Automatische Fahrzeugfahndung

BGE 6B_908/2018: Rechtswidrige Überwachungsanlage (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird Fahren ohne Berechtigung vorgeworfen. Die Widerhandlungen wurde von einer Anlage zur „Automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung“, kurz AFV, festgehalten. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass es für die AFV keine gesetzliche Grundlage gibt, weshalb der Eingriff in sein Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung nach Art. 13 Abs. 2 BV nicht gerechtfertigt ist. Die durch die AFV erhobenen Beweise seien damit nach Art. 141 StPO nicht verwertbar. Das BGer heisst die Beschwerde gut.

Die AFV erfasst mittels Kamera die Kontrollschilder der vorbeifahrenden Fahrzeuge und gleicht diese mit anderen Datenbanken, z.B. Fahndungslisten, ab. Dadurch wird eine massenhafte und praktisch unbegrenzte Erhebung von Daten ermöglicht. Darüber freut sich natürlich die Polizei, der zunehmend gläserne Bürger eher nicht (E. 2.1). Die Vorinstanz war der Ansicht, dass die AFV durch das Polizeigesetz Kt. TG erlaubt ist und deren Daten deshalb als Beweise verwertbar (E 2.2).

Die Aufnahmen der AFV tangieren die Grundrechte auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV) und das Recht auf Privatsphäre (Art. 13 BV). Insb. das Letztere schützt die Bürger vor Missbrauch ihrer Daten, egal ob die Datenbearbeitung durch den Staat oder Private bearbeitet werden. Der Schutz erstreckt sich auch auf Daten, die im öffentlichen Bereich erhoben werden, also auf der Strasse (E. 3.1.1). Grundrechte können nach Art. 36 BV eingeschränkt werden. Das Legalitätsprinzip verlangt an einschränkende Normen zugunsten der Rechtssicherheit eine angemessene Bestimmtheit. Insb. im Polizeirecht entsteht dadurch ein Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Bürger nach klaren Normen und jenen der Polizei, die in der sich stets wandelnden Gesellschaft möglichst effektiv handeln können muss (E. 3.1.2).

Die AFV erfasst das Kontrollschild und damit die Identität des Halters, den Standort, die Fahrtrichtung und den Zeitpunkt der Fahrt sowie allfällige Beifahrer. Dies stelle noch keinen schweren Eingriff in die Grundrechte dar. Dass die massenhaft erhobenen Daten aber mit verschiedenen Datenbanken innert Sekundenbruchteilen abgeglichen werden, erhöht die Eingriffsintensität erheblich und geht damit über die bisherige polizeiliche Gefahrenabwehr hinaus. Mit den Daten können ohne weiteres Bewegungsprofile erstellt werden, wobei man durchaus von einem Überwachungsstaat sprechen kann. Im Kt. TG wurden von der AFV in den ersten Monaten 829’444 Kontrollschilder erfasst, wobei 3’262 Treffer resultierten. Nach Bereinigung ergaben sich unter dem Strich dann 166 Polizeiaktionen. Es liegt ein schwerer Eingriff in die Grundrechte vor (E. 3.2). Im folgenden kommt das BGer zum Schluss, dass das kantonale Polizeigesetz keine genügende gesetzliche Grundlage für den schweren Grundrechtseingriff bietet (E. 3.3.2).

Es stellt sich damit die Frage, ob die Aufnahmen der AFV trotzdem als Beweise verwendet werden dürfen. Die Aufnahmen erfolgen ohne Anfangsverdacht in der präventiven Kontrolltätigkeit der Polizei. Stellt die Polizei im Rahmen der präventiven Tätigkeit strafbare Handlungen fest, so beginnt sie zu ermitteln und sichert namentlich Spuren und Beweise (vgl. Art. 306 StPO). Die Aufnahmen der AFV gelten als sachliche Beweismittel (vgl. Art. 192 StPO). Auch wenn die Beweise in der präventiven und nicht in der repressiven Polizeitätigkeit erhoben wurden, finden die Regeln über die Beweisverwertung Anwendung, da die Strafbehörden sonst in der präventiven Tätigkeit ohne Einschränkung Beweise erheben könnten (E. 4.1).

Die Verwendung von rechtswidrig erlangten Beweisen ist gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nur in schweren Fällen, also Verbrechen, möglich (E. 4.2). Die Aufzeichnungen der AFV waren mangels genügender gesetzlicher Grundlage illegal. Fahren ohne Berechtigung ist ein Vergehen und damit keine schwere Straftat. Die Aufnahmen wurden rechtswidrig als Beweise verwertet.

