Anerkennung ausl. Fahrausweise

BGE 1C_513/2019: Welcher Ausweis solls nun sein? (gutgh. Beschwerde)

Dieser Entscheid führt uns durch die komplexe Welt der Anerkennung ausländischer Fahrbewilligungen. Er zeigt auch die Problematik auf, die den Behörden entstehen, wenn ausländisches und insb. EU-Recht interpretiert werden muss.

Der Beschwerdeführer geriet im September 2017 in eine Polizeikontrolle, bei welcher er sich mit einem gefälschten litauischen Führerschein auswies. Dieser wurde aberkannt und die Wiederzulassung von einer gültigen Fahrerlaubnis abhängig gemacht. Im Oktober 2018 wies der Beschwerdeführer einen polnischen Ausweis vor und beantragte damit die Wiederzulassung zum Strassenverkehr. Die deutschen Behörden teilten jenen von Baselland in der Folge mit, dass der Beschwerdeführer in Deutschland wegen einer Suchtproblematik seit 2010 nicht Auto fahren darf. Das mittlerweile zuständige StVA Kt. BE verweigerte daraufhin dem Beschwerdeführer die Zulassung und machte diese vom Nachweis einer gültigen Fahrbewilligung sowie einer verkehrsmedizinischen und -psychologischen Abklärung abhängig. Im kantonalen Instanzenzug wurde zwar die Notwendigkeit einer Fahreignungsabklärung verneint, die Zulassung zum Strassenverkehr aber trotzdem verweigert. Der Beschwerdeführer ist natürlich der Meinung, dass er aufgrund des polnischen Ausweises zugelassen werden muss.

E. 3 – Voraussetzungen der Zulassung:
Wer ein Motorfahrzeug führt, braucht gemäss Art. 10 Abs. 2 SVG die Fahrbewilligung der entsprechenden Kategorie. Gemäss Art. 41 Abs. 2 lit. a/i der Wiener Strassenverkehrskonvention anerkennen die Vertragsstaaten gültige Ausweise der anderen Mitgliedstaaten. Polen und die Schweiz gehören zu den Vertragsstaaten. Gemäss Art. 42 Abs. 1 VZV werden gültige ausländische Fahrbewilligungen anerkannt, sofern sie gemäss Art. 42 Abs. 4 VZV nicht in Umgehung der in- oder ausländischen Regelungen erlangt wurden. Die Vorinstanz stellte sich nun auf den Standpunkt, dass der polnische Ausweis erlangt wurde, obwohl der Beschwerdeführer in Deutschland gewohnt habe, womit EU-Recht umgangen worden sei. Insofern müsse der polnische Ausweis nicht anerkannt werden (E. 3.3).

Nach Ansicht des Bundesgerichts muss ein polnischer Ausweis nach den Regeln der Wiener Strassenverkehrskonvention grds. anerkannt werden. Deutschland und Polen wiederum sind Mitglieder der EU. Die EU-Richtlinie 2006/126/EG regelt innerhalb der EU die gegenseitige Anerkennung von Fahrbewilligungen. Demnach ist im Hinblick auf Umgehung von ausländischem Recht nicht deutsches oder polnisches Recht bzgl. Wohnsitznahme anwendbar, sondern die Bestimmungen der Richtlinie. Die Vorinstanz war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz in Deutschland hatte, weshalb der polnische Ausweis keine Gültigkeit habe und Art. 12 der EU-Richtlinie umgangen worden sei. Dabei legte sie aber die Richtlinie eigenständig und ohne Berücksichtigung der europäischen Lehre und Rechtsprechung aus. Ebenso wurde der Einwand des Beschwerdeführers nicht gewürdigt, dass nach Art. 7 der EU-Richtlinie der Ausstellerstaat, also Polen, den Wohnsitz sorgfältig prüfen muss. Durch ihr Vorgehen verletzte die Vorinstanz Bundesrecht (E. 3.4-5).

Auch wenn eine Fahrbewilligung unter Umgehung ausländischer Vorschriften erlangt wurde, muss diese gemäss Art. 45 Abs. 6 VZV anerkannt werden, wenn der Wohnsitzstaat diese ebenfalls anerkannt. Beachtlich wäre auch die Anerkennung eines späteren Wohnsitzstaates (E. 3.6). Zudem blieb im kantonalen Verfahren die Frage unbeantwortet, ob der polnische Ausweis überhaupt echt ist. Auch das muss noch abgeklärt werden (E. 3.8).

Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Fall für weitere Abklärungen zurückgewiesen.

