Urteil 1C_158/2024: 12 oder 24 Monate?
Am 1. Januar 2013 wurde der «Rasertatbestand» ins SVG aufgenommen. Rasern drohte eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr. Um den Strafrichtern wieder etwas mehr Ermessensspielraum zu gewähren, wurde Art. 90 SVG um die Abs. 3bis und 3ter ergänzt, die es seit Oktober 2023 unter gewissen Voraussetzungen ermöglichen, auch eine mildere Strafe auszusprechen. Damit einher ging eine Anpassung von Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG. Wo vorher die Mindestentzugsdauer nach «Raserdelikten» bei 24 Monaten lag, ist es seit Oktober 2023 ebenfalls möglich, die Mindestentzugsdauer um bis zu 12 Monate zu «reduzieren». Diese Formulierung bietet – wie so oft – Spielraum für Interpretation.
Gibt es nun bei Raserdelikten eine variable Mindestentzugsdauer, weil man die Mindestentzugsdauer – je nach Strafurteil – um eine gewisse Anzahl reduziert? Würde das auch für eine Sperrfrist nach Art. 16d Abs. 2 SVG gelten?
Oder heisst das, dass bei einer Milderung im Strafverfahren die Mindestentzugsdauer 12 Monate beträgt und – ganz normal – erschwerende Umstände sich massnahmeerhöhend auswirken?
Muss man eigentlich die Massnahmedauer reduzieren, oder darf man nur?
Mit etwas Verspätung widmen wir uns diesem Urteil, in welchem sich das Bundesgericht erstmals zu Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG äussert…
Ich will Antworten auf diese spannenden Fragen!
Der Beschwerdeführer überschritt im Februar 2019 die Höchstgeschwindigkeit innerorts um kurzeitig um 71 km/h und um 57 km/h. Schliesslich kollidierte er mit einem unbeteiligten Fahrzeug, wobei sich alle Beteiligten verletzten. Der Beschwerdeführer wurde im Strafverfahren mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten sowie einer Busse bestraft. Daraufhin wurde ihm die Fahrerlaubnis für 24 Monaten entzogen. Mit seinen Rechtsmitteln verlangt der Beschwerdeführer eine Warnmassnahme von 12 Monaten.
Der Beschwerdeführer stützt sich – kurz gesagt – auf den Grundsatz der lex mitior. Seit seiner Widerhandlung seien die Regelungen im Gesetz zur Bestrafung bzw. Bemassnahmung von Rasern milder geworden. Aus seiner Sicht hätte, bei heutiger Beurteilung, im Strafverfahren eine mildere Strafe ausgesprochen werden müssen, weshalb er diese Milderung immerhin noch im Administrativmassnahmenverfahren für sich beansprucht. Das Bundesgericht stimmt dem Beschwerdeführer zu, dass die neuen Bestimmungen zum Rasertatbestand milder sind – das war ja auch der Sinn der Gesetzesanpassung – und erklärt den Grundsatz der lex mitior für anwendbar (zum Ganzen E. 5). Allerdings verwirft es die Ansicht des Beschwerdeführers, dass seine Strafe, würde sie heute beurteilt, nach Art. 90 Abs. 3ter SVG gemildert würde, weil er Ersttäter war. Einerseits handelt es sich dabei um eine KANN-Vorschrift und andererseits war seine Verkehrsregelverletzung besonders krasser Natur, nicht zuletzt weil das hohe Risiko in einen Verkehrsunfall mündete, bei welchem Drittpersonen verletzt wurden (E. 5.4).
Nun aber endlich zu dem Kern des Entscheides aus administrativrechtlicher Sicht:
Bei der Festsetzung einer Warnmassnahme nach Art. 16c SVG kommt Art. 16 Abs. 3 SVG zur Anwendung (E. 5.5.1). Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG ist eine DARF-Vorschrift. Das bedeutet, auch wenn im Strafverfahren die Strafe gemildert wurde, muss im Administrativmassnahmenverfahren keine Reduktion der Mindestentzugsdauer erfolgen (E. 5.5.2). Da der Beschwerdeführer einen krasseren Raserfall zu verantworten hat, ist es nicht zu beanstanden, dass die Dauer der Warnmassnahme nicht gekürzt wurde.
Vorsicht Meinung: Was bedeutet das nun für die eingangs gestellten Fragen?
Da das Bundesgericht Art. 16 Abs. 3 SVG unmissverständlich für anwendbar erklärt, bedeutet das aus meiner Sicht, dass nach einer Milderung im Strafverfahren Warnmassnahmen nach Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG nicht vom Maximum zu reduzieren sind («Von oben herab»), sondern nach der üblichen Methode von der Mindestentzugsdauer auszugehen ist und die Einzelfallumstände massnahmeerhöhend zu berücksichtigen sind («von unten hinauf»), sofern sich die Entzugsbehörde überhaupt dazu entscheidet, die Mindestentzugsdauer zu reduzieren. Sie darf ja, muss aber nicht. Ebenso heisst das, dass eine Sperrfrist nach Art. 16d Abs. 2 SVG nach einer strafrechtlichen Milderung immer 12 Monate beträgt.