Geschwindigkeitsschematismus

BGE 1C_520/2016: Schematismus bei GÜ bestätigt

Ein Taxifahrer wehrt sich gegen den mind. zweijährigen Sicherungsentzug gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. 2 SVG. Die massnahmeauslösende Geschwindigkeitsüberschreitung von 37km/h auf der Autobahn sei aufgrund der besonderen Umstände nur als mittelschwere Widerhandlung zu qualifizieren. Er habe seine Kundin schnellstmöglich zu ihrem kranken Kind fahren wollen. Zudem war Nacht und es herrschte wenig Verkehr.

Zunächst bestätigt das BGer den Schematismus: „In Bezug auf Geschwindigkeitsüberschreitungen hat die Rechtsprechung schematische Regeln entwickelt, um zwecks Bestimmung der Mindestentzugsdauer leichte, mittel- und schwere Widerhandlungen voneinander abzugrenzen. Demnach ist objektiv eine schwere Widerhandlung (Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG) ungeachtet der konkreten Umstände, d.h. auch bei günstigen Strassenverhältnissen, gegeben, wenn der Lenker die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um 35 km/h überschritten hat (vgl. BGE 123 II 106 E. 2c S. 112 f.; mit ausführlicher Begründung bestätigt in Urteil 1C_83/2008 vom 16. Oktober 2008 E. 2.1 [in: JdT 2008 I 447]).“

Zu den bes. Umständen: „Liegen jedoch im Einzelfall besondere Umstände vor, müssen diese mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip bei der Festlegung der Art und Dauer der ausgesprochenen Massnahmen einbezogen werden (BGE 126 II 196 E. 2a S. 199). Dass der Beschwerdeführer die Limite von 35 km/h nur um 2 km/h überschritten hat, gute Strassenverhältnisse und wenig Verkehr herrschten und dass er aus achtenswerten Motiven gehandelt hat, um seine Kundin möglichst rasch nach Hause zu ihrem kranken Kind zu befördern, genügen zur Annahme solcher besonderer Umstände nicht.“

Was rechtfertigt denn eine GÜ überhaupt: „Eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung kann allenfalls in eigentlichen Notstandssituationen, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter wie Leib, Leben und Gesundheit von Menschen in Frage steht, gerechtfertigt sein (ausführlich Urteile 1C_4/2007 vom 4. September 2007 E. 2.2 und 6B_7/2010 vom 16. März 2010 E. 2 mit Hinweisen). Eine solche Konstellation, in welcher sich eine derart massive Geschwindigkeitsüberschreitung rechtfertigen liesse, liegt hier indes nicht vor.“

Das BGer bestätigt damit seine Rechtsprechung bzgl. GÜ.

Pflichten beim Losfahren aus Parkplatz, Raserurteil

BGE 6B_633/2016: Der Rosenkrieg – Pflichten beim Losfahren aus Parklücke

Die getrennten Ehegatten X und A treffen sich vor Bundesgericht. Als er aus einem Parkplatz losfährt, fällt sie neben dem Auto hin und verletzt sich. Die Schilderungen über den Unfallhergang widersprechen sich. Das BGer bestätigt die Feststellungen der Vorinstanz bzgl. Art. 26 SVG beim Losfahren aus einer Parklücke in E.4.3:

Dem Beschwerdegegner „…könne kein Vorwurf gemacht werden, dass er seine Aufmerksamkeit ab dem Zeitpunkt, als er aus dem Parkplatz habe fahren wollen, auf den Verkehr auf der Strasse gerichtet habe.“ „Das Wegfahren eines am Strassenrand parkierten Wagens stelle für eine sich auf dem Trottoir und auf der Höhe der Fahrertür aufhaltende Person grundsätzlich keine Gefahr dar, da sich das Auto beim Wegfahren von dieser wegbewege. Der Beschwerdegegner 1 habe sich aufgrund des Vertrauensgrundsatzes gemäss Art. 26 SVG darauf verlassen dürfen, dass auf dem Trottoir stehende Personen sich nicht plötzlich in den Gefahrenbereich des losfahrenden Fahrzeugs begeben würden. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass sich die Beschwerdeführerin an der Tür des wegfahrenden Autos festhalten würde.“

Fazit: Fährt man aus einer Parklücke los, muss man nicht damit rechnen, dass plötzlich jemand vors Auto tritt. Hält man sich gar am Auto fest, ist die Gefährdungshaftung gemäss Art. 59 SVG ausgeschlossen.