Das BGer heisst die Beschwerde gut. Eine korrekte gesetzliche Grundlage wird der Kt. TG wohl bald nachliefern. Auch wenn dann das ganze legal abläuft, wird der Kt. TG den faden Beigeschmack des „Überwachungskantons“ nicht los.

Der identische Strafbefehl

BGE 6B_1321/2018: Der identische Strafbefehl (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer wurde von der STA SH wegen grober Verkehrsregelverletzung – Missachten eines Rotlichts mit Unfallfolge – mit Strafbefehl verurteilt. Gegen den Strafbefehl erhob er Einsprache, wonach div. Untersuchungshandlungen durchgeführt wurden. Nach deren Abschluss erliess die STA einen neuen Strafbefehl, der im Schuld- und Strafpunkt identisch war. Hinzukam noch eine Begründung. Ca. zweieinhalb Monate nach Erhalt des zweiten Strafbefehls erhebt der Beschwerdeführer wiederum Einsprache, welche von der Vorinstanz als verspätet betrachtet wird.

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass schon nach dem ersten Strafbefehl Anklage erhoben hätte werden müssen, da er nie auf eine gerichtliche Überprüfung der Vorwürfe verzichtet habe. Mit dem Erlass des zweiten Strafbefehl sei die Rechtsweggarantie verletzt worden (E. 1.1). Die Vorinstanz stimmt dem eigentlich zu, erachtet den zweiten Strafbefehl aber nicht als nichtig, sondern nur als anfechtbar (E. 1.2).

Erhebt die beschuldigte Person Einsprache, hat die STA gemäss Art. 355 StPO folgende Möglichkeiten:

  1. Am Strafbefehl festhalten und Anklage erheben (Art. 356 StPO)
  2. Strafverfahren einstellen
  3. Neuen Strafbefehl erlassen
  4. Anklage erheben

Da der Strafbefehl bei im Fall von littera a als Anklageschrift dient, muss er den Anforderungen von Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO genügen (E. 1.3.1).

Im Fall von littera c darf die STA nicht einfach einen zweiten, inhaltlich gleichen Strafbefehl erlassen. Ein zweiter Strafbefehl darf nur ergehen, wenn der ursprüngliche Strafbefehl bzgl. Schuld und/oder Sanktion geändert werden muss (E. 1.3.2), wofür sich die Sach- und/oder die Rechtslage geändert haben muss. Eine Neubeurteilung bei gleichem Sachverhalt ist nicht zulässig. So ist z.B. der Erlass eines neuen Strafbefehls bei gleichem Sachverhalt mit strengerer Sanktion nicht möglich. Hingegen ist es erlaubt, wenn die STA die Strafe reduziert, wenn der Einsprecher die Einstellung beantragt (E. 1.3.3).

Von Art. 355 StPO nicht erfasst wird die Möglichkeit der STA, einen Strafbefehl inhaltlich zu ergänzen/berichtigen. Faktisch ergeht dann zwar ein neuer Strafbefehl, z.B. mit ergänzter Begründung. In strafprozessualer Hinsicht aber hält die STA am ursprünglichen Strafbefehl fest. Der ergänzte Strafbefehl ist als Anklageschrift dem Gericht zu überweisen (E.1.4).

Vorliegend erliess die STA einen verbesserten Strafbefehl, ohne dass sich die Sach- oder Rechtslage geändert hat. Damit hält sie am ursprünglichen Strafbefehl fest. Es liegt kein Fall von Art. 355 Abs. 3 lit. c StPO vor. Eine neue Einsprache vom Beschwerdeführer war damit gar nicht nötig. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Dashcam

BGE 6B_1188/2018: Dashcam-Aufnahmen sind nicht verwertbar (gutgh. Beschwerde)

Die Beschwerdeführerin wurde wegen einem Spurwechsel auf der Autobahn wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Hauptbelastungsbeweis war eine Dashcamaufnahme einer Privatperson. Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass diese Aufnahme ein rechtswidrig erlangter Beweis ist.

E. 2 zur Beweiserhebung:

Von Privatpersonen rechtswidrig ermittelte Beweise sind nur verwertbar wenn (E.2.1),

  1. die Beweise von den Strafbehörden rechtmässig hätten erlangt werden können und kumulativ
  2. eine Interessensabwägung für die Verwertung der Beweise spricht.

