Anklagegrundsatz und automatische Fahrzeugfahndung

Urteil 7B_286/2022: Anklagegrundsatz und der subj. Tatbestand bei SVG-Delikten (tlw. gutgh. Beschwerde)

Wie genau muss die anklagende Strafbehörde den subjektiven Tatbestand bei SVG-Delikten umschreiben? Das Urteil liefert die Antwort.

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Der Beschwerdeführer übersah bei einem Bahnübergang das Wechselblinklicht, worauf es trotz Notbremsung des Zuges zu einer Kollision kam. Er wurde wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer Geldstrafe bestraft, wobei im Strafbefehl stand, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen gehandelt habe. Auf Einsprache hin, wurde der Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen, vom Obergericht allerdings wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft, ohne dass es eine Verbesserung der Anklageschrift (Strafbefehl) gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO  gegeben hätte. Darin erblickt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes.

Nach dem Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) muss der Sachverhalt in einer Anklage vor Gericht so genau umschrieben werden, dass die beschuldigte Person weiss, um was es eigentlich geht. Der Grundsatz ist damit fundamental für die Verteidigung der beschuldigten Person (E. 2.1.1). Gemäss Art. 100 Ziff. 1 SVG ist sowohl die vorsätzliche als auch fahrlässige Begehung von SVG-Delikten möglich. Äussert sich die Anklage nicht ausdrücklich darüber, ob eine Verkehrsregelverletzung vorsätzlich begangen wurde, darf von einer fahrlässigen Tatbegehung ausgegangen werden. Abgeleitet wird dies aus der allgemeinen Pflicht, dass Verkehrsteilnehmer immer aufmerksam sein müssen (E. 2.1.2).

Um es kurz zu machen: Im vorliegenden Fall entschied die Berufungsinstanz, dass sich der Beschwerdeführer der fahrlässigen groben Verkehrsregelverletzung schuldig macht. Sie stützte sich dabei auf den Strafbefehl, welcher aber aber von Vorsatz ausging. Der Staatsanwaltschaft wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre Anklage zu verbessern. Damit verletzte die Vorinstanz aber Art. 405 Abs. 1 i.V.m. 339 Abs. 3 StPO.


Urteil 1C_63/2023: Automatische Fahrzeugfahndung (gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich u.a. ausführlich mit den Voraussetzungen an die gesetzlichen Grundlagen, die für eine automatische Fahrzeugfahndung nötig sind.

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Im Oktober 2022 beschloss der Kantonsrat des Kantons Luzern verschiedene Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes. Unter anderem schuf er in §4quinqies PolG/LU die gesetzlichen Grundlagen für die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle stellen sich verschiedene Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass es sich bei der automatischen Verkehrsüberwachung um einen schweren Eingriff in unter anderem die Grundrechte der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Privatsphäre und informationelle
Selbstbestimmung handle und die vom Kanton Luzern geschaffene gesetzliche Grundlage zu wenig bestimmt ist. Die Bestimmung ermögliche nach Ansicht der Beschwerdeführer auch eine automatisierte Gesichtserkennung. Die Tragweite der Norm sei unklar. Zudem würden Daten auf Vorrat gespeichert, ohne dass sie für ein Strafverfahren relevant wären.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits in BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218 zur automatisierten Fahrzeugfahndung.

Die automatisierte Fahrzeugfahndung ist ein schwerer Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 2 BV garantierte informationelle Selbstbestimmung. Mit solchen System faktisch eine unbegrenzte Erhebung von Daten möglich, der unzählige Personen betrifft und ohne Anfangs-Verdacht erfolgt. Oder anders gesagt: Es besteht das Risiko eines Missbrauchs solcher Systeme. Deshalb müssen die gesetzlichen Grundlagen folgende Details hinreichend bestimmen:

– Verwendungszweck der Daten
– Umfang der Erhebung
– Aufbewahrung und Löschungsmodalitäten
– Bestimmung des Datenabgleichs
– Unverzügliche Löschung von unbenötigten Daten
– Es bedarf ein gewichtiges öffentliches Interesse
– Es darf keine Totalüberwachung vorliegen

Das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 3.2.2).

Im folgenden stellt sich die Frage, ob der Kanton Luzern seine Gesetzgebungskompetenz überschritt. Denn die Gesetzgebungskompetenz für die Strafverfolgung (repressive Polizeiarbeit) liegt bei der Eidgenossenschaft, welche mit der StPO davon umfassend Gebrauch gemacht hat. Die Verantwortung für präventive Polizeiarbeit liegt hingegen bei den Kantonen, wobei sich diese Aufgabengebiete teils überschneiden können (dazu ausführlich E. 3.5). Der Kanton Luzern verzichtete vorliegend darauf, die Prävention als Zweck für die Fahrzeugfahndung in das Gesetz zu nehmen. Aus Sicht des Bundesgerichts liegt damit der Schwerpunkt der Fahrzeugfahndung bei der Strafverfolgung. Da hat der Kanton aber gar keine Gesetzgebungskompetenz. Es bräuchte eine Regelung in der StPO (E. 3.5.3). Die Norm ist unter dem Strich ein unverhältnismässiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Nicht nur ermöglicht sie eine automatisierte Gesichtserkennung, sie lässt ausdrücklich auch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Die generelle Speicherung der Daten auf Vorrat bis zu 100 Tagen verstösst ebenfalls gegen die obgenannten Voraussetzungen. Und schliesslich fehlen noch genauere Bestimmungen, mit welchen Datenbanken ein Datenabgleich erfolgen darf (E. 3.6).

