Der unaufmerksame Fussgänger (gutgh. Beschwerde)

BGE 6B_1294/2017

Im Dezember 2014 überfuhr der Beschwerdeführer bei schlechten Wetter- und Sichtverhältnissen einen Fussgänger, wofür er von den kantonalen Instanzen wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Das BGer hingegen heisst seine Beschwerde gut.

E. 1.1./2. zu den Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Vertrauensgrundsatz und rügt, dass er nicht damit habe rechnen müssen, dass ein Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn tritt, wo es keinen Fussgängerstreifen hat. Konkrete Anzeichen für ein Fehlverhalten des Fussgängers habe es nicht gegeben. Die Vorinstanz hingegen geht davon aus, dass der Beschwerdeführer den Fussgänger hätte bemerken und schon früher bremsen müssen.

E. 1.3.-5. zum Rechtlichen: Der Autofahrer muss sein Fahrzeug gemäss Art. 31 SVG stets so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Nach dem Vertrauensgrundsatz in Art. 26 SVG darf er aber davon ausgehen, dass sich sämtliche Verkehrsteilnehmer korrekt verhalten. Wo es keine Fussgängerstreifen hat, ist der Autofahrer gegenüber dem Fussgänger grds. vortrittsberechtigt (vgl. Art. 47 Abs. 5 VRV). „Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen.“

E. 1.6./7. Zur Subsumption: Der Fussgänger überquerte die Fahrbahn 6.5m vor dem Fussgängerstreifen. Er hörte Musik und war unaufmerksam. Die Witterungs- und Sichtverhältnisse waren schlecht, der Fussgänger war dunkel gekleidet. Der Beschwerdeführer hingegen machte trotz Ortskundigkeit keine Kontrollblicke nach links und rechts. Er sah den Fussgänger erst, als dieser auf der Fahrbahn war. Allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass der Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn treten würde. Insofern liegt i.c. keine Sorgfaltspflichtsverletzung vor. Zwischen dem Betreten der Fahrbahn und der Kollision liegen lediglich 0.8 Sekunden, was nicht einmal der durchschnittlichen Reaktionszeit von einer Sekunde entspricht. Es gab keine Kommunikation zwischen den beiden Verkehrsteilnehmern, da der Fussgänger mit dem Rücken zum Beschwerdeführer lief. Das blosse Vorhandensein von erwachsenen Fussgängern auf dem Trottoir erfordert kein Bremsmanöver. Kausale Ursache für den Unfall war das unvorhersehbare Beschreiten der Fahrbahn durch den Fussgänger, womit der Unfall für den Beschwerdeführer nicht vermeidbar war. Der Autofahrer wird freigesprochen.

THC-Carbonsäure-Grenze und Ausweichemanöver

VGE GL vom 29.06.2017: Fahreignungsabklärung ab einem THC-COOH-Wert (THC-Carbonsäure) von 75µg/L (Bestätigung Rechtsprechung)

Bei einer Verkehrskontrolle fiel der Drogenschnelltest positiv auf Cannabis aus. Das IRM Bern führte eine Blutprobe durch. Der THC-Wert war mit 1.4µg/L unter dem in Art. 34 ASTRA-VO stipulierten Grenzwert, weshalb keine Fahrunfähigkeit vorlag. Das Strassenverkehrsamt verfügte aber eine Fahreignungsabklärung wegen dem höheren THC-COOH-Wert von 68µg/L. Das VGer heisst die Beschwerde gegen die Abklärung gut.

E. 5.2: „Eine Studie des Instituts für Rechtsmedizin Zürich (IRMZ) empfiehlt eine Fahreignungsprüfung hingegen erst ab einem THC-COOH-Wert von 75 μg/L, weil eine Konzentration im Blut ab diesem Wert mit einem chronischen Cannabiskonsum vereinbar sei (Munira Haag-Dawold, Fahreignungsbegutachtung, in Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2009, St. Gallen 2009, S. 25 ff., 33). Auch bei erstmaligem Fahren unter Cannabiseinfluss wird vertreten, eine verkehrsmedizinische Begutachtung erst ab einem THC-COOH-Wert von 75 μg/L anzuordnen (Isa Thiele, Neue Aspekte in der Fahreignungsbegutachtung beim Drogenkonsum, in Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2005, S. 105 ff., 118). Die Aussagekraft des THC-COOH-Werts wird hingegen in einer neuen Studie des IRM Bern bestritten, da ein solcher Wert mit einer geringen Sensitivität belastet sei. Dabei wird postuliert, die THC-COOH-Glucoronid-Konzentration als zusätzlichen Indikator für die Unterscheidung des gelegentlichen vom häufigen Cannabiskonsumenten zu verwenden (IRM Bern, S. 11).“

E. 5.3: „Naheliegend erscheint es daher, zumindest bei Fahrzeugführern, welche einen einwandfreien automobilistischen Leumund aufweisen und bei denen keine Gefahr eines Mischkonsums oder andere Hinweise für eine fehlende Fähigkeit, Drogenkonsum und Teilnahme am Strassenverkehr trennen zu können, eine verkehrsmedizinische Begutachtung erst ab einem THC-COOH-Wert von 75 μg/L anzuordnen. Dies entspricht zum einen einem namhaften Teil der medizinischen Lehre und zum andern der Praxis anderer deutschschweizer Kantone.“

Der Entscheid deckt sich grds. mit der Rechtsprechung des BGer (BGE 1C_618/2015 E. 3.3).

