Vertrauensgrundsatz und die unklare Verkehrssituation

Urteil 6B_272/2024: Vertrau mir doch!

Ein Busfahrer wehrt sich gegen eine Busse wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung. Er ist mit seinem Linienbus in Rapperswil-Jona auf einen Kreuzungsbereich eingefahren, ohne zu bremsen oder zu verlangsamen. Dabei handelt es sich um eine Kreuzung, von welcher bekannt ist und die Buschauffeure auch entsprechend geschult werden, dass andere Verkehrsteilnehmer sich nicht immer an Lichtsignale halten. Es kam, wie es kommen musste, es gab auf der Kreuzung ein Kollision und der Busfahrer wurde wegen einer Vortrittsmissachtung bestraft. Er habe sich in dieser speziellen Situation nicht auf den Vertrauensgrundsatz gemäss Art. 26 Abs. 1 SVG verlassen dürfen. Im Gegenteil lag aus Sicht der Vorinstanz ein Anwendungsfall von Art. 26 Abs. 2 SVG vor. Der Buschauffeur hätte nämlich besonders vorsichtig sein müssen, weil es Anzeichen dafür gab, dass sich Verkehrsteilnehmer nicht richtig verhalten würden. Das sieht dieser natürlich überhaupt nicht so, obwohl er einige Verkehrsteilnehmer wahrnahm, die sich nicht an die Lichtsignale hielten. Den von links kommenden Unfallgegner sah er aber nicht (stark zusammengefasst E. 1.1 – 1.2).

Die Frage hier lautet also, wann liegt eine Situation vor, in welcher man sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, obwohl man kein Fehlverhalten eines Unfallbeteiligten feststellt?

Grundsätzlich darf man ja darauf vertrauen, dass sich auf der Strasse alle richtig verhalten (Art. 26 Abs. 1 SVG). Dieser Grundsatz wird aber dadurch relativiert, dass dies nicht gilt, wenn sich jemand nicht richtig verhält. Dann muss man besondere Vorsicht walten lassen (Art. 26 Abs. 2 SVG). Es gibt aber Situationen, die so unübersichtlich sind, dass man generell defensiv fahren muss bzw. sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann. Das BGer definiert das so (E. 1.3.1):

„Ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers kann sich aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage aufdrängen, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts der besonderen Gefahrenneigung risikoarmes Verhalten gefordert.“

Vorliegend fuhr der Beschwerdeführer ungebremst in eine Kreuzung, bei welcher bekannt ist, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht immer an die Regeln halten. Aus diesem Grund durfte der Busfahrer nicht darauf vertrauen, dass sich alle richtig verhalten, auch wenn er den Unfallgegner nicht gesehen hat. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Oster-Rundschau neue BGE

Liebe Verkehrsrechtsenthusiast*innen

In letzter Zeit musste der Schreiberling den Blog aus familiären Gründen etwas vernachlässigen. Deshalb fassen wir die Entscheide der letzten Wochen in einer Art Rundschau kurz zusammen.

BGE 1C_298/2020: Verkehrspsychologische Abklärung
Die Teilnahme an einem illegalen Rennen in Deutschland berechtigt zur Anordnung einer psychologischen Fahreignungsabklärung. Interessant: Der vorsorgliche Entzug wurde von der Vorinstanz aufgehoben.

BGE 1C_415/2020: Dauer der Massnahme, Bindung an das Strafurteil
Das Strassenverkehrsamt ist an den Strafbefehl gebunden. Man kann nicht erst im Administrativverfahren die Beweisverwertung einer privaten Dashcamaufnahme anprangern. Das hätte im Strafverfahren gemacht werden müssen.
In der Einzelfallbeurteilung zur Dauer der Massnahme war es gerechtfertigt, wegen mehrern groben Verkehrsregelverletzungen den Führerschein für fünf Monate zu entziehen, auch wenn der Beschwerdeführer einen unbescholtenen Leumund hatte und beruflich auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.

BGE 1C_319/2020: Fahreignung aus medizinischen Gründen
Der Verdacht auf ein Schlaf-Apnoe-Syndrom, eine Polyneuropathie (Erkrankung des Nervensystems) und erhöhter Alkoholkonsum berechtigen zur Anordnung einer Fahreignungsabklärung. Die Fahrerlaubnis war nicht vorsorglich entzogen.

BGE 6B_716/2020: Die abgeurteilte Sache in Europa
Dieses äusserst interessante und komplexe Urteil beschäftigt sich mit der Frage, wann nach dem Schengener Durchfühurngsübereinkommen in Europa eine abgeurteilte Sache vorliegt, also die Schweiz eine Person nicht mehr bestrafen kann, weil bereits ein ausländisches Urteil vorliegt. Grundlage ist ein Raserdelikt in der Schweiz. Zumindest über einen Teil des Sachverhalts (Fahren ohne Berechtigung) erliess die deutsche Staatsanwaltschaft ohne grössere Abklärungen eine Einstellung. Die Schweiz erklärte bei der Ratifikation des SDÜ gemäss Art. 55 SDÜ aber, nicht an Art. 54 SDÜ gebunden zu, wenn die Tat ganz in der Schweiz begangen wurde, was hier der Fall war. Die Schweizer Strafbehörden durften den Beschwerdeführer also wegen Rasens verurteilen.

