Urteil 1C_498/2024: Annullierung wegen Alkohol
Es gibt sie noch, die genussvollen Momente im Leben. Nach hartem Arbeitstag die im richtigen Neigungswinkel bei fein justierter Raumtemperatur gelagerte Flasche Bordeaux aus dem Keller holen, mit dem Cabrio bei 25 Grad im Schatten der Amalfi-Küste entlang brettern oder am Strand in Hội An in einer Hängematte dem Rauschen des Meeres lauschen…
Wir SVG-Nerds brauchen nichts davon! Unsere grauen Zellen werden bereits durch die Lektüre eines guten Bundesgerichtsurteils so angenehm stimuliert, dass Strände, Cabrios und Weine im Rauschen der Hintergrundgeräusche verschwinden. Doch was macht ein solches Urteil aus? Es befasst sich konzise mit verschiedenen Themen und fasst dazu noch gratis die Rechtsprechung zusammen. Es stellt klar, was die Grundsätze sind und führt zugleich auch die Ausnahmen auf. Es muss nicht einmal eine Kehrtwendung der Rechtsprechung beinhalten, damit der Jurist oder die Juristin mit der Zunge schnalzt.
Dieses Urteil ist genau so eines. Es befasst sich mit der Frage, ab wann genau die Voraussetzungen für eine Annullierung des Führerausweises auf Probe erfüllt sind, welcher Wert bei einer Blutalkoholprobe für die Anordnung einer Fahreignungsabklärung relevant ist und wann die Entzugsbehörde ein Strafurteil nicht abwarten muss.
Hört sich spannend an…
Die Beschwerdeführerin ist Inhaberin eines Führerausweises auf Probe. Nach einer Polizeikontrolle im März 2023 wurde anhand einer Blutprobe festgestellt, dass die Beschwerdeführerin mit einem Wert zwischen 1.49 und 2.37 Promille gefahren ist. Die Fahrberechtigung wurde vorläufig abgenommen und später wiedererteilt. Die Entzugsbehörde teilte der Beschwerdeführerin Ende März 2023 schriftlich mit, dass sie mit einem Führerausweis-Entzug rechnen muss.
Im April 2023 wurde die Beschwerdeführerin erneut bei einer Polizeikontrolle angehalten. Eine Atemalkoholprobe ergab einen Wert von 0.55 mg/L.
Nachdem zunächst ein vorsorglicher Entzug des Führerausweises auf Probe angeordnet wurde, verfügte die Entzugsbehörde schliesslich dessen Annullierung und machte die Wiederzulassung u.a. von einer die Fahreignung bejahenden verkehrspsychologischen und -medizinischen Abklärung abhängig. Die Beschwerdeführerin verlangt, dass von einer verkehrsmedizinischen Abklärung abgesehen wird und dass die Sache an die Entzugsbehörde zurückgewiesen wird, damit eine Massnahme mit Probezeitverlängerung ausgesprochen oder das Verfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens sistiert wird.
Die Beschwerdeführerin findet, dass die Unschuldsvermutung verletzt wurde und grundsätzlich das Ergebnis des Strafverfahrens abgewartet werden muss bzw. das Administrativverfahren hätte sistiert werden müssen.
Zur Sistierung (E. 3.1)
Grundsatz: Da die Entzugsbehörde an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden ist, muss sie den Ausgang des Strafverfahrens grundsätzlich abwarten, also ihr Verfahren sistieren.
Ausnahmen:
- Der Sachverhalt ist klar und nicht bestritten (dazu Urteil 1C_574/2013 E. 2.4)
- Die im Strafverfahren geltend gemachten Einwände haben keine Auswirkung auf das Administrativverfahren (vgl. Urteil 1C_464/2020 E. 2.3 oder Beitrag vom 1. Mai 2021)
- Wenn keine Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des Sachverhaltes vorliegen, auch wenn das Strafverfahren noch nicht rechtskräftig ist (vgl. Urteil 1C_464/2020 E. 2.4; So auch das nach dem Beitrag ergangene Urteil 1C_464/2024 E. 2.4)
Steht die Annullierung des Führerausweises auf Probe und wird der Sachverhalt bestritten, kann nicht sistiert werden. Es wird die Fahrberechtigung vorsorglich entzogen (dazu Urteil 1C_246/2024 E. 5 und Beitrag vom 22. Februar 2025).
