Urteil 1C_650/2021: Zusätzliche Sperrfrist nach Annullierung möglich? (gutgh. Beschwerde)
Spezialfälle sind die Knacknüsse der Juristen und bieten stets die Möglichkeit für kreative Lösungen, mit welchen die Grenzen des Rechtssystems ausgelotet werden. Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, ob bei notorischen Verkehrsregelbrechern, deren Führerausweis auf Probe annulliert wird, eine zusätzliche Sperrfrist zu der ein- bzw. zweijährigen Sperrfrist gemäss Art. 15a Abs. 5 SVG angeordnet werden kann. Die Idee beruht einerseits auf dem Umstand, dass Inhaber des definitiven Führerausweises aufgrund der Kaskade im Wiederholungsfalle mit stets strengeren Massnahmen rechnen müssen. Andererseits kann die Kaskade nach der Annullierung eines Führerausweises auf Probe bei erneuter Delinquenz nicht angewendet werden. Bei einer neuen Warnmassnahme in einer zweiten Probezeit darf aber der Leumund gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG trotz dem „clean break“ einer Annullierung berücksichtigt werden (vgl. dazu Urteil 1C_136/2017 E. 3.5, das hier auch schon gefeatured wurde).
Aber der Reihe nach:
Der Beschwerdeführer ist kein unbeschriebenes Blatt. Er verfügt über ein reichhaltiges Palmares an Widerhandlungen bzw. Sanktionen:
- Mittelschwere Widerhandlung mit Spezialtraktur – Führerausweisentzug für einen Monat
- Schwere Widerhandlung mit Motorrad – Führerausweisentzug für drei Monate
- Schwere Widerhandlung mit Motorrad – Führerausweisentzug für zwölf Monate
- Schwere Widerhandlung mit Motorrad (Fahren trotz Entzug) – Kaskadensicherungsentzug, Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit, Sperrfrist 24 Monate. Hier war der Beschwerdeführer bereits Inhaber des FAP für die Kat. B.
- Nach positivem verkehrspsychologischen Gutachten wurde die Fahrerlaubnis wiedererteilt und die Probezeit verlängert.
- Im Mai 2020 mittelschwere Widerhandlung mit Personenwagen – Annullierung des FAP.
- Im Juni 2020 Führen eines Motorrades während der Sperrfrist.
Nun wird es aber interessant: Nach Einsprache ordnete die zuständige Behörde eine auf Art. 15a Abs. 5 SVG gestützte „Wartefrist“ von 24 Monaten an. Dazu wurde in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG eine zusätzliche Sperrfrist von 48 Monaten verfügt. Der Beschwerdeführer wehrt sich vor Bundesgericht gegen diese zusätzliche, „leumundbedingte“ Sperrfrist. Im Wesentlichen bringt er vor, dass die Spezialregeln des Führerausweises auf Probe in sich geschlossen sind und es keine gesetzliche Grundlage für die Berücksichtigung seines Leumundes im Sinne von Art. 16 Abs. 3 SVG gibt.
Die Vorinstanz leitet Ihre Begründung aus Urteil 1C_136/2017 E. 3.5 (bzw. BGE 143 II 699 E. 3.5.7) ab. Dort entschied das Bundesgericht, dass Art. 15a SVG nur eine teilweise spezifische Regelung zum Führerausweis auf Probe enthält. Zwar beginnt die Kaskade nach der Annullierung eines FAP von neuem. Die Widerhandlungen vor der Annullierung aber dürfen gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG als getrübter Leumund berücksichtigt werden bei erneuten Verkehrsregelverstössen. Die Vorinstanz stellt sich somit auf den Standpunkt, dass die gesetzliche Sperrfrist von Art. 15a SVG bei unbelehrbaren Neulenkern zu vorteilhaft und kurz ist und dass in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG zugunsten der Verkehrssicherheit Zusatzfristen angeordnet werden müssen. Aus Sicht des Bundesgerichts ist die Berufung der Vorinstanz auf BGE 143 II 699 E. 3.5.7 (und auch BGE 146 II 300) unbehelflich, weil sich diese mit andersgelagerten Fällen befassten. Trotzdem prüft es danach umfassend, ob das Gesetz zusätzliche Sperrfristen zu denen in Art. 15a Abs. 5 SVG erlaubt. Es legt dazu den Artikel und die Verordnungsbestimmungen grammatikalisch aus:
Es ist offensichtlich, dass weder Art. 15a Abs. 5 SVG, noch Art. 35a und Art. 35b VZV dem Wortlaut nach zusätzliche Sperrfristen zur einjährigen bzw. zweijährigen nach Fahren trotz Sperrfrist ermöglichen. Gleiches gilt für die durch die Motion Freysinger geänderte Fassung der Bestimmungen (E. 5.2.1). Auch die weiteren Auslegungselemente weisen nicht darauf hin, dass zusätzliche Sperrfristen angeordnet werden können. Das Bundesgericht bezeichnet die bestehenden Regeln zum Führerausweis auf Probe als strenge Ahndung und Prävention von SVG-Widerhandlungen durch Neulenkerinnen und Neulenker, die damit der Erhöhung der Verkehrssicherheit dienen. Die Regelungen sind aus Sicht des Bundesgericht recht streng und ein in sich weitgehend geschlossenes System. Deshalb betrachtet es das Bundesgericht als nicht nötig, dass Neulenker neben den bereits strengen Folgen einer Annullierung mit einer zusätzlichen Sperrfrist in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG sanktioniert werden müssen (E. 5.2.2).
Eine zusätzliche Sperrfrist anzuordnen, geht also nicht. Nun kommt das grosse ABER:
Die Sperrfrist von Art. 15a Abs. 5 SVG ist eine Mindestsperrfrist. Das Gesetz nennt keine Gründe, nach welchen die Sperrfrist länger angeordnet werden kann. Eine Verlängerung ist in Ausnahmefällen jedenfalls dann geboten, wenn die einjährige Mindestsperrfrist bei ganzheitlicher Betrachtungsweise mit Blick auf die Entzugsdauer, die unter den gegebenen Umständen nach den Regeln für den Entzug des definitiven Führerausweises zu verfügen wäre, auch in Berücksichtigung der mit dem Entzug mit Verfallwirkung einhergehenden weitreichenden Folgen unangemessen und unbillig wäre.
Die Beschwerde wird also gutgeheissen, weil zur Sperrfrist von Art. 15a Abs. 5 SVG keine zusätzliche Sperrfrist verfügt werden kann. Dem Beschwerdeführer wird das aber wenig nützen, denn es ist davon auszugehen, dass die kantonale Behörde eine Sperrfrist nach Art. 15a Abs. 5 SVG anordnen wird, die über die Mindestentzugsdauer von vorliegend zwei Jahre hinausgehen wird.