Bei der Interessensabwägung gibt es einen Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung und dem privaten Interesse der angeklagten Person, nicht bestraft zu werden. Von den Strafbehörden rechtswidrig erlangte Beweise dürfen gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nur dann verwertet werden, wenn sie für die Aufklärung einer schweren Straftat unabdingbar sind. Diese Regelung kann analog auf private Beweise angewendet werden (E. 2.2).

Dashcamaufnahmen im öffentlichen Raum fallen unter den Anwendungsbereich von Art. 3 DSG. Ist für Dritte nicht erkennbar, dass eine Dashcam filmt, dann liegt gemäss Art. 12 DSG eine Persönlichkeitsverletzung vor (E. 3.1). Für andere Autofahrer dürfte kaum je erkennbar sein, dass man von einer Dashcam gefilmt wird, da man seine Aufmerksamkeit auf den Verkehr zu richten hat (E. 3.2). Die Persönlichkeitsverletzung kann auch nicht gemäss Art. 13 DSG durch ein privates Interesse des Dashcaminhabers gerechtfertigt werden. Im Strafverfahren geht es um das Interesse des Staates an seinem Strafanspruch und dem Interesse der beschuldigten Person an einem fairen Verfahren. Die Interessen des Datenbearbeiters bzw. Dashcaminhabers treten dabei zurück (E. 3.3).

Die Dashcamaufnahme erfolgte damit widerrechtlich. Die einfache und grobe Verkehrsregelverletzungen sind keine schweren Delikte, die eine Verwertung rechtfertigen würden. Offenbleiben kann dabei, ob die Strafbehörden den Beweis rechtmässig hätten erheben können.

Das BGer folgt damit inhaltlich der Begründung des Entscheids des Kantonsgericht SZ vom 20.06.2017 und verhindert damit, dass unsere Strassen noch mehr durch Hobbydetektive verstopft werden, die sich gegenseitig anzeigen.

Ist eine Unfallmeldung ein Strafantrag?

BGE 6B_719/2018: Gültigkeit des Strafantrages bei fahrl. KV (gutgh. Beschwerde)

Im Oktober 2013 übersah der Beschwerdeführer beim Öffnen der Autotür eine von hinten nahende Velofahrerin, die deshalb stürzte und sich dabei leicht verletzte. Die kantonalen Strafbehörden verurteilten den Beschwerdeführer deshalb wegen fahrlässiger Körperverletzung. Der Beschwerdeführer allerdings stellt sich auf den Standpunkt, dass kein gültiger Strafantrag vorliegt. Die zu klärende Frage: Kann eine Unfallmeldung bei der Polizei zwecks Schadenregulierung implizit ein Strafantrag sein?

Eine Verurteilung nach Art. 125 StGB bedarf einem gültigen Strafantrag nach Art. 30 StGB. Die Geschädigte hat den Unfall bei der Polizei zwar angezeigt, ein Strafantrag wurde allerdings nicht protokolliert (E. 1.1). Die Geschädigte ging erst zur Polizei, nachdem sie vergeblich versucht hat, den Beschwerdeführer zwecks Regulierung ihres Sachschadens zu kontaktieren. Nach Ansicht der Vorinstanz habe sie mit der Anzeige aber auch implizit die Bestrafung des Beschwerdeführers gewollt, auch wenn kein Strafantrag protokolliert wurde. Die gegenteilige Annahme stelle nach der Vorinstanz überspitzter Formalismus dar (E.1.2).

Der Strafantrag kann gemäss Art. 304 StPO schriftlich eingereicht oder mündlich zu Protokoll gegeben werden. Damit wird sichergestellt, dass ein mündlicher Strafantrag ebenfalls in den Akten festgehalten wird, denn es ist Sache der Behörden, das Vorliegen eines rechtsgültigen Strafantrages zu beweisen (E. 1.4).

Das BGer resümiert, dass die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, wenn sie von einem gültigen Strafantrag ausgeht. Den Akten lässt sich nicht entnehmen, dass die Geschädigte je den Willen geäussert habe, einen Strafantrag stellen zu wollen. Aus dem Umstand allein, dass die Geschädigte sich zwecks Schadensregulierung an die Polizei gewendet hat, kann jedenfalls kein gültiger Strafantrag abgeleitet werden. Dies gilt selbst, wenn der zuständige Polizist die Geschädigte nicht auf ihr Antragsrecht hingewiesen und damit gegen allfällige Aufklärungspflichten verstossen hat.