Die Beschwerdeführerin anerkannte im ersten Fall, dass sie unter Alkoholeinfluss gefahren ist. Im zweiten Fall stellte sie sich auf den Standpunkt, dass sie im Strafverfahren eine Einsprache eingereicht habe, machte dazu aber keine weiteren Ausführungen und zeigte auch nicht auf, wie sich ihr Opponieren im Strafverfahren auf das Administrativmassnahmen-Verfahren auswirken könne. Deshalb musste nicht sistiert werden, sondern ihre Fahrerlaubnis vorsorglich entzogen.
Zur Unschuldsvermutung (E. 3.2)
Die Unschuldsvermutung wird bei der Anordnung von verschuldensunabhängigen Sicherungsmassnahmen nicht angewendet. Dazu zählt auch die Annullierung des Führerausweises auf Probe, denn mit dieser Massnahme geht die Legalvermutung einher, dass die betroffene Person charakterlich nicht fahrgeeignet ist. Weiter wird die Unschuldsvermutung nicht angewendet bei:
- Sicherungsentzügen (vgl. BGE 140 II 334 E. 6)
- Anordnung von Fahreignungsabklärungen (vgl. 1C_405/2020 E. 2.2 oder Beitrag vom 2. Januar 2023)
Zur Annullierung (E. 4)
Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass sie im Zeitpunkt des zweiten Vorfalles noch nicht wusste, dass die erste FiaZ-Fahrt ebenfalls die Voraussetzungen von (a)Art. 15a Abs. 4 SVG erfüllen werde, da sie das Resultat der Blutprobe noch nicht kannte. Damit die Voraussetzungen einer Annullierung erfüllt sind, ist es nicht nötig, dass die Massnahme zur ersten Widerhandlung vollzogen oder rechtskräftig ist. Ferner ist es auch nicht vorausgesetzt, dass überhaupt schon eine Massnahme i.S.v. Art. 15a Abs. 3 SVG angeordnet wurde (vgl. BGE 146 II 300 E. 4.3 oder Beitrag vom 4. Juni 2020).
Vorliegend gab es im Zeitpunkt der zweiten schweren Widerhandlung, noch keinen Entscheid zur ersten FiaZ-Fahrt. Die Beschwerdeführerin wurde aber von der Entzugsbehörde nach der ersten Widerhandlung schriftlich darauf hingewiesen, dass eine Massnahme in Betracht gezogen wird. Sie wusste deshalb, dass ein Administrativmassnahmen-Verfahren eröffnet wurde, weshalb es auch keine Rolle spielte, dass sie das Resultat der Blutprobe erst später kannte. Der Führerausweis auf Probe wurde rechtmässig annulliert.
Zur verkehrsmedizinischen Fahreignungsabklärung (E. 5)
Schliesslich stellt sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, dass die Anordnung der verkehrsmedizinischen Abklärung unverhältnismässig sei, weil aus ihrer Sicht die ermittelten Alkoholwerte keine Zweifel rechtfertigen. Lenkt man ein Auto mit einer Blutalkoholkonzentration von 1.6% oder mehr, muss zwingend eine verkehrsmedizinische Fahreignungsabklärung angeordnet werden (Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG). Die Beschwerdeführerin führt aus, dass beim ersten FiaZ von einer Blutalkoholkonzentration von 1.49 Promille ausgegangen werden muss, in Anwendung der Unschuldsvermutung. Dem entgegnet das Bundesgericht, dass bei Blutproben, die ein Minimal- und ein Maximalergebnis haben, für die Annahme von Zweifeln gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG der Mittelwert massgeblich ist (vgl. BGE 140 II 334 E. 6). Vorliegend liegt der Mittelwert bei 1.93 Promille. Die Anordnung der verkehrsmedizinischen Abklärung erfolgte damit zu Recht.
Edit vom 19. Mai 2025: Urteil 1C_464/2024 ergänzt.
Und noch ein paar weitere Urteile
Urteil 1C_648/2024: Haaranalysen und Haarpflegeprodukte
Der Beschwerdeführer fuhr im Februar 2023 ein Motorfahrzeug mit einer Atemalkoholkonzentration von 0.83 mg/L. Nach einer negativen Begutachtung ordnete die Entzugsbehörde den Sicherungsentzug nach Art. 16d SVG an.