BGE 6B_1125/2020: Tödliches Überholmanöver
Bei einem Überholmanöver übersieht der Beschwerdeführer ein entgegenkommendes Mofa. Dessen Lenker stirbt tragischerweise an den Unfallfolgen. Zu Recht wurde der Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der Entscheid befasst sich exemplarisch mit den Voraussetzungen der Fahrlässigkeit und der Aufmerksamkeit nach Art. 31 SVG.

BGE 6B_1147/2019: Motorradunfall bei Nässe, angemessene Geschwindigkeit
Bei einem Überholmanöver auf regennasser Autobahn mit ca. 120km/h verlor der Beschwerdeführer die Kontrolle über sein Motorrad. Er stellt sich auf den Standpunkt wegen einer Asphaltfuge und nicht etwa wegen dem Regen gestürzt zu sein. Das sei nicht vermeidbar gewesen. Die Geschwindigkeit muss allerdings den Umständen angepasst werden. So verhielt sich der Beschwerdeführer pflichtwidrig, indem er die zulässige Geschwindigkeit bei nasser Fahrbahn und schlechter Sicht ausfuhr und just vor einer Kurve zu einem Überholmanöver ansetzte. Als erfahrener Motorradfahrer hätte er vorhersehen können, dass sein Motorrad bei nasser Fahrbahn wegrutschen kann. Mit einer Anpassung der Geschwindigkeit hätte der Unfall vermieden werden können.

Überwachungsvideo als Beweis

BGE 6B_1288/2019: Beweisverwertung (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, in Basel bei der Synagoge den Vortritt einer Velofahrerin missachtet zu haben. Die Velofahrerin verletzte sich leicht bei ihrem Notbremsmanöver. Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Videoaufnahme der privaten Videoüberwachungsanlsage der Synagoge, mit welcher der Vorfall gefilmt wurde, nicht als Beweis zugelassen werden darf, solange dieser Beweis ihn belastet. Sofern die Aufnahme allerdings entlastend ist, sollte die Aufnahme verwertbar sein. Die Vorinstanz erachtete die Aufnahme als verwertbar, auch wenn für sie das nach kantonalem Recht notwendige Reglement nicht vorlag. Diese Verletzung einer Gültigkeitsvorschrift sei jedoch nur marginal und die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers seien durch die Aufnahme nur wenig tangiert worden.

Beweise, die unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, dürfen nur für die Aufklärung schwerer Straftaten verwertet werden. Ansonsten ist die Verwertung solcher Beweise gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO illegal. Das gilt auch für die Folgebeweise. Je schwerer eine Straftat ist, desto höher ist auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung bzw. an der Verwertung eines illegal erhobenen Beweises. Die Schwere Straftat beurteilt sich dabei nicht am abstrakt angedrohten Strafmass, sondern am konkreten Einzelfall (E. 2.1).

Die israelitische Gemeinde Basel und Inhaberin der Videoanlage ist eine öffentliche-rechtliche Körperschaft und unter gewissen Umständen zur Rechtshilfe verpflichtet. Allerdings gilt auch hier, dass die Grundsätze des rechtstaatlichen Handelns eingehalten werden müssen, was bedeutet, dass die Strafbehörden die Beweiserhebung nicht einfach an andere staatliche Organe outsourcen darf (E. 2.2).

Videoüberwachung tangiert das Recht auf Privatssphäre der gefilmten Person (Art. 13 BV). Persönliche Daten sind vor Missbrauch geschützt. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Schutz der Privatsphäre erfasst auch Lebenssachverhalte die sich im öffentlichen Raum abspielen. Man muss sich nicht stets beobachtet fühlen. Alle Grundrechte können allerdings im Rahmen von Art. 36 BV in verhältnismässiger Weise eingeschränkt werden. „Es ist jedenfalls nicht angebracht mit dem Schlagwort der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unbeschränkte Überwachungen zu begründen, die in vielfältigsten Ausgestaltungen unterschiedlichen Zwecken dienen können“ (E. 2.3).

Nach kantonaler Gesetzgebung bedürfen Videoüberwachungsanlagen in Basel ein Reglement, das Zweck, Verantwortlichkeit und die Löschzyklen regelt. Ein solches Reglement bestand aber nicht. Die Videoaufnahme erfolgte in gesetzeswidriger Weise (E. 2.4f).

Zudem wird dem Beschwerdeführerkein schweres Delikt vorgeworfen. Zwar wird eine Vortrittsmissachtung vorgeworfen, eine Kollision gab es aber nicht. Einfache und grobe Verkehrsregelverletzungen sind nach der Rechtsprechung keine schweren Straftaten im Sinne der Strafprozessordnung. Die Videoaufnahme wurde zu Unrecht verwertet (E. 2.6).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Vorsicht Meinung: Die Strafhoheit liegt beim Staat und Verbotenes sollte grds. auch bestraft werden. Es ist deshalb besonders wichtig, dass der Staat die Regeln einhält. Würde man den Strafbehörden die Möglichkeit geben, jeden erdenklichen Beweis zu verwerten, dann wären bald nur noch Hobbypolizisten und Sheriffs unterwegs. Ausgerüstet mit Dashcams und Kameras würde sich die Zivilgesellschaft gegenseitig bespitzeln. Krumm und krümmer würden die Methoden, mit welchen der ungeliebte Nachbar bei den Strafbehörden angeschwärzt wird. Es ist deshalb gut, dass das Bundesgericht hier noch Augenmass beweist und sich Orwell noch nicht im Grab umdrehen muss.