 

BGE 6B_136/2016: Neues Raserurteil

Der Beschwerdeführer wendete unter Alkoholeinfluss von 1.91% und dem Neuroleptikum Quetiapin bei durch Nebel auf 50m eingeschränkter Sicht auf der Autobahn in Freiburg sein Fahrzeug und fuhr 550m als Geisterfahrer, bevor sein Auto den Geist aufgab. Ebenfalls ist er wiederholt unter Alkoholeinfluss negativ aufgefallen. Er bestreitet u.a. die Verurteilung als Raser nach Art. 90 Abs. 3 SVG. Das BGer zur qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung:

„D’autres cas peuvent également entrer en ligne de compte, comme par exemple rouler à contre-sens sur l’autoroute, pour autant que les circonstances, notamment lorsqu’elles sont cumulées avec d’autres violations, les fassent apparaître comme atteignant le degré de gravité extrême requis par la norme. La présence d’alcool et/ou d’autres substances incapacitantes, conjuguée à d’autres infractions pourra également jouer un rôle aggravant permettant de retenir la réalisation de l’infraction.“

Das Bundesgericht stellt zunächst in E. 2.1 fest, dass die Aufzählung der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzungen nicht abschliessend ist. Eine Geisterfahrt gilt ebenfalls als qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung, insb. wenn sie durch weitere Delikte, wie FiaZ und FuD, verschlimmert wird. Trotz heftiger Intoxikation bestätigt das Bundesgericht die Auffassung der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer urteilsfähig und (eventual)vorsätzlich gehandelt hat.

ARV-Verstösse im Ausland

BGE 6B_1151/2015: ARV-Verstösse im Ausland

Der Führer eines in Deutschland zugelassenen Reisebusses wird in NW einer Schwerverkehrskontrolle unterzogen. Dabei wurden ARV-Verstösse festgestellt. Die Verstösse wurden in Deutschland und in Polen begangen. Der Lenker bringt hervor, dass die ARV wegen dem Territorialitätsprinzip bei Verstössen im Ausland gar keine Anwendung findet.

Das BGer dazu: Einerseits wird das Territorialitätsprinzip durch Art. 56 SVG durchbrochen. Der Bundesrat hat aufgrund dieser Bestimmung auch die ARV erlassen. Daneben gibt es das Europäische Übereinkommen vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationalen Strassenverkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR). Die Artikel der ARV über Ruhezeit entsprechen jenen des AETR. „Dies hat zur Folge, dass die genannten Bestimmungen der ARV 1 auch in einem Fall wie dem vorliegenden zur Anwendung gelangen, wo die Widerhandlungen mit einem ausländischen Fahrzeug auf ausländischem Staatsgebiet begangen wurden. Entsprechend können die Verstösse gemäss Art. 21 ARV 1 sanktioniert werden.“

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Vortritt, Geschwindigkeit, Gesamtgewicht, Anordnung einer Blutprobe

BGE 6B_917/2016: Vortrittsregelung beim Einfügen in den Verkehr

„Eine gewisse Behinderung des Vortrittsberechtigten kann kaum vermieden werden, wenn die Sicht für einen Wartepflichtigen bei einer Einmündung so beschränkt wird, dass er zwangsläufig mit dem Vorderteil seines Wagens in die vortrittsbelastete Verkehrsfläche gelangt, bevor er von seinem Fahrersitz aus überhaupt Einblick in diese erhält. In solchen Situationen ist ein sehr vorsichtiges Hineintasten zulässig, wenn der Vortrittsberechtigte das ohne Sicht langsam einmündende Fahrzeug rechtzeitig genug sehen kann, um entweder selbst auszuweichen oder den Wartepflichtigen durch ein Signal zu warnen. Dabei darf grundsätzlich darauf vertraut werden, dass vortrittsberechtigte Fahrzeuge abbremsen oder sogar anhalten, wenn das einbiegende Fahrzeug aus genügend grosser Entfernung gesehen werden kann“.

Vorliegend fährt ein Lieferwagen auf Handzeichen hin auf ein Strasse um links abzubiegen, ohne einen auf der anderen Spur fahrenden Motorradfahrer zu beachten. Er fuhr einfach los, nicht wie gefordert mit vorsichtigem Hereintasten. Die Beschwerde wird abgelehnt.

 

BGE 6B_969/2016: Vortrittsregelung beim Wenden auf Strasse

„Der Führer, der sein Fahrzeug wenden will, darf andere Strassenbenützer nicht behindern; diese haben Vortritt (Art. 36 Abs. 4 SVG). Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht behindern (Art. 14 Abs. 1 Verkehrsregelnverordnung [VRV; 741.11]). Den Vortrittsberechtigten behindert grundsätzlich, wer ihn zu einem Verhalten veranlasst, zu dem er nicht verpflichtet ist und das er nicht will, ihm also die Möglichkeit nimmt, sich im Rahmen seiner Vortrittsberechtigung frei im Verkehr zu bewegen, namentlich wenn der Berechtigte gezwungen wird, seine Fahrtrichtung oder seine Geschwindigkeit brüsk zu ändern (Urteil 6B_1185/2014 vom 24. Februar 2015 E. 2.2).“ „Die Zeichengebung entbindet den Fahrzeugführer nicht von der gebotenen Vorsicht (Art. 39 Abs. 2 SVG). Muss zur Wende ausgeholt werden, so ist „besonders vorsichtig zu fahren und nötigenfalls anzuhalten“ (Art. 13 Abs. 5 VRV). Die Vorinstanz nimmt an, der Beschwerdeführer habe den Richtungsblinker gestellt, aber bei seinem Wendemanöver die dafür bestehenden, besonders hohen Sorgfaltspflichten sowie das Behinderungsverbot [recte] verletzt (Urteil S. 9).“

Obwohl er links geblinkt hat, wird der Beschwerdeführer dafür verurteilt, den Vortritt des nachfolgenden Verkehrs behindert zu haben. Die Beschwerde wird abgewiesen.

