Rechtsüberholen: Voll im Trend

Urteil 1C_105/2022: Keine Massnahme ohne qualifizierende Merkmale beim Rechtsüberholen (gutgh. Laienbeschwerde)

Rechtsüberholen ist voll im Trend, zumindest in der Jurisprudenz. Nach dem strafrechtlichen Urteil 6B_231/2022, wo der neue Ordnungsbussentatbestand zum Rechtsübeholen nicht angewendet wurde (zum Ganzen der Beitrag vom 22. Juni 2022) und dem Leitentscheid 1C_626/2021, wo im Administrativmassnahmen-Verfahren die lex mitior der Ordnungsbusse analog angewendet und trotz Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung auf eine Massnahme verzichtet wurde (ausführlich dazu der Beitrag vom 10. Dezember 2022) folgt nun ein weiteres Urteil, wo sich ein Motorradfahrer gegen einen kaskadenbedingt 12-monatigen Führerscheinentzug wehrt, weil seine grobe Verkehrsregelverletzung mittlerweile aus seiner Sicht ein Ordnungsbussentatbestand wurde, der ohne administrativrechtliche Sanktion bleiben muss. Das Urteil schliesst nahtlos an den Leitentscheid 1C_626/2021 an, weshalb der vorliegende Beitrag kurz ausfallen kann.

Der Beschwerdeführer überholte auf der Autobahn mit seinem Motorrad ein anderes Fahrzeug, indem er von der Überhol- auf die Normalspur wechselte, am anderen Fahrzeug vorbeifuhr und seine Fahrt dann auf der Normalspur fortsetzte. Es herrschte schwaches Verkehrsaufkommen, schönes Wetter, gute Sicht, die Strasse war trocken und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass die rechts überholte Person irgendwie erschrocken sei.

Rechtsüberholen auf Autobahnen ist grds. verboten. Im Kolonnenverkehr darf man allerdings rechts an anderen Fahrzeugen vorbeifahren (vgl. Art. 36 Abs. 5 VRV). Führt man ein Rechtsüberholmanöver durch, muss gemäss der neuen Rechtsprechung unterschieden werden, ob ein „einfacher“ Fall von Rechtsüberholen vorliegt, der mit Ordnungsbusse bestraft wird, oder ob dem Rechtsüberholmanöver „qualifizierende“ Umstände zugerechnet werden müssen, womit es nach wie vor eine grobe Verkehrsregelverletzung wäre (E. 4). Der Grundsatz der lex mitior wird auch im Administrativmassnahmenverfahren angewendet. Wenn also eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung unter dem neuen Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllt, dann wird keine Massnahme ausgesprochen (vgl. Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Die Vorinstanz begründete ihre Massnahme insofern auch damit, dass das Rechtsüberholmanöver des Beschwerdeführers auch unter dem neuen Recht eine grobe Verkehrsregelverletzung gewesen wäre und keine Ordnungsbusse gegeben hätte, weil von dem Überholen eine erhöht abstrakte Gefährdung ausging (E. 5). Das Bundesgericht verweist zunächst ein bisschen „krampfhaft“ auf seine gefestigte Rechtsprechung, dass Rechtsüberholmanöver grds. als grobe Verkehrsregelverletzungen bzw. schwere Widerhandlungen zu ahnden sind. Im folgenden geht es aber auf seinen Leitentscheid 1C_626/2021 ein, in welchem es definierte, wann der Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 angewendet wird. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 6).

Kurz gesagt, gab es beim vorliegend beurteilten Überholmanöver keine erschwerenden Umstände und damit auch keine erhöht abstrakte Gefahr. Das Wetter war sogar besser als im Leitentscheid 1C_626/2021 beurteilten Sachverhalt (sonnig vs. bewölkt) und der Motorradfahrer bog nach dem Überholen auch nicht mehr auf die Überholspur zurück.

Der 12-monatige Führerausweisentzug wird aufgehoben.

Rechtsüberholen: The Saga Continues

Urteil 1C_626/2021: Der Ordnungsbussentatbestand (gutgh. Beschwerde und zur amtlichen Publikation vorgesehen)

Dieses Urteil schliesst unmittelbar an den Entscheid 6B_231/2022 an, welchen wir hier auch schon behandelt haben. Es ist ein wegweisender Entscheid, denn das Bundesgericht präzisiert in dem Urteil, wann ein Rechtsüberholmanöver auf der Autobahn vom neuen Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 erfasst wird und aus administrativrechtlicher Sicht eine SVG-Widerhandlung vorliegt, welche nicht massnahmewürdig ist. Mit diesem ausführlichen und äusserst gut begründeten Urteil schafft das Bundesgericht Klarheit, wie mit Rechtsüberholmanövern künftig umzugehen sein wird.

