Urteil 1C_182/2025: Unvorsichtiges Abbiegemanöver – schwer oder mittelschwer?
Es muss nicht immer etwas Neues sein, Repetition ist für die «graue Masse zwischen den Ohren» auch ab und zu eine Wohltat. So verhält es sich mit diesem Urteil. Es befasst sich vorbildlich mit der Abgrenzung zwischen der mittelschweren und schweren Widerhandlung, sowie der Aufmerksamkeit nach Art. 31 Abs. 1 SVG, mit den Regeln zum Einspuren gemäss Art. 36 Abs. 1 SVG, der Zeichengebung nach Art. 39 Abs. 1 SVG sowie dem Vertrauensgrundsatz in Art. 26 Abs. 1 SVG. Oder anders gesagt: Mit allem, was man beim Abbiegen so beachten muss.
Abbiegen kann doch nicht so kompliziert sein…
Der Beschwerdeführer verursachte einen Verkehrsunfall. Als er in Martigny auf der Rue du Léman mit seinem VW-Bus mit Anhänger rechts in eine Parkgarage einbiegen wollte, übersah er einen Scooter-Fahrer auf dem Velostreifen. Es kam zur Kollision, wobei der Scooter-Fahrer schwer verletzt wurde. Nachdem das Administrativmassnahmen-Verfahren sistiert war, ordnete die Entzugsbehörde einen Warnungsentzug von 12 Monaten an, unter Annahme einer schweren Widerhandlung und Berücksichtigung der Kaskade. Der Beschwerdeführer erblickt in seinem Fahrverhalten eine mittelschwere Widerhandlung und möchte einen Führerausweis-Entzug von einem Monat.
Zunächst setzt sich das Bundesgericht mit den Voraussetzungen von Art. 16c SVG auseinander, die grundsätzlich deckungsgleich sind mit der groben Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässiger Begehung grobe Fahrlässigkeit. Der französische Text spricht auch von Skrupellosigkeit. Diese Rücksichtslosigkeit bzw. Skrupellosigkeit darf nicht leichthin angenommen werden. Nur wenn die Missachtung eines klaren Risikos vorliegt, sind die Voraussetzungen erfüllt. Je schwerer der objektive Verstoss gegen die Verkehrsregel wiegt, desto eher wird die Skrupellosigkeit bejaht, es sei denn es sprechen klare Details des Einzelfalles dagegen (E. 3.2.1).
Ein Verkehrsteilnehmer hat seine Aufmerksamkeit der Strasse zu widmen, wobei sich das Mass der Aufmerksamkeit nach den Umständen des Einzelfalles zu richten hat (Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VRV). Wer seine Fahrtrichtung ändert, muss auf die übrigen Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen (Art. 34 Abs. 3 SVG). Und schliesslich muss das Ändern der Fahrtrichtung früh genug angezeigt werden (Art. 39 Abs. 1 SVG), wobei z.B. das Blinken nicht von der Vorsicht beim Abbiegen entbindet (Art. 39 Abs. 2 SVG). Auch hier richtet sich das Mass der Sorgfalt nach dem Einzelfall, wobei das Bundesgericht festhält, dass das Setzen des Blinkers alleine noch nicht genügt (E. 3.2.2).
Wer rechts abbiegen will, muss rechts einspuren (Art. 36 Abs. 1 SVG). Dabei ist besondere Vorsicht geboten, wenn für das Abbiegemanöver ein Radstreifen überfahren werden muss. Zwar dürfen Autos auf Radstreifen mit unterbrochener Linie fahren (Art. 40 Abs. 3 VRV), müssen dabei aber bedenken, dass Velos wiederum rechts überholen dürfen, wenn der Raum dazu besteht (Art. 42 Abs. 3 VRV). Ausführlich beschäftigt sich das Bundesgericht mit dem «manoeuvre de présélection», also dem Verhalten eines Lenkers, welches dem eigentlichen Abbiegemanöver vorangeht. Wer hätte gedacht, dass Abbiegen so kompliziert ist (zum Ganzen E. 3.2.3).
Schliesslich darf nach dem Vertrauensgrundsatz jeder Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, dass sich alle anderen regelkonform verhalten (Art. 26 Abs. 1 SVG).