Das BGer heisst die Beschwerde gut.

Zustellfiktion im Strafverfahren

BGE 6B_674/2019: Zustellfiktion im Strafverfahren (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wurde wegen Fahrens ohne Kontrollschilder, Haftpflichtversicherung sowie Schildermissbrauchs bestraft. Die Widerhandlungen erfolgten im Dezember 2017. Ebenso wurde ihm eine Zusatzstrafe aus einem früheren Urteil auferlegt. Der Strafbefehl wurde ihm per Einschreiben im November 2018 zugestellt, abgeholt wurde der Urteilvorschlag aber nicht. Gute zwei Monate später erhebt der Beschwerdeführer Einsprache, auf welche die kantonalen Instanzen nicht eingehen. Der Beschwerdeführer reüssiert vor Bundesgericht:

Die Vorinstanz stellt sich auf die Zustellfiktion in Art 85 Abs. 4 StPO (E. 1.2). Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er in den Ferien war im Zeitpunkt der Zustellung, was nicht bestritten ist (E. 1.3). Bei eingeschriebenen Sendungen besteht die widerlegbare Vermutung, dass die Post alles richtig macht. Im Rahmen einer Beweislastumkehr kann die betroffene Person das Gegenteil beweisen. Vorliegend waren aber Zustellfehler nicht behauptet (E. 1.4.1). Die Zustellfiktion gilt nur dann, wenn man mit behördlicher Post rechnen musste. Vom Bürger darf erwartet werden, dass er sich in Kenntnis eines Strafverfahrens um seine Post kümmert, auch wenn er abwesend ist. Der polizeiliche Hinweis auf eine Strafanzeige genügt zur Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses, womit die betroffene Person mit einer Zustellung von behördlichen Schreiben grds. rechnen muss (E 1.4.2).

Diese Obliegenheit dauert aber nicht unbeschränkt! Vertretbar ist eine Dauer von etwa einem Jahr, in welchem mit behördlicher Post gerechnet werden muss, danach fällt diese bürgerliche Aufmerksamkeitspflicht nach Treu und Glauben aber dahin. Eine (Ferien)Abwesenheit von ein paar Wochen kann dem Bürger dann nicht mehr entgegengehalten werden. Vorliegend fand der letzte und einzige Kontakt mit den Strafbehörden vor elf Monaten und anlässlich der Polizeikontrolle statt. Andere Verfahrenshandlungen, z.B. Briefe oder Einvernahmen, gab es nicht. Somit musste der Beschwerdeführer nicht mehr mit einer Zustellung des Strafbefehls rechnen. Die Zustellfiktion greift nicht, die Beschwerde wird gutgeheissen.

Tja, trödeln die Behörden, lacht der Bürger.

Vereitelung und Beschleunigungsgebot

Ein guter Entscheid zur Vereitelung, der die bisherige Rechtsprechung exzellent zusammenfasst. Gutgeheissen wird die Beschwerde teilweise, weil das Strafverfahren zu lange dauerte. Der Beschwerdeführer streifte auf einem Parkplatz ein anderes Auto, unterliess die Meldung an die Geschädigte oder die Polizei und wehrte sich dann gegen die polizeiliche Atemalkoholprobe. Es musste ein Blutprobe gemacht werden.

BGE 6B_441/2019: Vereitelung einer Massnahme, Verfahrensbeschleunigung (Rep; teilw. ggh. Beschwerde)

E. 2 zum Vereiteln: Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass der Tatbestand des Vereitelns nicht erfüllt sei. Wer sich nach einem Unfall pflichtwidrig verhält, erfüllt den Tatbestand der Vereitelung, wenn

  1. die betroffene Person zur Meldung gemäss Art. 51 SVG verpflichtet ist,
  2. die Meldepflicht der Abklärung des Unfalles und auch der Ermittlung des Zustands der betroffenen Person dient,
  3. die Benachrichtigung der Polizei überhaupt möglich war,
  4. und wenn den Umständen nach mit einer Blut- bzw. Atemalkoholprobe zu rechnen war.

Seit der Einführung der Beweissicheren Atemalkoholprobe muss grds. nach jedem Unfall mit einer Alkoholkontrolle gerechnet werden. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, Eventualvorsatz genügt. Art. 55 SVG ermächtigt die Polizei zur Durchführung von Alkoholkontrollen ohne Verdacht oder bei Verkehrsunfällen. In der Praxis ist die Atemalkoholprobe bei Unfällen Standard (E.2.1).