Die Ausganglage ist ziemlich identisch mit jener vom Urteil 6B_213/2022. Der Beschwerdeführer führte im Juli 2020 – also noch im „alten“ Recht – auf der A8 bei Matten ein klassisches Rechtsüberholmanöver durch. Er wurde dafür rechtskräftig wegen einer groben Verkehrsregelverletzung bestraft. Das Strassenverkehrsamt Kt. BE entzog dem Beschwerdefüherer daraufhin die Fahrerlaubnis wegen einer schweren Widerhandlung für zwölf Monate, weil der Beschwerdeführer bereits mit einer schweren Widerhandlung vorbelastet war. Dieser stellt sich nun auf den Standpunkt, dass der in Art. 2 Abs. 2 StGB stipulierte Grundsatz der lex mitior auch im Administrativverfahren anwendbar ist. Da er aus seiner Sicht nach neuem Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllte, sei die Anordnung eines Führerscheinentzuges bundesrechtswidrig, denn bei Widerhandlungen, die nach dem Ordnungsbussengesetz sanktioniert werden, werden keine Massnahmen angeordnet (Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Das Strassenverkehrsamt Kt. BE stellte sich auf den Standpunkt, dass Rechtsüberholen nach wie vor sehr gefährlich sei und deshalb als schwere Widerhandlungen sanktioniert werden müssen. Zudem sei für die Beurteilung einer Widerhandlung das Recht massgeblich, welches im Zeitpunkt der Widerhandlung herrschte, was die Anwendung des Grundsatzes der „lex mitior“ per se ausschliesse.

Gemäss Art. 102 Abs. 1 SVG finden die allgemeinen Regeln des StGB bei Widerhandlungen im Strassenverkehr Anwendung, soweit das SVG keine eigenen Regeln enthält. Mangels anderer Regelung im SVG, wird der Grundsatz der „lex mitior“ auch im Administrativverfahren angewendet. Der Grundsatz gilt allerdings nicht ungeingeschränkt. Wurde das Gesetz aus Gründen der Zweckmässigkeit geändert, wird der Grundsatz der „lex mitior“ nicht angewendet. Wenn das strafbare Verhalten aber aus ethischen Gesichtspunkten neu evaluiert wurde und deshalb das Gesetz angepasst, dann kann sich die betroffene Person auf das mildere Recht berufen (zum Ganzen ausführlich und lesenswert E. 4).

Im Folgenden setzt sich das Bundesgericht mit seiner bisherigen Rechtsprechung zum Rechtsüberholen auseinander, den Lehrmeinungen dazu sowie den Beweggründen des Gesetzgebers, welche zur Gesetzesänderung vom 1. Januar 2021 führten. Hervorzuheben ist, dass die Beurteilung, ob das neue Recht milder ist, nicht abstrakt, sondern stets anhand des Einzelfalles zu erfolgen hat. Der Beschwerdeführer führte ein „klassisches“ Rechtsüberholmanöver durch – Spurwechsel auf den Normalstreifen, Vorbeifahren, Wiedereinbiegen auf die linke Fahrbahn. Nach der langjährigen und gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts stellten solche Fahrmanöver stets grobe Verkehrsregelverletzungen gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG dar (E. 5.3.1). Diese Rechtsprechung wurde von der Lehre als zu streng kritisiert, da sie nicht mehr der Realität entspräche. Rechtsüberholen gehört zum Alltag und dass eine rechtsüberholte Person erschrickt und zu Fehlreaktionen verleitet wird, ist eher unrealistisch, zumal die rechtsüberholte Person bei einem allfälligen Spurwechsel den Spurenvortritt beachten muss (E. 5.3.2).