 

BGE 1C_273/2016: Überschreiten des Gesamtgewichts, Administrativmassnahme

„Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung geht es nicht an, das für die Beurteilung des Vorliegens einer erhöhten abstrakten Gefährdung massgebliche Gewicht einzelfallweise zu bestimmen (Urteile 1C_512/2014 vom 24. Februar 2015 E. 3.3; 1C_181/2014 vom 8. Oktober 2014 E. 3.2; 1C_690/2013 vom 4. Februar 2014 E. 3.3). Insbesondere können nachträglich beigebrachte Herstellergarantien, die nicht Grundlage des Typengenehmigungsverfahrens bildeten und somit über keine amtliche Bestätigung verfügen, grundsätzlich keine Berücksichtigung finden. Vielmehr ist in der Regel auf das im Fahrzeugausweis ausgewiesene, der Typengenehmigung entsprechende Gesamtzuggewicht abzustellen (Urteile 1C_181/2014 vom 8. Oktober 2014 E. 3.2; 1C_690/2013 vom 4. Februar 2014 E. 4). Im Urteil 1C_512/2014 vom 24. Februar 2015 präzisierte das Bundesgericht, dass das Vorliegen einer Gefährdung auf der Grundlage des Gewichts zu beurteilen ist, welches das Fahrzeug tatsächlich aufgrund seiner technischen Vorrichtungen zu tragen vermag und von der Kontrollbehörde überprüft und bestätigt worden ist (vgl. E. 3.4.2).“

Eine LKW-Kombination überschritt die 40t-Grenze um 11.25%. Obwohl der Hersteller ein Gesamtzuggewicht von 70t garantiert, ist in der Schweiz die 40t-Grenze bzw. der Fahrzeugausweis massgeblich. Die Gefährdung wird mit der kinetischen Energie, aber auch mit der Infrastruktur, die auf das Höchstgewicht von 40t ausgelegt ist, begründet. Die Beschwerde gegen die Annahme einer leichten Widerhandlung wird abgewiesen.

 

BGE 6B_23/2016: Geschwindigkeitsüberschreitung in Begegnungszone

„Même en deçà de cette limite, le cas peut néanmoins être objectivement grave pour d’autres motifs, par exemple à raison d’une vitesse inadaptée aux circonstances, au sens de l’art. 32 al. 1 LCR, ayant entraîné une perte de maîtrise du véhicule. Il a été relevé de manière répétée qu’il en irait de même dans le cas de celui qui, dans une localité, circulerait à 50 km/h à proximité d’un jardin d’enfants au moment où des enfants se trouvent à cet endroit, en raison du risque important créé dans un lieu où circulent des usagers particulièrement vulnérables (piétons, cyclistes; ATF 121 II 127 consid. 4a p. 132; arrêt 6B_282/2009 du 14 décembre 2009 consid. 2.1).“

Zwei Zeugen bezichtigen den Beschwerdeführer in einer Begegnungszone mit „weit mehr als 20km/h zu schnell“ gefahren zu sein. Unabhängig von den schematisch beurteilten Geschwindigkeitsüberschreitungen kann eine grobe Verkehrsregelverletzung auch anhand anderer objektiver Umstände vorliegen. Vorliegend fuhr der Lenker in einer Begegnungszone, Menschen auf beiden Strassenseiten, schlechte Sicht und Schulferien (Kinder!). Er verhält sich grobfahrlässig, wenn er zu schnell fährt. Die Beschwerde wird abgewiesen.

 

BGE 6B_532/2016: Zuständigkeit für die Anordnung von Blutentnahmen, StPO

„Für die zwangsweise Anordnung der Blutentnahme ist nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO die Staatsanwaltschaft zuständig. Eine solche Anordnung kann gemäss Art. 241 Abs. 1 StPO auch zunächst mündlich, mithin telefonisch durch den Pikettstaatsanwalt erfolgen (FAHRNI/HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 26 zu Art. 55 SVG).“

Die Polizei hat ohne Rücksprache mit der Stawa eine Blutentnahme durchgeführt und behauptet, der Beschwerdeführer habe sein Einverständnis unterschriftlich bestätigt. Dem war aber nicht so. Das Resultat der Blutentnahme war nicht verwertbar als Beweis. Die Beschwerde wird gutgeheissen.