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er die Kollision verursacht hat. Er behauptet auch nicht, dass er versucht hat, die Polizei zu avisieren. Auch bringt er nicht vor, er habe die Kollision nicht bemerkt. Es entlastet ihn auch nicht, dass er sein Auto nach der Kollision stehen liess und zurück ins Restaurant ging, wo sich auch die Geschädigte aufhielt. Er hätte diese ja einfach ausfindig machen und seinen Pflichten nachkommen können. Nach dem Feierabend und seinen Genussfreuden muss halt einfach mit einer Alkoholkontrolle gerechnet werden, weshalb der Beschwerdeführer im Restaurant nicht hätte weitersauffen dürfen.

E. 3 zum Beschleunigungsgebot: Nach dem in Art. 5 StPO stipulierten Beschleunigungsgebot müssen die Strafbehörden zügig arbeiten. Als krasse Zeitlücke, welche eine Sanktion aufdrängt, gilt etwa eine Untätigkeit von 13 oder 14 Monaten im Stadium der Untersuchung, eine Frist von vier Jahren für den Entscheid über eine Beschwerde gegen eine Anklagehandlung oder eine Frist von zehn oder elfeinhalb Monaten für die Weiterleitung eines Falles an die Beschwerdeinstanz. Wird eine Verletzung des Beschleunigungsgebots festgestellt, ist diesem Umstand angemessen Rechnung zu tragen. Als Sanktionen fallen in Betracht die Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung, die Schuldigsprechung unter gleichzeitigem Strafverzicht oder in extremen Fällen – als ultima ratio – die Einstellung des Verfahrens. Nach ständiger Rechtsprechung ist das Gericht verpflichtet, die Verletzung des Beschleunigungsgebotes im Dispositiv seines Urteils ausdrücklich festzuhalten und gegebenenfalls darzulegen, in welchem Ausmass es diesen Umstand berücksichtigt hat (E. 3.1).

Vorliegend ruhte das Einspracheverfahren grundlos während eineinhalb Jahren. Auch das kantonale Verfahren ist mit vier Jahren zu lange gegangen. Die Vorinstanz verletzt ihr Ermessen, wenn sie dafür eine Strafreduktion von nur 10 Tagessätzen gewährt. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Strafzumessung bei Geschwindigkeitsüberschreitung

BGE 6B_510/2019: (teilw. Gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid ist interessant, weil er sich auch zu den Strafmassempfehlungen der SSK äussert, die wohl durchs Band von allen Juristen verwendet werden.

Der Beschwerdeführer überschritt die Geschwindigkeit auf einer Autostrasse um 40km/h. Die Staatsanwaltschaft bestrafte ihn mit 60 TS, was auch den Empfehlungen der SSK entspricht. Das erstinstanzliche Gericht reduzierte die Geldstrafe auf 20 TS. Die Staatsanwaltschaft verlangte daraufhin mit Berufung die Bestrafung mit 60 TS, das Obergericht Kt. AG bestrafte sogar mit 100 TS.

Zur groben Verkehrsregelverletzung: Der Beschwerdeführer wehrt sich zu Recht nicht gegen die Verurteilung nach Art. 90 Abs. 2 SVG. Nach der gefestigten Rechtsprechung zum Schematismus liegt i.c. eine grobe Verkehrsregelverletzung vor (E. 3.2). Die Unterscheidung zwischen grobfahrlässiger und eventualvorsätzlicher Tatbegehung kann durchaus eine Auswirkung auf das Strafmass haben (E. 3.3). Die Vorinstanz durfte i.c. willkürfrei von einer eventualvorsätzlichen Tatbegehung ausgehen (E. 3.4-6).