Jetzt wirds interessant: Das Bundesgericht setzt sich nun mit dem neuen Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 auseinander und liefert die langersehnte Antwort, wann ein Rechtsüberholen von der OBV erfasst wird. Das Bundesgericht widmet sich zunächst den Materialen zur Gesetzesänderung. Es stellt dabei fest, dass nach dem Willen des Gesetzgebers – entgegen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts – nicht alle Fälle von Rechtsüberholen als grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung sanktioniert werden sollen. Ansonsten würde die Einführung des Ordnungsbussentatbestandes auch keinen Sinn ergeben. Der Gesetzgeber spezifizierte aber nicht, welche Fälle des Rechtsüberholens denn genau mit Ordnungsbusse bestraft werden sollen. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass „klassische Rechtsüberholmanöver“, welche eine nur geringe (oder keine) Gefährdung beinhalten, vom Ordnungsbussentatbestand erfasst werden. Sobald aber dem Rechtsüberholmanöver erschwerende Umstände hinzukommen und damit auch eine erhöht abstrakte Gefährdung, kommt der neue Ordnungsbussentatbestand nicht zur Anwendung (E. 5.4.3). Im übrigen hat der Bundesrat seine Kompetenzen aus Art. 15 OBG nicht überschritten. Damit muss das Bundesgericht den neuen Ordnungsbussentatbestand zwingend beachten und seine Rechtsprechung anpassen. Es spricht sich aber für eine enge Auslegung und zurückhaltende Anwendung der OBV aus. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 5.5).

Im Anschluss an seine Ausführungen widmet sich das Bundesgericht nun der Widerhandlung des Beschwerdeführers und eruiert, ob diese unter den Ordnungsbussentatbestand subsumiert werden kann. Der Beschwerdeführer führte ein „klassisches“ Rechtsüberholmanöver durch. Die Strassenverhältnisse waren gut, die überholte Person musste ihre Fahrweise nicht anpassen. Die Sicht war gut und die Verkehrsmenge schwach. Erschwerende Umstände waren keine ersichtlich. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich somit auch von jenem aus dem Urteil 6B_231/2022, wo das Überholmanöver bei einer Autobahnausfahrt durchgeführt wurde, wo vermehrt Spurwechsel vorkommen. Zudem wurden in diesem Fall gleich vier Fahrzeuge überholt. Damit fällt die vorliegend beurteilte Widerhandlung mangels erschwerender Umstände unter den Ordnungsbussentatbestand. Deshalb muss vorliegend das mildere Recht angewendet werden. Aufgrund von Art. 16 Abs. 2 SVG darf keine administrativrechtliche Massnahme angeordnet werden. Der Führerscheinentzug von zwölf Monaten wird aufgehoben.

Angriff auf Halterhaftung erneut gescheitert

BGE 6B_836/2016: Halterhaftung

Der Beschwerdeführer erhielt als Halter eines Autos eine Ordnungsbusse von CHF 250.00 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Er moniert, dass die Busse das Schuldprinzip verletze, weil er ja nur der Halter des Autos ist, nicht aber der Lenker. Der Beschwerdeführer gab keine anderen verantwortlichen Personen an und verweigerte seine Aussage.

Ordnungsbussen sind Strafen, die grds. ein Verschulden des in Frage kommenden Lenkers voraussetzen. Das Schuldprinzip gilt damit auch im Ordnungsbussenverfahren, auch wenn das Vorleben des Täters sowie seine persönlichen Verhältnisse nicht berücksichtigt werden. Die in Art. 6 OBG stipulierte Halfterhaftung weicht allerdings davon ab.

Ist die Täterschaft unbekannt, wird der formelle Halter eines Fahrzeuges gemäss Art. 6 OBG bestraft, es sei denn, er gibt den verantwortlichen Lenker an. In der Lehre wird diese Abkehr vom Schuldprinzip („nulla peona sine culpa“) – ein Grundpfeiler moderner Strafrechtssysteme – denn auch kritisiert. Das Bundesgericht verweist hier auf Art. 190 BV und seine Bindung an Bundesgesetze, weshalb es sich nicht eingehender zu diesem Konflikt äussert. Ebenso ist das Legalitätsprinzip nicht verletzt, da die Halterhaftung im OBG ja geregelt ist (E. 2.2.2).

Auch die Rüge des Beschwerdeführers, dass die StPO keine Grundlage für den Einsatz von Radargeräten biete, geht fehl. Die Kontrolle des Strassenverkehrs durch die Polizei erfolgt eben nicht im Rahmen eines Strafverfahrens. Der Einsatz von Blitzkästen ist in der Strassenverkehrskontrollverordnung geregelt (E. 2.4).

Halterhaftung bei Ordnungsbussen

BGE 6B_722/2019: Halterhaftung

Mit dem Fahrzeug des Beschwerdeführers wurde auf der Autobahn zu schnell gefahren, wofür ihm eine Ordnungsbusse von CHF 120.00 auferlegt wurde. Das Foto des Messgerätes war schlecht und der Beschwerdeführer konnte nicht sagen, wem er sein Auto gegeben hat. Seine Rechtsbehelfe und –mittel wurden von den kantonalen Instanzen abgewiesen. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch.