Im vorliegenden Fall lenkte der Beschwerdeführer einen Personenwagen mit Anhänger, bei welchem es notorisch ist, dass das Manövrieren schwieriger und die Sicht nach hinten eingeschränkt ist. Auch wenn der Beschwerdeführer früh genug blinkte, spurte er bei seinem Abbiegemanöver nicht korrekt ein und liess einen Abstand von ca. 2.1m zum rechten Fahrbahnrand. Der Scooter-Fahrer hätte zwar rechts nicht überholen dürfen. Trotzdem hätte der Beschwerdeführer vorhersehen müssen, dass ihn jemand auf dem Velostreifen überholen würde, da er nur ca. 10 km/h fuhr. Der Beschwerdeführer verhielt sich grobfahrlässig, indem er zunächst nicht richtig einspurte, dadurch eine gefährliche Situation schuf und dann abbog, ohne konkret zu wissen, ob ihn ein Verkehrsteilnehmer auf dem Radstreifen rechts überholte. Unter diesen Umständen hätte er schlimmstenfalls anhalten müssen, um sich zu vergewissern, dass er niemanden gefährdet auf dem Velostreifen. Auch dass er aufgrund der Länge seiner Fahrzeugkombination für das Abbiegen links ausholen musste, ändert nichts daran, dass er bei seinem Manöver besonders vorsichtig sein muss. Und da er sich regelwidrig verhielt, kann er sich auch nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen.
Schliesslich ändert es auch nichts, dass der Scooter-Fahrer den Beschwerdeführer verbotenerweise rechts überholte. Es liegt kein Umstand vor, welcher das Verschulden des Beschwerdeführers in milderem Lichte erscheinen liesse. Im Gegenteil scheint das Bundesgericht der Ansicht zu sein, dass Velos und Mofas etc. sich eher schwer tun mit dem Einhalten von Regeln und man trotz gestelltem Blinker immer damit rechnen muss, rechts überholt zu werden. Diese Ansicht widerspricht bis zu einem gewissen Grad den Erwägungen im Urteil 6B_164/2016. In diesem Fall durfte ein LKW-Fahrer darauf vertrauen, dass er rechts nicht von Fahrrädern überholt wird, wenn er sein Abbiegemanöver ordnungsgemäss durchführt. Folglich machte er sich nicht der fahrlässigen Tötung schuldig (vgl. dazu den Beitrag vom 29. Juni 2017).
Bonus-Urteil zum Stadtbild Basels
Urteil 1C_265/2025: Wunderschönes Basel mit Ausserortscharakter
Es kommt selten vor, dass die Beurteilung eines Strassenabschnitts innert kurzer Zeit gleich zweimal vor Bundesgericht landet. Konkret geht es um die Schwarzwaldallee in Basel, die zumindest teilweise eher den Charakter eines dystopischen Betonkunstwerks hat als jener einer hübschen Schweizer Stadt. Bereits im Urteil 1C_635/2023 wurde darüber diskutiert, ob die Strasse teilweise Ausserortscharakter hat. Im erwähnten Urteil wurde dies verneint und ein Fahrverbot von drei Monaten bestätigt (vgl. dazu den Beitrag vom 16. Dezember 2024).
Im vorliegenden Fall überschritt der Beschwerdeführer die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h, womit grundsätzlich eine grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung vorliegt. Im Strafverfahren wurde aber eine einfache Verkehrsregelverletzung angenommen. Die Fahrerlaubnis wurde schliesslich unter Annahme einer mittelschweren Widerhandlung für einen Monat entzogen. Der Beschwerdeführer möchte allerdings, dass auf eine Massnahme verzichtet bzw. allerhöchstens eine Verwarnung angenommen wird. Um es kurz zu machen: Der Beschwerdeführer schuf eine ernstliche Gefahr. Aufgrund des für eine Innerortsstrecke atypischen Strassenbildes handelte der Beschwerdeführer allerdings nicht rücksichtslos. Damit kommt der Auffangtatbestand der mittelschweren Widerhandlung zur Anwendung.
Schliesslich hält das Bundesgericht fest, dass es entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers im Administrativmassnahmen-Verfahren keine Verjährung gibt.
Damit erhalten die N5 bei Alfermée (vgl. Urteil 6B_622/2009) und die St. Margarethenstrasse in Andwil (vgl. Urteil 6B_485/2013) im illustren Club der Innerortsstrecken mit Ausserortscharakter ein neues Mitglied. Natürlich sind wir uns alle bewusst, dass bei Geschwindigkeitsüberschreitungen trotzdem stets die Umstände des Einzelfalles geprüft werden müssen…