Zum Strafmass: Der Beschwereführer ist der Ansicht, dass die Vorinstanz ihr Ermessen überschritt, indem Sie eine Geldstrafe von 100 TS ansetzt. Es liegt im Ermessen des Sachgerichts, in welchem Umfang es die verschiedenen Strafzumessungsfaktoren berücksichtigt. Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur in die Strafzumessung ein, wenn die Vorinstanz den gesetzlichen Strafrahmen über- oder unterschritten hat, wenn sie von rechtlich nicht massgebenden Kriterien ausgegangen ist oder wesentliche Gesichtspunkte ausser Acht gelassen beziehungsweise in Überschreitung oder Missbrauch ihres Ermessens falsch gewichtet hat (E. 4.2). Die SSK empfiehlt bei der vorliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung ein Strafmass von 60 TS. Die Empfehlungen haben Richtlinienfunktion und dienen dem Gericht als Orientierungshilfe, ohne es dabei zu binden (E. 4.3). Die Vorinstanz bestraft ohne weitere Begründung mit 100 TS und einer Einsatzstrafe von 120 Tagen. Die Strafe ist doppelt so hoch, wie die Empfehlung gemäss SSK und der Antrag der Staatsanwaltschaft. Dadurch verletzt das Obergericht Bundesrecht bzw. Art. 47 StGB, insb. weil bei Geschwindigkeitsüberschreitungen ein grosses Interesse an einer rechtsgleichen Behandlung besteht (E. 4.4).

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

Einhaltung von Rechtsmittelfristen im Ausland

BGE 6B_315/2019 (gutgh. Beschwerde, amtl. Publ.)

Die STA Zürich-Limmat stellte ein Strafverfahren wegen Diebstahl gegenüber dem polnischen Beschwerdeführer ein und sendete diesem die Einstellungsverfügung. Wegen den Kostenfolgen erhob dieser Beschwerde beim Obergericht. Dieses war der Meinung, dass die Beschwerde verspätet sei. Der Beschwerdeführer erhielt die Einstellungsverfügung am 18.12.2018. Neun Tage später übergab er seine Beschwerde der polnischen Post. Bei der schweizerischen ging die Beschwerde allerdings erst am 2.1.2019 ein, nach Meinung des Obergerichts verspätet. Das BGer korrigiert:

E. 1. Zur Einhaltung der Frist:

Die Beschwerdefrist beträgt gemäss Art. 396 Abs. 1 StPO 10 Tage. Die Frist gilt als eingehalten, wenn die Eingabe gemäss Art. 91 Abs. 2 StPO bei der Strafbehörde, zu Handen der Schweizerischen Post oder einer konsularischen oder diplomatischen Vertretung übergeben wird. Die Rechtsmittelbelehrung der Einstellungsverfügung enthielt keinen Hinweis darauf, wo die Beschwerde eingereicht werden muss.

Im Sozialversicherungsrecht muss der im Ausland wohnhafte Anspruchsteller ausdrücklich auf Art. 21 Abs. 1 VwVG hingewiesen werden. Fehlt der Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung und würde danach dem Rechtsmittelerhebenden vorgeworfen, er habe eine Frist nicht eingehalten, würde dies gegen den Grundsatz der Fairness und der Waffengleichheit verstossen. Für die StPO spricht sich die Lehre für eine ähnliche Pflicht der ergänzten Rechtsmittelbelehrung aus (E. 1.4.2).

Das Bundesgericht stimmt dem zu. Es seien keine Gründe ersichtlich, wieso diese im Sozialversicherungsrecht entwickelte Rechtsprechung nicht auch im Strafverfahren anwendbar sei. Die Rechtsmittelbelehrung soll es den Parteien ermöglich, ihre Rechtsmittel effektiv zu erheben. Dies ist insb. wegen den Postdiensten im Ausland nicht immer möglich, weshalb die betroffenen Personen ausdrücklich auf Art. 91 Abs. 2 StPO in der Rechtsmittelbelehrung hinzuweisen sind (E. 1.4.3).

Vorliegend fehlte der Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung. Art. 91 Abs. 2 StPO kann dem Beschwerdeführer nicht entgegengehalten werden. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Mofas und Saufen

BGE 6B_451/2019:

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen im Februar und Juni 2018 diverse Widerhandlungen mit einem Mofa gemacht zu haben: Führen eines Motorfahrzeug mit qualifizierter BAK (1.2mg/L; SVG 91 Abs. 2), obwohl seine Fahrerlaubnis entzogen war (SVG 95 Abs. 1). Zudem war das Fahrzeug nicht eingelöst und ohne Haftpflichtversicherung (SVG 96 Abs. 1 und 2) und es wurden missbräuchlich Schilder eines anderen Fahrzeuges verwendet und am Mofa angebracht (SVG 97 Abs. 1). Das Strafregister des Beschwerdeführers enthält zwischen 2011 und Juli 2018 vierzehn Einträge bzgl. SVG-Widerhandlungen. Fünfzehn Administrativmassnahmen wurden in dieser Zeit ausgesprochen.

