Urteil 1C_246/2024: Ich bin einfach gebunden…
Das Urteil befasst sich mit der allseits bekannten Thematik, nämlich der Bindung der Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt. Interessant ist das Urteil allemal, weil sich das Bundesgericht ziemlich eingehend damit befasst, was bei einer Verfahrenssistierung alles möglich ist. Zudem ist es das erste Mal (soweit ersichtlich), dass sich jemand vor Bundesgericht wehrt, weil sein vorsorglicher Entzug nicht neu beurteilt wurde gemäss Art. 30a Abs. 2 VZV.
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Der Führerausweis auf Probe des Beschwerdeführers wurde vorsorglich entzogen, weil er zwei Verkehrsunfälle verursachte. Diese Massnahme wird zugunsten der Verkehrssicherheit angeordnet, wenn die Annullierung des Führerausweises auf Probe zur Debatte steht (vgl. Urteil 6B_1019/2016 E. 1.4.3).
Eingeheng beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Dualität der Verfahren im Schweizer Recht nach einer Verkehrsregelverletzung. Im Administrativmassnahmen-Verfahren ist die Entzugsbehörde grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden, sodass widersprüchliche Entscheide vermieden werden. Das bedeutet auch, dass sich die betroffene Person gdrs. im Strafverfahren gegen den Vorwurf einer Verkehrsregelverletzung wehren muss, u.a. weil das Strafverfahren besser Gewähr dafür bietet, dass das Ergebnis der Sachverhaltsermittlung näher bei der materiellen Wahrheit liegt. Und auch wenn die Entzugsbehörde im Administrativ-Verfahren das Beschleunigungsgebot beachten muss, so darf sie trotzdem ein sistiertes Verfahren nicht wieder aufnehmen, wenn der Sachverhalt im Strafverfahren noch nicht festgehalten wurde. Ist die betroffene Person der Ansicht, dass ihre Sache zu langsam bearbeitet wird, muss sie primär im Strafverfahren für Beschleunigung sorgen.
Schliesslich verweist das Bundesgericht darauf, dass bei einer Annullierung des Führerausweises auf Probe Zweifel an der charakterlichen Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Die Zweifel an der Fahreignung setzen keine strikten Beweise voraus.
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Urteil 1C_381/2024: Die Staatsanwaltschaft am Fischen?
Anhand einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung befasst sich das Bundesgericht in diesem strafprozessual äusserst knackigen Urteil mit dem Untschied zwischen einer Phishing-Expedition und einem Zufallsfund. Werden Beweise im Rahmen einer Phising-Expedition gefunden, sind diese gänzlich unverwertbar, handelt es sich um Zufallsfunde dürfen die Beweise grds. verwertet werden (Art. 243 Abs. 1 StPO). Vorliegend nahm die Staatsanwaltschaft ein zuvor eingestelltes Verfahren wegen Mordes wieder auf. Im Rahmen der wiederaufgenommenen Untersuchung fand sie „zufällig“ Videos auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers, die Verkehrsregelverletzungen zeigten. Es handelte sich vorliegend nicht um eine Phishing-Expedition, da die Beweisaufnahme nicht „aufs Geratewohl“ (also völlig grundlos) getätigt wurde (ausführlich E. 1.4 f.). Die Wideraufnahme des Verfahrens war allerdings rechtswidrig. Das bedeutet, dass die Beweise nur nach Massgabe von Art. 141 Abs. 2 StPO verwertet werden dürfen. Qualifiziert grobe und sogar grobe Verkehrsregelverletzungen können unter den Begriff der schweren Straftat nach Art. 141 Abs. 2 StPO fallen (vgl. Beitrag vom 04.11.2023). In diesem Sinne wurde der Beschwerdeführer zu Recht wegen den SVG-Delikten verurteilt.
Urteil 6B_53/2024: I really love chattin‘
Der Beschwerdeführer wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt, weil er während 30 Sekunden auf der Autobahn auf seinem Handy durch einen Chatverlauf scrollte. Aus seiner muss ein Freispruch her, weil das Beäugen eines Chatverlaufs keine Verrichtung sei, die die Aufmerksamkeit von der Strasse weglenke. Es liegt auf der Hand, dass das Bundesgericht die Verurteilung bestätigte, denn während dem Scrollen fuhr der Beschwerdeführer auch Schlangenlinien. Er war abgelenkt.
Urteile 6B_778/2024, 6B_1241/2023 und 6B_256/2024: Aktueller Stand beim Abstand
Wer auf der Autobahn nur 0.39s (6B_778/2024) oder 0.52s (6B_1241/2023) Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug einhält, begeht eine grobe Verkehrsregelverletzung.
Im Urteil 6B_256/2024 war der Beschwerdeführer auf der A1L Richtung St. Gallen unterwegs. Er führ mit ca. 50km/h und hatte ca. drei Fahrzeuglängen Abstand zum vorfahrenden Fahrzeug. Als dieses stark abbremste, verursachte der Beschwerdeführer eine Auffahrkollision. Er wurde wegen mangelndem Abstand zu einer Busse wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass auch auf der Autobahn die „1-Sekunden-Regel“ zur Anwendung kommen sollte, wenn die Verkehrsverhältnisse mit dem Verkehr innerhalb einer Ortschaft vergleichbar sind (vgl. dazu etwa Urteil 6B_1030/2010 E. 3.3.3). Das Bundesgericht kontert allerdings die Rechtsansicht des Beschwerdeführers mit Verweis auf die gefestigte Rechtsprechung zum Abstand (E. 2.3). Egal unter welchen Umständen gilt auf der Autobahn grds. die „Halbe-Tacho-Regel“. Ein Fahrzeuglenker muss immer anhalten können, auch wenn sich der Bremsweg des vorfahrenden Fahrzeuges durch eine Kollision brüsk verkürzt.
Urteil 1C_260/2024: Psychische Krankheiten können vorsorglichen FA-Entzug rechtfertigen
Ein polizeilicher Bericht über den Aufenthalt einer Person in einer psychiatrischen Anstalt kann je nach Krankheitsbild Grund sein für die Anordnung eines vorsorglichen Entzuges und einer Fahreignungsabklärung. Das gilt auch dann, wenn es keinen Vorfall im Strassenverkehr gab, denn zum sicheren und jederzeit situationsadäquaten Führen eines Motorfahrzeuges im öffentlichen Strassenverkehr ist ein komplexes Zusammenspiel von psychischen Funktionen und Fähigkeiten erforderlich, das bei psychischen Erkrankungen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt sein kann. Zu diesen Funktionen gehören unter anderem die Fähigkeit zur realitätsgerechten Wahrnehmung und ungestörten Informationsverarbeitung und -bewertung; weiter zählt dazu die Fähigkeit, auf äussere Reize adäquat und zuverlässig zu reagieren sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten situationsbezogen und angemessen zu steuern.
Dabei kommt auch bei Berufsfahrern der Grundsatz zum Zuge, dass bei der Anordnung einer Fahreignungsabklärung die Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen werden muss, auch wenn dies einem Berufsverbot gleichkommt. Die Wirtschaftsfreiheit wird durch die Massnahme nicht verletzt, auch wenn der automobilistische Leumund bis dahin ungetrübt war.