Meinungen der Parteien:

Der Beschwerdeführer stellt sich – kurz gesagt – auf den Standpunkt, dass wenn sich ein Fahrzeughalter für das ordentliche Strafverfahren entscheidet, ihm auch die entsprechenden Rechte gewährt werden sollten. Das OBG sei dann nicht mehr anwendbar, insofern auch nicht die Halterhaftung. Es habe eine Verurteilung nach Verschulden zu erfolgen. Wenn er aber als Halter verurteilt würde, so stelle dies eine Haftung nach Verantwortlichkeit dar und es fände eine Beweislastumkehr statt. Die Strafbehörden müssen den Verschuldensnachweis gar nicht mehr führen (E. 1.1).

Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass die Halterhaftung auch im ordentlichen Strafverfahren Anwendung findet. So habe der EGMR die Halterhaftung in einem Fall aus den Niederlanden geschützt. Er muss die Busse halt bezahlen (E. 1.2).

Das BGer:

Das Ordnungsbussenverfahren dient dazu, Bagatelldelikte im Strassenverkehr einfach und effizient zu erledigen (zum Ganzen ausführlich E. 1.3.1). Ist die lenkende Person nicht bekannt, haftet der Halter des Fahrzeuges, es sei denn er gibt den Behörden im Rahmen seiner Auskunftspflicht die verantwortliche Person an (E. 1.3.2). Der Geltungsbereich des OBG bezieht sich auch auf ein nachfolgendes ordentliches Verfahren. Dadurch werden auch die Verfahrensgarantien im ordentlichen Verfahren nicht verletzt. Hinzu kommt, dass es für einen Fahrzeughalter nicht übermässig kompliziert ist, zu wissen, wem er sein Fahrzeug anvertraut. Wieso der Beschwerdeführer seiner Auskunftspflicht nicht nachkommen konnte, legt er nicht dar. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Keine Ordnungsbussen für juristische Personen

BGE 6B_252/2017: Keine Ordnungsbussen für die Firma (gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid dreht sich um die Frage, ob juristische Personen aufgrund der im Ordnungsbussengesetz stipulierten Halterhaftung zu Übertretungsbussen verdonnert werden können, wenn sie den Lenker des auf sie eingelösten Fahrzeug nicht bezeichnen können.

E. 1. zur Halterhaftung: Zunächst beschäftigt sich das BGer damit, ob die Halterhaftung gemäss Art. 6 OBG gegen die Unschuldsvermutung und damit gegen Art. 6 EMRK verstösst. Dieser garantiert ein faires Verfahren und zwingt damit die Anklagebehörde grds. die erforderlichen Beweismittel zu erbringen (E. 1.2.1). Die Unschuldsvermutung gilt allerdings nicht absolut. Bei leichteren Widerhandlungen, die mit geringen Bussen bestraft werden, verstösst eine Halterhaftung nicht gegen Art. 6 EMRK, solange die EMRK-Vertragsstaaten innerhalb vernünftiger Grenzen bleiben (vgl. O’Halloran und Francis gegen Grossbritannien, Urteil vom 29. Juni 2007; Falk gegen Niederlande, Urteil vom 19. Oktober 2004; E. 1.2.2).

Fahrzeughalter akzeptieren grds. die Strassenverkehrsgesetzgebung, aus welcher sich gewisse Obliegenheiten ergeben, z.B. Auskunftspflichten gegenüber Behörden. Weigert sich der Halter, den Lenker anzugeben, kann man ihn nicht dazu zwingen, er hat aber die Konsequenzen daraus zu tragen (E. 1.2.3). Einem Fahrzeughalter ist zuzumuten, die Identität der Person zu kennen, der er sein Fahrzeug anvertraut. Dies gilt auch für juristische Personen. Es entspricht denn auch dem Willen des Gesetzgebers, die Verantwortung des Fahrzeughalters zu stärken und die Behörden von aufwändiger, unverhältnismässiger Ermittlungsarbeit im Bereich ausgesprochener Bagatelldelikte, wie sie im Ordnungsbussenverfahren beurteilt werden, zu entlasten (vgl. E. 1.3.1).

Art. 6 EMRK wird durch die Halterhaftung des OBG nicht verletzt.