Vor der ersten Instanz wurde der Beschwerdeführer grösstenteils freigesprochen, die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde gutgeheissen. Der Beschwerdeführer verlangt vor BGer die Aufhebung des Berufungsentscheides und Gutheissung des erstinstanzlichen Urteils. Vorliegend ist streitig, ob Mofafahrer nach Fahren mit qualifizierter BAK gemäss SVG 91 Abs. 1 oder Abs. 2 zu bestrafen sind bzw. ob Mofas zu den motorlosen Fahrzeugen zu zählen sind.

E. 1 zur Qualifikation des Mofa und FiaZ:

Nach Art. 31 Abs. 2 SVG darf man nicht Autofahren, wenn man wegen Alkohol oder sonstigen Genussmittel fahrunfähig ist. Bei der Bestrafung wird unterschieden, ob man mit qualifizierter BAK ein motorloses Fahrzeug führt, oder eben ein motorisiertes. Erstere Widerhandlung wird als Übertretung, letztere als Vergehen geahndet (E. 1.2). Das BGer muss also herausfinden, ob das Mofa ein motorloses Fahrzeug ist oder nicht.

Art. 7 Abs. 1 SVG stipuliert, dass Motorfahrzeuge Fahrzeuge sind, die einen eigenen Antrieb haben und sich auf dem Boden unabhängig von Schienen fortbewegen. Art. 18 VTS wiederum enthält eine Legaldefinition der „Motorfahrräder“. Die Mofas dürfen höchstens 30km/h fahren, haben höchstens eine Leistung von 1kW und einen Verbrennungsmotor von höchstens 50cm3. Die Zulassungsmodalitäten für Mofas sind in Art. 90 VZV geregelt. Gemäss Art. 42 Abs. 4 VRV gelten für Mofas die gleichen Vorschriften wie für Radfahrer (E. 1.3.1). In der älteren Rechtsprechung aus den 1960er wurde das Mofa zu den motorlosen Fahrzeugen gezählt. Allerdings hat das BGer das Mofafahren mit qualifizierter BAK aus administrativrechtlicher Sicht in BGE 1C_766/2013 als schwere und nicht mittelschwere Widerhandlung qualifiziert (E. 1.3.2). Die Lehre wiederum zählt das Mofa eher zu den motorisierten Fahrzeugen (E. 1.3.3). Unter Berücksichtigung der neueren Gesetzgebung eruiert das BGer, dass das Mofa nicht generell zu den Fahrrädern gezählt werden kann, auch wenn für die Mofafahrer grds. die Regeln für Velofahrer gelten (E. 1.3.4). Daraus folgt, dass die Mofas nicht zu den motorlosen Fahrzeugen gezählt werden können. Die Verurteilung des Mofafahrers nach Art. 91 Abs. 2 SVG ist korrekt.

E. 2 zum Fahren trotz Entzug der Fahrberechtigung:

Aufgrund den gleichen Überlegungen ist auch die Verurteilung gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG (Vergehen) und nicht Art. 95 Abs. 4 lit. a SVG (Übertretung) korrekt, zumal man für das Mofafahren eine Fahrberechtigung der Kat. M benötigt (E. 2).

E. 3 zum Fahren ohne Haftpflichtversicherung und missbräuchliche Verwendung von Kontrollschildern:

Bzgl. Fahren ohne Zulassung und Haftpflichtversicherung sowie dem missbräuchlichen Verwenden von Schildern stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass dies gemäss Art. 145 VZV als Busse strafbar ist, die Vorinstanz hingegen erachtet die Tatbestände von Art. 96 Abs. 1 lit. a und 2 SVG sowie Art. 97 Abs. 1 lit. a SVG als erfüllt. Das BGer differenziert:

Bzgl. Fahren ohne Nummernschilder und ohne Haftpflichtversicherung geht Art. 145 VZV als lex specialis Art. 96 SVG vor. Das BGer heisst deshalb die Beschwerde in diesem Punkt gut, der Beschwerdeführer wurde zu Unrecht mit einem Vergehen bestraft. Korrekt wäre eine Busse nach Art. 145 Abs. 3 und 4 VZV (E. 3.3.1).

