Flying-Rockets-Fall

BGE 6B_360/2016: Die Unsorgfaltsgemeinschaft (gutgeheissene Beschwerde und dogmatisch höchst interessant)

Am Silvester 2013 zündeten zwei Cousins je zwei Feuerwerksraketen, wovon eine auf einen Balkon fiel und einen Brandschaden von CHF 868’951.00 verursachte. Welche Rakete genau den Brand verursachte, war nicht ermittelbar. Beide Cousins wurden mit Strafbefehl wegen Art. 222 StGB bestraft. Die erste Instanz sprach die Beschuldigten frei, die Berufung der Staatsanwaltschaft dagegen wurde gutgeheissen. Das BGer wiederum heisst die Beschwerde der Beschuldigten gut und spricht diese frei. Der Entscheid ist deshalb interessant, weil er sich intensiv mit der im „Rolling-Stones-Entscheid“ (BGE 113 IV 58) kreierten Unsorgfaltsgemeinschaft auseinandersetzt. Grds. stellt sich die Frage, ob Mittäterschaft bei Fahrlässigkeitsdelikten möglich ist.

E. 4.6: Es stellt sich die Frage, ob eine Gesamthandlung i.S.v. BGE 113 IV 58 vorliegt. „Aus dieser Beweisführung folgt, dass die beiden einzig„beschlossen“, vier Raketen zu starten, und zwar jeder deren zwei. Die Art und Weise des Startens bestimmte jeder für sich, „d.h. ohne vorgängige Absprache“ (ebenso bereits die Erstinstanz, oben E. 4.3).“

E. 4.7: Das BGer fasst übersichtlich die versch. Lehrmeinungen zum Rolling-Stones-Fall zusammen und kommt zum Schluss, dass „ohne die Literatur erschöpfend auszuwerten, [sich] schliessen [lässt], dass die Konzeption einer fahrlässigen Mittäterschaft von der wohl herrschenden Lehre abgelehnt und BGE 113 IV 58 in der Begründung und weniger im Ergebnis kritisiert wird, während JOSÉ HURTADO POZO mit der Konzeption der „Unsorgfaltsgemeinschaft“ einen konstruktiven dogmatischen Entwurf zu der mit BGE 113 IV 58 aufgeworfenen Sachproblematik vorlegt.“

E. 4.8: Das BGer untersucht seine eigene Rechtsprechung zur Thematik mit bes. Augenmerk auf das Strassenverkehrsrecht.

E. 4.9: Eine Unsorgfaltsgemeinschaft wird dann angenommen, wenn eine „Gesamthandlung“ vorliegt, die Täter gemeinsam die Tat von Anfang bis Ende durchführen – so wie im Rolling-Stones-Fall. Vorliegend beschlossen die Beschwerdeführer zwar gemeinsam nach draussen zu gehen, die Modalitäten der Raketenzündung entschieden sie aber je für sich. „Vielmehr ist [daher] festzustellen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der vorinstanzlich angenommenen Gesamthandlung im Sinne von BGE 113 IV 58 beweismässig nicht erstellt sind. Der gemeinsame Beschluss einer sorgfaltswidrigen Handlung ist nicht nachgewiesen (bereits Erstinstanz, oben E. 4.3).“

E. 4.10: Mittäterschaft bzw. der gemeinsame Tatentschluss muss grds. bewiesen sein.

E. 4.11: „Wegen des nur mangelhaft durchgeführten Beweisverfahrens lässt sich nicht mehr eruieren (Erstinstanz) bzw. ist nicht mehr zu ermitteln (Vorinstanz), welcher der beiden Beschwerdeführer die brandauslösende Rakete gezündet hatte. Insbesonders ist auch deren individuell-konkretes Vorgehen und der diesbezüglich rechtserhebliche subjektive Sachverhalt nicht mehr zu eruieren.“

Da die Beschwerdeführer nicht von Anfang bis Ende gemeinsam handelten, wurden Sie freigesprochen.

Haftpflicht, Feuersbrunst

BGE 4A_26/2017: SVG-Haftpflicht

Einfach ein gutes Lehrstück zu den Schadenpositionen bei Unfall mit Körperverletzung:

E. 3.3: „Vielmehr kann der Geschädigte gegen die Haftpflichtige den Ersatz von Schaden geltend machen, der durch eine widerrechtliche Körperverletzung adäquat kausal (schuldhaft) verursacht worden ist, namentlich die Heilungskosten und Nachteile aus Arbeitsunfähigkeit (Art. 46 OR) sowie immaterielle Unbill (Art. 47 OR). Dabei werden in Rechtsprechung (vgl. etwa BGE 132 III 321 E. 2.2.1 S. 323; 131 III 360 E. 5.1 S. 363, E. 8.1 S. 369 mit Hinweisen) und Lehre mögliche Schäden unterschiedlich zusammengefasst etwa in Kosten (Aufwendungen zur Behebung oder Einschränkung der Körperschädigung), Erwerbsausfall infolge temporärer oder künftiger Arbeitsunfähigkeit, Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens, Einschränkung in der Haushaltführung, Verlust von Rente (nach alter Praxis Teil des Erwerbsausfalls) sowie Kosten für Pflege- und Betreuungsaufwand (vgl. nur ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 4. Aufl. 2013, N. 7 ff. zu Art. 46 OR, FELLMANN/KOTTMANN, a.a.O., S. 74 ff. Rz. 191 ff.; ROBERTO, a.a.O., S. 206 ff. Rz. 27.21 ff.). Für immateriellen Schaden kann der Geschädigte unter Umständen ausserdem einen Anspruch auf Genugtuung ableiten (Art. 47 OR).“

 

BGE 6B_1091/2016: Exkurs: Fahrlässige Verursachung einer Feuersbrunst (in der Sache gutgeheissen)

Eine Putzfrau benutzt frei erhältliche Putzmittel und Möbelpolituren, welche sich durch eine chemische Reaktion selbst entzünden. Gemäss dem Bundesgericht hat die Putzfrau keine Sorgfaltspflicht verletzt.

E. 3.2.1: Ausführungen zur Fahrlässigkeit: „Die Zurechenbarkeit des Erfolgs bedingt die Vorhersehbarkeit nach dem Massstab der Adäquanz. Danach muss das Verhalten geeignet sein, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder mindestens zu begünstigen. Diese Frage ist ex ante, d.h. vom Zeitpunkt des Handelns aus, zu entscheiden. Ob der Erfolg vorhersehbar war, ist als Rechtsfrage einer bundesgerichtlichen Überprüfung zugänglich (BGE 116 IV 182 E. 4b; Urteil 6B_601/2016 vom 7. Dezember 2016 E. 1.1; je mit Hinweisen). Weitere Voraussetzung ist die Vermeidbarkeit des Erfolges (BGE 140 II 7 E. 3.4; Urteile 6B_1163/2016 vom 21. April 2017 E. 5.2; 6B_1031/2016 vom 23. März 2017 E. 6.2 f.; je mit Hinweisen).“

E. 3.2.3: „Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Politur frei erhältlich war und dass das Putzen oder Polieren von Möbeln eine übliche Tätigkeit darstellt. Die damit einhergehende Gefährdung gehört daher zu den normalen Bedingungen des Lebens. An nicht ungefährliche, aber generell übliche Tätigkeiten dürfen nicht überspannte Anforderungen gestellt werden (Urteil 6S.728/1999 vom 6. März 2001 E. 3 mit Hinweisen). Eine Überschreitung des erlaubten Risikos ist nicht ersichtlich.“