Führerflucht als besonders leichter Fall?

Urteil 1C_170/2023: Die Krux mit der Katalogtat

Dieses Urteil beantwortet die Frage, ob auch bei Katalogtaten gemäss Art. 16b Abs. 1 oder 16c Abs. 1 SVG ein besonders leichter Fall angenommen werden kann.

Der Beschwerdeführer schleppte mit einem Zugfahrzeug ein anderes Auto ab. Während er an einer roten Ampel stand, missachtete ein Fahrradfahrer seinerseits ein Rotlicht, fuhr in das gespannte Abschleppseil, stürzte und verletzte sich dabei. Der Beschwerdeführer fuhr danach weiter. Im Strafverfahren wurde er zwar wegen „Führerflucht“ schuldig gesprochen. Von einer Bestrafung wurde nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG abgesehen.

Der Führerausweis wurde für drei Monate entzogen, unter Annahme einer schweren Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. e SVG). Interessant dabei ist, dass das ASTRA in seiner Stellungnahme zu der Massnahme ausführte, dass diese sich in einem Wertungswiderspruch zum Strafurteil befände. Ein dreimonatiger Führerausweis-Entzug sei im vorliegenden Spezialfall stossend. Darauf stützt sich auch der Beschwerdeführer. Auch wenn Führerflucht vorläge, sei läge mangels Gefährdung und schweren Verschulden keine schwere Widerhandlung vor. Die zuständige Behörde stellt darauf ab, dass besonders leichte Fälle nur Unter den Voraussetzungen von Art. 16a Abs. 4 SVG angenommen werden können. Im vorliegenden Fall seien aber die Voraussetzungen einer Führerflucht erfüllt, weshalb die Mindestentzugsdauer von drei Monaten zur Anwendung gelangen müssen. Diese dürfe bekanntlich nicht unterschritten werden.

Zunächst äussert sich das Bundesgericht zum Begriff der „Führerflucht“ und stellt fest, dass der administrativ- und strafrechtliche Begriff der Führerflucht deckungsgleich sind (E. 5.2.1). Dann erinnert es daran, dass die Administrativ-Behörde in der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes frei ist. Zudem ist das Ziel des Administrativmassnahmen-Verfahrens nicht, jemanden zu bestrafen (sowie im Strafverfahren), sondern jemanden zu erziehen, auch wenn die erzieherische Massnahme von der betroffenen Person als Strafe empfunden wird (E. 5.2.2). Da in beiden Verfahren die Voraussetzungen der Führerflucht bejaht wurden, ist auch der Grundsatz der „Einheit der Rechtsordnung“ gewahrt (E. 5.2.3). Damit verfängt es auch nicht, wenn sich der Beschwerdeführer darauf beruft, dass sein Verschulden gering und die Gefährdung leicht war. Denn diese Argumentation bezieht sich auf Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG, nicht aber auf die Katalogtat der Führerflucht (E. 5.2.4). Und schliesslich kann kein besonders leichter Fall vorliegen, wenn ein Katalogtatbestand erfüllt ist (E. 5.3).

Auf eine Massnahme gemäss Art. 16c Abs. 2 SVG kann auch nicht verzichtet werden. Dass die Mindestentzugdauer einer Warnmassnahme nicht unterschritten werden darf, hat das Bundesgericht wiederholt bestätigt (s. eine gute Auflistung der Rechtsprechung in E. 6.1). Auch wenn hier ein Ausnahmefall vorliegt, liegt keine vom Gericht zu füllende Gesetzeslücke vor, wenn im Gesetz der „besonders leichte Fall einer Führerflucht“ nicht geregelt ist. Der Beschwerdeführer muss mit der Mindestentzugsdauer sanktioniert werden.

Fahrlässige Führerflucht

BGE 6B_1452/2019: Unabsichtlich die Flucht ergreifen (zur amtl. Publ. vorgesehen)

Zwischen dem Beschwerdeführer und einem Motorrad ereignete sich bei einem Überholmanöver eine seitliche Kollision, wobei der Motorradfahrer sowie seine Sozia Verletzungen davon trugen. Der Beschwerdeführer setzte seine Fahrt danach fort, wofür er von den kantonalen Instanzen gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG wegen fahrlässiger Führerflucht verurteilt wurde.

Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass fahrlässige Führerflucht nicht strafbar sei. Aus dem Wortlaut, Sinn und Zweck von Art 92 Abs. 2 SVG ergebe sich, dass nur der vorsätzliche Verstoss strafbar sei. Insb. die Begriffe „Ergreifen“ und „Flucht“ deuten auf das Erfordernis eines bewussten Entschlusses des Täters (E. 3.1).

Die Flucht setzt voraus, dass das Entfernen vom Unfallort pflichtwidrig i.S.v. Art. 51 SVG ist. Werden Personen verletzt, müssen grds. alle Beteiligten Hilfe leisten. Zudem muss die Polizei gerufen werden. Ohne Zustimmung der Polizei darf grds. niemand die Unfallstelle verlassen. Art. 100 Ziff. 1 SVG stipuliert, dass SVG-Tatbestände grds. vorsätzlich und fahrlässig erfüllt werden können, sofern es das Gesetz nicht anders bestimmt (E. 3.2).

Sowohl in der älteren, als auch neueren Rechtsprechung hat sich das Bundesgericht stets dafür ausgesprochen, dass auch die fahrlässige Führerflucht strafbar ist. Denn Sinn und Zweck der Norm ist letztlich die Sicherstellung der Geschädigtenansprüche sowie eine erfolgreiche Unfallaufklärung. Auch die herrschende Lehre stützt diese Ansicht. Im Vergleich zum Grundtatbestand des „pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall“ sieht der qualifizierte Tatbestand der Führerflucht eine höhere Strafandrohung vor, weil eben Menschen verletzt wurden und gemäss Botschaft für die Führerflucht eine „verwerfliche Gesinnung“ nötig sei. Daraus lässt sich aber entgegen den Ansichten des Beschwerdeführers nicht schliessen, dass die Führerflucht nur vorsätzlich begangen werden kann.

Das Fahrzeug des Beschwerdeführers wies auf der ganzen rechten Seite erhebliche Beschädigungen auf. Daraus durfte die Vorinstanz willkürfrei darauf schliessen, dass der Beschwerdeführer bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit den Unfall hätte bemerken müssen. Insofern hätte er auch seinen Pflichten nach einem Unfall nachkommen können.

Die Beschwerde wird abgewiesen.