzlich darauf vertraut werden, dass vortrittsberechtigte Fahrzeuge abbremsen oder sogar anhalten, wenn das einbiegende Fahrzeug aus genügend grosser Entfernung gesehen werden kann (BGE 89 IV 140 E. 3c; Urteil 6B_1185/2014 vom 24. Februar 2015 E. 2.5).

E. 1.4. zur Meinung des BGer: Entgegen den Vorinstanzen erkennt das BGer im Verhalten des Beschwerdeführers keine Sorgfaltspflichtsverletzung und insofern kein schuldhaftes Verhalten. „Vom Fahrzeuglenker wird grundsätzlich eine richtige, situationsadäquate Reaktion verlangt. Doch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass der Fahrzeuglenker im Strassenverkehr überraschend in eine kritische Situation kommen kann, in der Fehlentscheide möglich und verständlich sind. Unvermutet auftretende Gefahren stellen oft hohe und höchste Ansprüche an die Reaktionsfähigkeit der Betroffenen, weshalb dem Fahrzeugführer nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn sich seine Reaktion im Nachhinein, nach ruhigem Überlegen und Abwägen, allenfalls nach Durchführung einer technischen Expertise, als nicht die beste aller denkbaren Reaktionsweisen erweist, jedenfalls so lange nicht, als die getroffene Reaktion verständlich und nicht als abwegig oder gar kopflos erscheint (Urteil 1C_361/2014 vom 26. Januar 2015 E. 3.1 mit Hinweisen).“ „Das Bundesgericht verlangt, dass die ergriffene Massnahme und diejenige, welche ex post als die zweckmässigere erscheint, annähernd gleichwertig sein müssen und dass der Fahrzeugführer deren unterschiedliche Wirksamkeit nur deshalb nicht erkannte, weil die plötzlich eingetretene Situation eine augenblickliche Entscheidung erforderte. Wo eine Vorkehr im Vergleich zu andern sich aber derart aufdrängt, dass sie auch im Falle der Notwendigkeit sehr rascher Reaktion als die näherliegende und angemessenere erkannt werden kann, ist es als Fehler anzurechnen, wenn trotzdem eine weniger geeignete getroffen wird.“

Das Ausweichmanöver war nach der Ansicht des BGer im Vergleich zu einer Vollbremsung eine mehr oder weniger gleichwertige Reaktion, weshalb die Kollision nicht schuldhaft verursacht wurde. Erneut erscheint das Bundesgericht als Vertreter des gesunden Menschenverstandes und bewegt sich nach dem zu strengen BGE 6B_1006/2016 in die richtige Richtung.

THC-Carbonsäure-Grenze und Ausweichemanöver

VGE GL vom 29.06.2017: Fahreignungsabklärung ab einem THC-COOH-Wert (THC-Carbonsäure) von 75µg/L (Bestätigung Rechtsprechung)

Bei einer Verkehrskontrolle fiel der Drogenschnelltest positiv auf Cannabis aus. Das IRM Bern führte eine Blutprobe durch. Der THC-Wert war mit 1.4µg/L unter dem in Art. 34 ASTRA-VO stipulierten Grenzwert, weshalb keine Fahrunfähigkeit vorlag. Das Strassenverkehrsamt verfügte aber eine Fahreignungsabklärung wegen dem höheren THC-COOH-Wert von 68µg/L. Das VGer heisst die Beschwerde gegen die Abklärung gut.

E. 5.2: „Eine Studie des Instituts für Rechtsmedizin Zürich (IRMZ) empfiehlt eine Fahreignungsprüfung hingegen erst ab einem THC-COOH-Wert von 75 μg/L, weil eine Konzentration im Blut ab diesem Wert mit einem chronischen Cannabiskonsum vereinbar sei (Munira Haag-Dawold, Fahreignungsbegutachtung, in Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2009, St. Gallen 2009, S. 25 ff., 33). Auch bei erstmaligem Fahren unter Cannabiseinfluss wird vertreten, eine verkehrsmedizinische Begutachtung erst ab einem THC-COOH-Wert von 75 μg/L anzuordnen (Isa Thiele, Neue Aspekte in der Fahreignungsbegutachtung beim Drogenkonsum, in Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2005, S. 105 ff., 118). Die Aussagekraft des THC-COOH-Werts wird hingegen in einer neuen Studie des IRM Bern bestritten, da ein solcher Wert mit einer geringen Sensitivität belastet sei. Dabei wird postuliert, die THC-COOH-Glucoronid-Konzentration als zusätzlichen Indikator für die Unterscheidung des gelegentlichen vom häufigen Cannabiskonsumenten zu verwenden (IRM Bern, S. 11).“

E. 5.3: „Naheliegend erscheint es daher, zumindest bei Fahrzeugführern, welche einen einwandfreien automobilistischen Leumund aufweisen und bei denen keine Gefahr eines Mischkonsums oder andere Hinweise für eine fehlende Fähigkeit, Drogenkonsum und Teilnahme am Strassenverkehr trennen zu können, eine verkehrsmedizinische Begutachtung erst ab einem THC-COOH-Wert von 75 μg/L anzuordnen. Dies entspricht zum einen einem namhaften Teil der medizinischen Lehre und zum andern der Praxis anderer deutschschweizer Kantone.“

Der Entscheid deckt sich grds. mit der Rechtsprechung des BGer (BGE 1C_618/2015 E. 3.3).

 

BGE 6B_1006/2016: Das Ausweichmanöver als Nichtbeherrschung

Der Beschwerdeführer weicht auf einer Überlandstrasse in einer Kurve einem unerwartet auf seiner Spur rückwärtsfahrenden Fahrzeug aus, wobei er ins Schleudern gerät und unterhalb der Strasse zum Stillstand kommt. Das BGer bestätigt die Verurteilung wegen SVG 31 I i.V.m. 90 I.

E. 2.1: Zunächst stellt das BGer fest, dass im Bruchteil der Sekunde des Entscheidens in einer gefährlichen Situation auch das Wählen einer suboptimalen Lösung entschuldbar ist („Toutefois, est excusable celui qui, surpris par la manoeuvre insolite, inattendue et dangereuse d’un autre usager ou par l’apparition soudaine d’un animal, n’a pas adopté, entre diverses réactions possibles, celle qui apparaît après coup objectivement comme étant la plus adéquate (cf. arrêt 1C_361/2014 du 26 janvier 2015 consid. 3.1 et références citées)“.

Allerdings kann ab einem gewissen Zeitpunkt das Wählen der schlechteren Lösung dem Fahrer auch wieder angelastet werden („En revanche, lorsqu’une manoeuvre s’impose à un tel point que, même si une réaction très rapide est nécessaire, elle peut être reconnue comme préférable, le conducteur est en faute s’il ne la choisit pas (ATF 83 IV 84; cf. également arrêt 1C_361/2014 du 26 janvier 2015 consid. 3.1 et références citées)“.

E. 2.2/3: In der Folge schützt das BGer die Ansicht der Vorinstanz, dass die erste Lenkbewegung nach rechts zum Ausweichen adäquat war, das brüske Lenken nach links allerdings, um wieder auf die Strasse zu gelangen, war nicht mehr entschuldbar. So wäre ein leichtes nach links Lenken die klar bessere Lösung gewesen.

Ein etwas seltsamer Entscheid. Gerne würde ich die Richter in einer vergleichbaren Situation mit kühlem Gemüt über die Strasse schliddern sehen.