Haaranalysen gelten als geeignetes Mittel um übermässigen Alkoholkonsum sowie die Einhaltung von Abstinenzauflagen nachzuweisen. Der Beschwerdeführer kritisiert, dass das Labor, welches die Haaranalyse durchführte, nicht unabhängig sei, da es ein Eigeninteresse an der Korrektheit seiner Analysen habe. Darin erblickt der Beschwerdeführer Willkür. Willkür liegt allerdings gemäss Bundesgericht nur vor, wenn auf ein Gutachten abgestütz wird, dass offensichtlich unrichtig ist. Hinzukommt, dass das Labor auf Begehren des Beschwerdeführers Stellung nahm zu den vom Beschwerdeführer verwendeten Haarpflegeprodukten. Schlüssig erörterte es, dass diese Produkte nicht zu fehlerhaften Messungen des EtG-Wertes in den Haaren führen können.
Urteil 1C_688/2023: Höhe der Parteientschädigung
Der Beschwerdeführer wehrte sich im kantonalen Verfahren erfolgreich gegen die Anordnung von Auflagen wegen Alkohol und Kokain. Ihm wurde deshalb eine Parteientschädigung von CHF 5’000.00 zugesprochen. Die Vorinstanz betrachtete die Komplexität der Sache als mittelhoch. Der Beschwerdeführer ist damit nicht einverstanden, erhebt Beschwerde beim Bundesgericht und legt eine Honorarnote von CHF 22’068.61 ins Recht.
Aus Art. 29 Abs. 2 BV wird das Recht der Parteien abgeleitet, innert einer 10-tägigen Frist eine Kostennote für die Rechtsvertretung einzureichen, sobald ohne weiteren Aufwand mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass eine Rechtsvertretung ausdrücklich zum Einreichen einer Honorarnote aufgefordert werden muss. Die Frist von 10 Tagen läuft ab dem Zeitpunkt, ab welchem mit dem Abschluss des Verfahrens gerechnet werden kann (E. 2). Insgesamt war es nicht willkürlich, dass pauschal eine Parteientschädigung von CHF 5’000.00 gesprochen wurde. Solche Fälle, in welchen man sich gegen Auflagen wehrt, haben nach Ansicht des Bundesgerichts mittlere Schwierigkeit und rechtfertigen mittleren Aufwand. Ebenso bezeichnet es die Wichtigkeit der Sache sowie den Streitwert (allfällige Kosten für Haaranalysen) als eher gering.
Urteil 6B_52/2025: Atemalkoholprobe
Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Atemalkoholkonzentration. Er betrachtet die Atemalkoholprobe mit Messgerät als nicht verwertbar, weil ihm nicht bewusst war, was der gemessene Wert von 0.4 mg/L bedeutet und er davon abgehalten worden sei, eine Blutprobe zu verlangen.
Die Modalitäten der Atemalkoholprobe mit einem Testgerät richten sich nach Art. 11 SKV, jene mit einem beweissicheren Messgerät nach Art. 11a SKV. Trotz Atemalkoholprobe wird eine Blutprobe angeordnet, wenn die betroffene Person dies möchte (Art. 12 Abs. 1 lit. d SKV). Darauf muss die Polizei ausdrücklich hinweisen (Art. 13 Abs. 1 SKV).
Es ist unbestritten, dass die Polizisten ihrer Informationspflicht nachgekommen sind. Der Beschwerdeführer verzichtete zunächst auf eine Blutprobe, verweigerte aber in der Folge auf Anraten seines Anwaltes die Mitwirkung. Die erst nachträglich eingenommene Verweigerungshaltung, führt aber nicht dazu, dass die rechtmässig erhobene Atemalkoholprobe unverwertbar wird. Ebenso kann sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen, dass er „unter Druck“ auf die Blutprobe verzichtete, nur weil ein Polizist sagte, dass der Wert der Blutprobe erfahrungsgemäss höher ausfalle. Schliesslich verwirft das Bundesgericht auch den Standpunkt des Beschwerdeführers, dass er nicht gewusst habe, was die Anerkennung der Atemalkoholprobe bzw. der Verzicht auf die Blutprobe bedeute. Jeder Person muss klar sein, dass die Sache ernst ist, wenn die Polizei sie auf den Polizeiposten mitnimmt und erklärt, dass man fahrunfähig ist und sofort nicht mehr Autofahren darf. Das gilt vorliegend umso mehr, weil der Beschwerdeführer Anwalt und Privatdozent ist.