Grobe Verkehrsregelverletzung als „schwere Straftat“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO

Urteil 6B_821/2021: Wenn das Rasen in der Familie liegt (tlw. gutgh. Beschwerde)

Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, welche Anforderungen an Zwangsmassnahmen wie Hausdurchsuchungen zu stellen sind. Zudem konkretisiert es die Rechtsprechung dahingehend, was im SVG-Bereich eine „schwere Straftat“ ist, welche eine Verwertung unrechtmässig erlangter Beweise trotzdem möglich macht (Art. 141 Abs. 2 StPO), insb. wenn es sich bei der schweren Tat um eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. ein Vergehen handelt.

Der Vater des Beschwerdeführers wurde von der Polizei dabei erwischt, wie er mit einem Motorrad ausserorts die Geschwindigkeit um 79km/h überschritt. Die Staatsanwaltschaft ordnete danach eine Hausdurchsuchung an, bei welcher ein Go-Pro gefunden wurde, auf welcher Video-Aufnahmen diverser SVG-Delikte des Beschwerdeführers gespeichert waren, u.a. auch Raserdelikte. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass die Hausdurchsuchung nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil das Raserdelikt seines Vaters erwiesen war und es keinen hinreichenden Anfangsverdacht auf weitere Delikte gab. Die Hausdurchsuchung war aus seiner Sicht eine „fishing expedition“, weshalb die gefundenen Videos nicht als Beweise verwertet werden dürfen. Die kantonalen Instanzen allerdings waren den Meinung, dass Raserfahrten fast immer auf weitere Straftaten schliessen lassen und dass es notorisch sei, dass Raser ihre Fahrten oftmals audiovisuell festhalten, weshalb die Hausdurchsuchung rechtens war.

Eine Hausdurchsuchung ist eine Zwangsmassnahme, weshalb für ihre Durchführung die Voraussetzungen von Art. 197 Abs. 1 StPO erfüllt sein müssen. Insb. ist für die Anordnung ein hinreichender Tatverdacht vorausgesetzt. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können. Eine reine Vermutung, ein Generalverdacht oder eine Beweisaufnahme aufs Geratewohl genügen zur Begründung einer Hausdurchsuchung jedoch nicht. Werden bei einer rechtmässig angeordneten Hausdurchsuchung Beweismittel gefunden, die auf weitere Straftaten hinweisen, kann ohne Weiteres ein neues Strafverfahren hinsichtlich der Zufallsfunde eröffnet werden (Art. 243 StPO). Bestand allerdings für die ursprüngliche Zwangsmassnahme, i.e. der Hausdurchsuchung, kein genügender Anfangsverdacht, gilt diese als „fishing expedition“. Auf diese Weise erlangte Beweismittel sind grds. nicht verwertbar (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Um es kurz zu machen: Das Raserdelikt des Vaters des Beschwerdeführers war grds. bewiesen. Es gab keine konkrete Hinweise oder Indizien auf weitere SVG-Delikte. Gemäss Vorinstanz wurde die Hausdurchsuchung aufgrund „unspezifischer Vermutungen“ angeordnet. Das reicht allerdings nicht aus, um „auf gut Glück“ nach Beweisen für weitere SVG-Delikte des Vaters zu forschen. Die Hausdurchsuchung war insofern unrechtmässig und bei den Video-Aufnahmen der SVG-Delikte des Beschwerdeführers handelt es sich somit um „fruits of a poisonous tree“, also grds. nicht verwertbare Beweismittel (E. 1.4). Gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise aber trotzdem verwertet werden, wenn damit schwere Straftaten aufgeklärt werden können. In erster Linie kommen bei der schweren Straftat Verbrechen in Frage. Allerdings wird die schwere Straftat nicht abstrakt, sondern an den Umständen des Einzelfalles eruiert. Auch Vergehen können schwere Straftaten gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO sein (E. 1.5.1).

Die sichergestellten Video-Aufnahmen beinhalten div. SVG-Delikte. Der Beschwerdeführer wurde im Strafverfahren u.a. wegen mehrfacher qualifiziert grober, mehrfacher grober Verkehrsregelverletzung sowie dem Fahren ohne Berechtigung verzeigt. Für die qualifiziert groben Verkehrsregelverletzungen (Tempoexzess ausserorts um 62km/h auf einer kurvigen und unübersichtlichen Bergstrasse sowie Tempoexzess innerorts um 57km/h) können die Videoaufnahmen ohne weiteres verwendet werden, da es sich dabei um schwere Straftaten handelt (E. 1.5.3).

Teilweise anders verhält es sich bei den groben Verkehrsregelverletzungen. Eine solche wurde bisher vom Bundesgericht noch nicht als „schwere Straftat“ bewertet. Zwei der Vergehen des Beschwerdeführers hebt das Bundesgericht hervor:

Just nach dem oben erwähnten Raserdelikt (Tempoexzess um 57km/h) überholte der Beschwerdeführer ein drittes Fahrzeug und beendete das Überholen nur knapp vor einem entgegenkommenden Motorradfahrer. Bei einer anderen Fahrt fuhr der Beschwerdeführer in einer unübersichtlichen Rechtskurve vollständig auf der linken Fahrbahn. Wäre ein Fahrzeug entgegengekommen, wäre eine Kollision unausweichlich gewesen. Dabei fuhr er auch ohne Berechtigung. Auch wenn die Vorinstanz diese beiden Manöver als grobe Verkehrsregelverletzung qualifizierte, handelt es sich dabei um „schwere Straftaten“. Zwar unterscheiden sich die Tatbestände von Art. 90 Abs. 2 und 3 SVG hinsichtlich des Ausmasses der Rechtsgutgefährdung. Während die grobe Verkehrsregelverletzung eine ernstliche Gefahr voraussetzt, fordert Abs. 3 das Risiko eines Unfalles mit Todesopfern oder Schwerverletzten. Beide oben genannten groben Verkehrsregelverletzungen hätten aber schlimme Folgen haben können. Bei einer Frontalkollision mit dem Motorradfahrer bzw. einem anderen Verkehrsteilnehmer auf der linken Fahrbahn ist es notorisch, dass es Schwerverletzte oder Tote geben kann. Deshalb betrachtet das Bundesgericht auch diese groben Verkehrsregelverletzungen als „schwere Straftaten“ gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO. Die Videoaufnahmen durften also bzgl. diesen Vergehen (und dem Fahren ohne Berechtigung) verwertet werden, nicht aber für die übrigen groben Verkehrsregelverletzungen, weil es bei diesen keine „besonderen Vorkommnisse“ gab (E. 1.5.4).

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