Umtausch des ausl. Führerscheins

BGE 1C_1/2020: Überspitzter Formalismus (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer wollte seinen irakischen Führerschein in einen schweizerischen umtauschen. Da allerdings der Verdacht bestand, dass der Ausweis zumindest verfälscht sei, wurde ein Strafverfahren eröffnet. Der Beschwerdeführer gab im Strafverfahren an, dass er seinen Ausweis versehentlich gewaschen habe, aber dass die Behörden im Irak keinen zweiten Ausweis ausstellen wollten. Das Strafverfahren wurde daraufhin eingestellt. Das Strassenverkehrsamt verweigert dennoch den Umtausch, da es nach wie vor an der Echtheit der Urkunde zweifelt.

Die Modalitäten des Umtausches einer ausländischen Fahrerlaubnis ergeben sich aus Art. 44 VZV. Man muss dafür einen gültigen ausländischen Ausweis besitzen und eine Kontrollfahrt machen. Der Ausweis muss im Zeitpunkt des Umtausches noch gültig sein (E. 4.3).

Das Strassenverkehrsamt verweigerte den Umtausch des Ausweises, da es an dessen Echtheit zweifelte, die Vorinstanz liess diese Frage offen und verweigerte den Umtausch, weil der irakische Ausweis inzwischen abgelaufen war. Dies erachtet der Beschwerdeführer als überspitzt formalistisch.

Art. 29 Abs. 1 BV verbietet unter anderem überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Rechtsuchenden den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Der Beschwerdeführer ersuchte um Umtausch seines irakischen Ausweises zwei Monate vor dessen Ablauf. Um einen gültigen Ausweis liefern zu können, müsste er – als Asylsuchender – bei den irakischen Behörden einen neuen Ausweis beantragen, was aber nach Ansicht des Bundesgerichts lediglich einen prozessualen Leerlauf schaffen würde. Dass Ausländer*innen einen gültigen Ausweis vorweisen müssen für den Umtausch erfolgt zugunsten der Verkehrssicherheit. Verliert ein ausländischer Fahrausweis während dem Umtauschverfahren wegen Zeitablauf seine Gültigkeit, dann bringt es der Verkehrssicherheit nichts, wenn zunächst ein neuer Ausweis besorgt werden muss, der dann umgetauscht wird. In anderen Worten, ein solches Vorgehen wäre eine zu rigorose Anwendung von Art. 44 VZV und damit überspitzt formalistisch.

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Vorinstanz muss nun über die Echtheit des Ausweises entscheiden, wobei der Beschwerdeführer die Echtheit beweisen muss.

Rückweisung durch Berufungsinstanz

BGE 6B_1075/2019: Zusätzliche Beweiserhebung im Berufungsverfahren (gutgh. Beschw.)

Wegen Schnellfahren bzw. grober Verkehrsregelverletzung erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Beschwerdeführer. Das erstinstanzliche Gericht sprach den Beschwerdeführer frei, weil die Messung durch das Geschwindigkeitsmessgeräts nicht verwertbar sei und andere Beweise nicht vorlägen. Dagegen erhob die Staatsanwaltschaft Berufung. Die Berufungsinstanz wies die Sache an das erste Gericht zurück, weil es nicht Sache der Berufungsinstanz sei, Beweise zu erheben, die auch die Vorinstanz hätte erheben können (E. 2).

Der Beschwerdeführer gelangt an das Bundesgericht mit der Begründung, dass ihm vor der Vorinstanz kein rechtl. Gehör gewährt wurde. Die Rückweisung verstosse gegen Art. 409 Abs. 1 StPO und gegen das Beschleunigungsgebot. Zudem habe die Berufungsinstanz volle Kognition und hätte die notwendigen Beweise von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei selber erheben können gemäss Art. 389 Abs. 3 StPO. Ebenso habe sich die Staatsanwaltschaft treuwidrig verhalten (E. 3).

Das Bundesgericht pflichtet den Vorbringen des Beschwerdeführers bei. Straf- und insofern auch Berufungsverfahren müssen in den gesetzlich vorgesehenen Formen durchgeführt werden. Auch bei einem kassatorischen Entscheid im Berufungsverfahren ist dieses in mündlicher oder schriftlicher Form durchzuführen, damit so auch das rechtliche Gehör gewahrt werden kann. Erforderliche zusätzliche Beweiserhebungen im Berufungsverfahren stellen grundsätzlich keinen schwerwiegenden Mangel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO dar, der eine Rückweisung an die erste Instanz rechtfertigt, sondern sind aufgrund des reformatorischen Charakters der Berufung und des Beschleunigungsgebots vom Berufungsgericht selbst abzunehmen.

Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Berufungsverfahren muss durchgeführt werden.

Der selbstständige Camioneur

BGE 6B_1391/2019: Selbstständigkeit i.S.d. ARV 1 (gutgh. Beschw.)

Der Entscheid befasst sich mit der Frage, wann LKW-Fahrer als selbstständig gelten und damit gewisse Verpflichtungen aus der ARV 1 auf sie nicht zutreffen, z.B. Pausen nach Art. 8 Abs. 3 ARV, das Führen eines Arbeitsbuches nach Art. 15 ARV sowie die Überwachung durch den Arbeitgeber nach Art. 16 ARV.