E. 2. zur Haltereigenschaft: Die Beschwerdeführerin rügt, dass sie als juristische Person gar kein Auto fahren könne und schon deshalb nicht strafbar sei. Für die Halterhaftung ist gemäss der Rechtsprechung auf den formellen Halterbegriff abzustellen (vgl. BGE 6B_432/2017 E. 2.2). Da die Beschwerdeführerin im Fahrzeugausweis eingetragen ist, gilt sie als Halterin nach OBG.

E. 3. zur Strafbarkeit des Unternehmens: Gemäss Art. 102 StGB werden Unternehmen Straftaten zugerechnet, wenn sie aufgrund mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner natürlichen Person zugerechnet werden können, wobei nur Verbrechen und Vergehen genannt werden. Bei Übertretungen haften juristische Personen nur, wenn dies ausdrücklich im Gesetz geregelt ist (E. 3.1.1). Im Strafrecht muss das Legalitätsprinzip streng angewendet werden. Ohne Gesetz gibt es keine Strafe („nulla poena sine lege“; Art. 1 StGB). Ebenso enspringt dem Legalitätsprinzip das Bestimmtheitsgebot, das besagt, dass Strafnormen so präzise fomuliert sein müssen, dass sich ein Durchschnittsbürger danach auch richten kann („nulla poena sine lege certa“). Der Gesetzgeber wollte mit Art. 6 OBG den Halter bei geringen Straftaten im Verkehr in die Pflicht nehmen. Eine ausdrückliche Bestrafung von juristischen Personen für Übertretungen wird darin aber nicht stipuliert. Insofern verletzt eine Ordnungsbusse, welche einer juristischen Person auferlegt wird, das Legalitätsprinzip (E. 3.2).

Mangels gesetzlicher Grundlage können juristische Personen damit nicht mit verkehrsrechtlichen Ordnungsbussen bestraft werden.

 

Mitwirkungspflicht des Halters im OBG bzgl. Lenkerermittlung

BGE 6B_1007/2016: Halterhaftung und Lenkerermittlung nach OBG (gutgeheissene Beschwerde)

Die Beschwerdeführerin, eine Mietwagenfirma, hat ein Fahrzeug an eine in den USA wohnhafte Person vermietet. Diese überschritt die Geschwindigkeit im Ordnungsbussenbereich. Nachdem die Polizei eine Übertretungsanzeige verschickt hat, hat die Beschwerdeführerin die Lenkerangaben gemacht und ebenfalls den Mietvertrag eingeschickt. Nachdem der Lenker aus den USA auf seine Übertretungsanzeige nicht reagierte, forderte die Polizei wiederum die Mietwagenfirma auf, die Busse zu bezahlen. Die kantonalen Instanzen verurteilten die Beschwerdeführerin zur Zahlung der Ordnungsbusse, das BGer heisst die Beschwerde gut.

Grds. geht es i.c. um die Frage der Halterhaftung gemäss Art. 6 OBG.

E. 1.4. zum Halterbegriff: „Nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 OBG, wonach die Busse dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Fahrzeughalter auferlegt wird, wenn nicht bekannt ist, wer eine Widerhandlung begangen hat, ist auf den formellen Halterbegriff abzustellen.“ „Grundsätzlich können Halter eines Motorfahrzeugs sowohl natürliche als auch juristische Personen sein.“

E. 1.5. zur Mitwirkungspflicht des Halters: „[Die Halter] haben die Möglichkeit, sich zu exkulpieren, nämlich dann, wenn sie glaubhaft darlegen können, dass das Fahrzeug vor Begehung der Widerhandlung gegen ihren Willen benutzt worden ist (zum Beispiel durch Diebstahl oder durch Entwendung zum Gebrauch oder zur Veruntreuung) und sie dies auch mit entsprechender Sorgfalt nicht hätten verhindern können (Botschaft, BBl 2010 8517 f.).“ „Zweifellos darf es sich bei den von einem Halter gemachten Angaben nach Art. 6 Abs. 4 OBG nicht um eine wenig plausible Information handeln. Auch muss Name und Adresse des Fahrzeugführers vollständig sein, d.h. der Halter muss genügend Angaben zur Identität des Fahrzeugführers machen, so dass dieser individualisierbar ist (vgl. Botschaft, BBl 2010 8487).“

Vorliegend hat die Mietwagenfirma nicht nur Name und Adresse des Lenkers genannt, sondern auch den Mietvertrag eingereicht, nach welchem der Mieter die einzige Person war, die berechtigt war, den Mietwagen zu lenken. Damit hat der Halter seine Pflicht getan, die faktische Uneinbringlichkeit der Busse ist Sache der Strafbehörden.