Die entsprechende Norm (und weitere) wird aufgehoben.


Bonus-Urteile

Urteil 6B_1346/2023: Pflichtwidriges Verhalten und Vereitelung

Wer nach einem Unfall mit Sachschaden, nach Hause geht, weil er kein Mobiltelefon dabei hat und dann aber zunächst zur Toilette geht und ein Gläschen Gin trinkt bzw. nicht sofort die Polizei informiert, macht sich gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG strafbar (E. 3). Wer zudem einen Verkehrsunfall verursacht, muss immer mit einer Atemalkoholprobe rechnen. Genehmigt man sich nach dem Unfall ein Gläschen, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a Abs. 1 SVG.

Urteil 1C_599/2024: Unvorsichtiger Spurwechsel

Wer bei einem Spurwechsel mit dem Auto wegen fehlender Aufmerksamkeit beinahe mit einem Scooter kollidiert, begeht eine mittelschwere Widerhandlung.

Die Pflichten nach dem Unfall

Zwei Urteile zu den Pflichten des Autofahrers nach einem Unfall. BGE 6B_626/2018 befasst sich mit den Pflichten nach Sachschaden, BGE 6B_575/2018 mit jenen nach einem Personenschaden.

In BGE 6B_626/2018 fuhr der Beschwerdeführer in ein von der Feuerwehr aufgestelltes Absperrgitter. Nach dem Unfall liess der Beschwerdeführer zwar sein Kontrollschild fotografieren, unterliess es aber, der Feuerwehr seine Personalien anzugeben. Er wehrt sich gegen eine Bestrafung gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG.

E. 1.3/4 zu den Pflichten: Gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG muss der Verursacher dem Geschädigten sofort Namen und Adresse angeben. Ist dies nicht möglich, muss er die Polizei verständigen. Die Angabe des Kontrollschildes alleine reicht nicht aus, zumal Halter und Lenker nicht unbedingt die gleiche Person sein muss. Selbst wenn dies zuträfe, ist es nicht Sache des Geschädigten, nach dem Namen und dem Wohnsitz des Beteiligten zu forschen (E. 1.3.1). Der Schädiger muss den Geschädigten über den entstandenen Schaden unterrichten und ihm Namen und Adresse unaufgefordert mitteilen. Die Anzeige hat sofort (unverzüglich) nach dem Unfall zu erfolgen, d.h. so rasch als dies dem Schädiger nach den Umständen zuzumuten ist (E. 1.4.1).

Der Beschwerdeführer gab vor Ort nur sein Kontrollschild an bzw. liess dieses fotografieren. Auch nachdem der Beschwerdeführer, der kein Mobiltelefon besitzt, zuhause ankam, unterliess er es, die ihm bekannte geschädigte Partei zu informieren. Er wurde erst ca. 40min später anhand des fotografierten Kontrollschildes durch die Polizei aufgesucht und identifiziert. Weder gab er vor Ort seine Personalien an, noch verständigte er unverzüglich die geschädigte Partei, als ihm dies möglich war. Die Beschwerde wird abgewiesen.

In BGE 6B_575/2018 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Frage, ab wann eine Verletzung vorliegt, die für eine Führerflucht vorausgesetzt ist. Der Beschwerdeführer kollidierte mit einem Kind auf dem Fussgängerstreifen. Er gab der Mutter des Kindes seine Adresse bekannt, die Polizei hat er allerdings erst am Folgetag über den Unfall benachrichtigt. Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung nach Art. 92 Abs. 2 SVG.

E. 2.2-4 zur Verletzung: Art. 51 Abs. 2 SVG stipuliert, dass im Falle eines Personenschadens den Verletzten zu helfen ist, die Polizei gerufen werden muss und sich die Beteiligten ohne Erlaubnis der Polizei nicht entfernen dürfen. Nach einem Zusammenstoss zwischen Mensch und Maschine ist von einem Verkehrsunfall auszugehen (E. 2.1). Es stellt sich die Frage, ab wann jemand als verletzt gilt. Art. 55 VRV konkretisiert die Regeln bei Personenschäden. Die Polizei muss gemäss Abs. 1 sofort benachrichtigt werden, ausser es liegen gemäss Abs. 2 nur geringfügige Prellungen oder Schürfungen vor. Allerdings liegt auch in diesen Situationen nach der Lehre und Rechtsprechung eine Verletzung im Sinne eines Personenschadens vor. Nur absolut geringfügige, praktisch bedeutungslose Schäden, denen kaum Beachtung geschenkt werden müsse, mache einen Beizug der Polizei nicht nötig. Ein Erschrecken alleine reicht nicht für eine Verletzung aus (E. 2.2.1/2). Da vorliegend die Kollision relativ heftig war, durfte der Beschwerdeführer nicht davon ausgehen, dass nur unbeachtliche Schäden vorlagen.

E. 2.5 zur Flucht: Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass er nicht geflüchtet sei. Die Flucht setzt allerdings kein krasses Fehlverhalten voraus. Eine Flucht ist bereits gegeben, wenn man seinen Pflichten nicht nachkommt, z.B. indem man sich ohne die Polizei zu rufen vom Unfallort entfernt.

Diese Rechtsprechung macht die Regelung in Art. 55 Abs. 2 VRV bis zu einem gewissen Grad obsolet. Im Zweifelsfalle ist dem Autofahrer zu empfehlen, dass er die Polizei hinzuzieht, wenn irgendwie die Möglichkeit besteht, dass sich jemand beim Unfall verletzt hat.