Die missbräuchliche Verwendung von Nummernschildern wiederum wird von der lex specialis in Art. 145 VZV nicht erfasst. Wer also am Mofa Nummernschilder anbringt, die nicht zu diesem Fahrzeug gehören, wird zu Recht nach Art. 97 Abs. 1 lit. a SVG bestraft (E. 3.3.2).

Im Fazit kann gesagt werden, dass Mofafahrer heute gleich streng behandelt werden wie die Autofahrer, dass also auch hier rechtspolitisch eine Verschärfung stattfindet. Nur beim Fahren ohne Zulassung und ohne Haftpflichtversicherung gibt es eine mildere lex specialis in Art. 145 VZV.

Das Recht auf das Plädoyer

BGE 6B_1298/2018: Abwesenheit der beschuldigten Person vor Gericht (gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid befasst sich mit Art. 356 Abs. 4 StPO und wann die Fiktion des Einspracherückzugs angenommen werden darf. Ebenso behandelt der Entscheid das Recht des Verteidigers zu plädieren.

Die Beschuldigte Person erhielt einen Strafbefehl wegen Betäubungsmitteldelikten, gegen welchen sie Einsprache erhob. Nach Überweisung der Sache an das Gericht, setzte dieses die Hauptverhandlung an. Der Verteidiger teilte daraufhin mit, dass sein Klient nicht auffindbar sei und beantragt die Verschiebung der Hauptverhandlung. Das Gericht hingegen hält am Verhandlungstermin fest, an welchem die Folgen der Abwesenheit der beschuldigten Person erörtert werden können. Der Verteidiger teilte daraufhin mit, dass eine Substitutin an der Verhandlung teilnehmen werde. Diese erschien 17 Minuten zu spät zur Hauptverhandlung, woraufhin das Gericht den Rückzug der Einsprache und die Rechtskraft des Strafbefehls feststellte. Dagegen wehrt sich die beschuldigte Person und macht eine Verletzung der EMRK geltend.

E. 3 zur Abwesenheit der beschuldigten Person in der Hauptverhandlung: Art. 356 Abs. 4 StPO stipuliert, dass die Einsprache als zurückgezogen gilt, wenn die Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung fernbleibt und sich nicht vertreten lässt. Es handelt sich dabei um eine Fiktion, dass kein Interesse mehr an der Einsprache bestehe. Im Licht von Art. 29a BV und Art. 6 EMRK darf die Rückzugsfiktion nur zur Anwendung gelangen, wenn die betroffene Person von der Vorladung und den Folgen des Fernbleibens wusste. Die Fiktion darf nur zur Anwendung gelangen, wenn nach Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 StPO) aufgrund des Fernbleibens auf ein Desinteresse der einsprechenden Person am Prozess geschlossen werden kann. Die Rückzugsfiktion gilt allerdings auch, wenn das Gericht das persönliche Erscheinen der beschuldigten Person anordnet, zur Verhandlung aber nur der Rechtsvertreter erscheint (E. 3.1). Ob nun ein Desinteresse der beschuldigten Person vorlag oder nicht, lässt das BGer offen, weil die Verteidigung sich zu diesem Punkt gar nicht äussern konnte.

E. 4 zur EMRK: Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung der EMRK gelten, indem das Gericht die verspätete Rechtsvertreterin nicht mehr plädieren liess. Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK garantiert das Recht, sich verteidigen zu lassen. Im Kontumazverfahren darf der Verteidiger gemäss Art. 367 Abs. 1 StPO plädieren. Das Plädoyer kann natürlich auch Ausführungen zur Rückzugsfiktion enthalten (E. 4.1). Im Folgenden äussert sich das BGer zur „Respektviertelstunde“ und ab wann eine Verspätung des Rechtsvertreters als Rückzug der Einsprache gewertet werden darf, ohne dass das Gericht dabei dem überspitzten Formalismus verfällt. Nach der Lehre sollen Verspätungen von „ein paar Minuten“ bis einer Stunde toleriert werden (E. 4.1.1). Vorliegend teilte der Anwalt dem Gericht mit, dass er seinen Klienten nicht erreichen konnte und dass seine Substitutin an die Verhandlung kommt. Weil sich diese über den Verhandlungsbeginn irrte, kam sie 17min zu spät. Sie wollte dennoch mit dem Gerichtspräsident sprechen, der auch noch im Saal anwesend war, was ihr aber verweigert wurde, obwohl die nächste Verhandlung erst in 40min begonnen hätte. Das Gericht verhielt sich überspitzt formalistisch, die Beschwerde wird gutgeheissen.