 

BGE 6B_1006/2016: Das Ausweichmanöver als Nichtbeherrschung

Der Beschwerdeführer weicht auf einer Überlandstrasse in einer Kurve einem unerwartet auf seiner Spur rückwärtsfahrenden Fahrzeug aus, wobei er ins Schleudern gerät und unterhalb der Strasse zum Stillstand kommt. Das BGer bestätigt die Verurteilung wegen SVG 31 I i.V.m. 90 I.

E. 2.1: Zunächst stellt das BGer fest, dass im Bruchteil der Sekunde des Entscheidens in einer gefährlichen Situation auch das Wählen einer suboptimalen Lösung entschuldbar ist („Toutefois, est excusable celui qui, surpris par la manoeuvre insolite, inattendue et dangereuse d’un autre usager ou par l’apparition soudaine d’un animal, n’a pas adopté, entre diverses réactions possibles, celle qui apparaît après coup objectivement comme étant la plus adéquate (cf. arrêt 1C_361/2014 du 26 janvier 2015 consid. 3.1 et références citées)“.

Allerdings kann ab einem gewissen Zeitpunkt das Wählen der schlechteren Lösung dem Fahrer auch wieder angelastet werden („En revanche, lorsqu’une manoeuvre s’impose à un tel point que, même si une réaction très rapide est nécessaire, elle peut être reconnue comme préférable, le conducteur est en faute s’il ne la choisit pas (ATF 83 IV 84; cf. également arrêt 1C_361/2014 du 26 janvier 2015 consid. 3.1 et références citées)“.

E. 2.2/3: In der Folge schützt das BGer die Ansicht der Vorinstanz, dass die erste Lenkbewegung nach rechts zum Ausweichen adäquat war, das brüske Lenken nach links allerdings, um wieder auf die Strasse zu gelangen, war nicht mehr entschuldbar. So wäre ein leichtes nach links Lenken die klar bessere Lösung gewesen.

Ein etwas seltsamer Entscheid. Gerne würde ich die Richter in einer vergleichbaren Situation mit kühlem Gemüt über die Strasse schliddern sehen.

 

Motorrad ohne Licht als Unfallgegner, Vertrauensgrundsatz

BGE 6B_1211/2016: Das Motorrad ohne Licht als Unfallgegner (Bestätigung Freispruch)

Der Beschwerdegegner – der Motorrad führt Beschwerde gegen den Freispruch des Autofahrers – bog bei fortgeschrittener Dämmerung auf einer Hauptstrasse nach links ab, übersah dabei den entgegenkommenden und grds. vortrittsberechtigten Motorradfahrer, da dessen Vorderlicht nicht funktionierte und dieser auch noch Dunkel gekleidet war. Das Bundesgericht bestätigt den letztinstanzlichen, kantonalen Freispruch vom Vorwurf der Vortrittsmissachtung bzw. fahrlässiger Körperverletzung.

E. 3.2: „[Der Autofahrer] habe auch nicht damit rechnen müssen, dass ihm ein Motorradfahrer ohne funktionierendes Vorderlicht und damit vorschriftswidrig entgegenkommen würde. Anlässlich des Abbiegemanövers habe der Beschwerdegegner seine Aufmerksamkeit alsdann nicht nur auf die Gegenfahrbahn, sondern auch auf die Einspurstrecke bzw. die Einfahrt in die Sernftalstrasse samt dortigem Fussgängerstreifen, mithin auf verschiedene Stellen gleichzeitig richten müssen, wobei in dubio pro reo davon auszugehen sei, dass er dies auch getan habe. In einer solchen Situation könne vom abbiegenden Beschwerdegegner nicht verlangt werden, dass er an einem Ort etwas erkenne, was nur schwer sichtbar sei. Seine Verteidigung weise zutreffend darauf ihn, dass ein Autolenker sich bei Dunkelheit bei seinem Abbiegemanöver in Bezug auf das Vortrittsrecht primär an beleuchteten Fahrzeugen orientiere und dass der Entscheid, Vortritt zu gewähren oder loszufahren, in der Regel innert kurzer Zeit getroffen werde. Daher könne dem Beschwerdegegner keine Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden, wenn er bei der Kontrolle der Gegenfahrbahn aufgrund der gesamten Umstände nur Dunkelheit und kein Licht erblickt habe und deshalb davon ausgegangen sei, dass kein Gegenverkehr nahe, dem er Vortritt hätte gewähren müssen. Für eine mangelnde Aufmerksamkeit oder ein anderes pflichtwidriges Verhalten bestünden im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte.“