Die Beschwerdeführer stellen sich auf den Standpunkt, dass sie selbstständig sind i.S.v. Art. 2 lit. b ARV. Nach der Legaldefinition ist selbstständig, wer nicht in einem Anstellungsverhältnis steht und alleine über den Einsatz des Fahrzeuges entscheiden kann. Das gilt nach dem Wortlaut der Bestimmung dann auch für den Ehegatten sowie die Verwandten in auf- und absteigender Linie sowie für die Stiefkinder.

Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass die GmbH der Beschwerdeführer Halterin der Fahrzeuge sei und damit alleine die juristische Person über deren Einsatz entscheiden könne i.S.v. Art. 2 lit. b ARV, auch wenn zwei der drei Beschwerdeführer zur Einzelunterschrift berechtigt seien. Als Geschäftsführer würden diese als Vertreter ihrer GmbH stellvertretend entscheiden und nicht für sich selber. Die Beschwerdeführer gelten insofern nicht als Betriebsinhaber (E. 1.3).

Kurz und prägnant widerspricht das Bundesgericht dieser vorinstanzlichen Ansicht. Es hat die Rechtsverhältnisse zwischen einer juristischen Person und ihren Organen wiederholt beurteilt. Tendenziell sind Direktoren Arbeitnehmer, Verwaltungsräte eher Beauftragte. Für die Annahme eines Arbeitsvertrages ist entscheidend, ob ein Organ Weisungen erhält, z.B. vom Verwaltungsrat, und insofern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Ein solches liegt nicht vor, zwischen einer juristischen Person und dem diese in wirtschaftlicher Hinsicht beherrschenden Organ, z.B. beim Mehrheitsaktionär. Nicht ausschlaggebend für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses sind formelle Kriterien wie das Erbringen von sozialversicherungsrechtlichen Leistungen als Arbeitnehmer. Die Vorinstanz stellte fest, dass einer der Beschwerdeführer der Geschäftsführer der GmbH ist. Dass er in dieser Position Weisungen erhalte, wurde aber nicht festgestellt. Er hat deshalb als selbstständigerwerbend zu gelten i.S.v. Art. 2 lit. b ARV. Dasselbe gilt nach dem Wortlaut des vorgenannten Artikels auch für die anderen Beschwerdeführer, die Ehegattin und den Sohn des Geschäftsführers (E. 1.4).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Der Belastungszeuge

BGE 6B_1177/2019: Begründungspflicht, Unmittelbarkeitsprinzip (guthgh. Beschw.)

Diese Entscheid fusioniert ansehnlich Strassenverkehrs- und Strafprozessrecht. Er setzt sich damit auseinander, wie die Strafbehörden vorzugehen haben, wenn eine mutmassliche SVG-Widerhandlung nur von einem Belastungszeugen gesehen wurde.

Der Beschwerdeführer kam mit seinem Sattelschlepper in einer leichten Linkskurve rechts von der Strasse ab, woraufhin der Zugkombination kippte. Er stellte sich nachher auf den Standpunkt, dass er einem entgegenkommenden Auto ausweichen musste. Etwa 500m weiter hinten war ein anderer Autofahrer am rechtsabbiegen. Dieser habe den Unfall gesehen, aber kein entgegenkommendes Fahrzeug.

Bilden Übertretungen Bestand des Berufungsverfahrens, ist die Kognition der Berufungsinstanz gemäss Art. 398 Abs. 4 StPO eingeschränkt. Überprüft werden Rechtsverletzungen und eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung. Die Berufungsinstanz schützte die Meinungung des ersten Gerichts, wonach der Unfall wegen mangelnder Aufmerksamkeit verursacht wurde. Die erste Instanz wertete die Aussage des Zeugen als glaubhaft, weil dieser als Betreibssanitäter quasi eine Art geschultes Auge für solche Dinge habe. Das Vorbringen des Beschwerdeführers wertete sie als Schutzbehauptung. Die Verteidigung bestritt im Berufungsverfahren dezidiert die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage.

Das rechtliche Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV umfasst die Begründungspflicht, nach welchem sich ein Gericht mit den Vorbringen einer Partei auseinandersetzen muss. Zwar muss die Behörde sich nicht mit allen Parteivorbingen auseinandersetzen, aber dennoch müssen die Überlegungen für die Entscheidfindung ersichtlich sein. Vorliegend hat sich die Vorinstanz mit den Ausführungen der Verteidigung zur Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage nicht rechtsgenüglich auseinandergesetzt, weshalb das Abstützen auf die Zeugeaussage eine willkürliche Sachverhaltsermittlung zu begründen vermag (E. 2.2-4).

Hinzukommt, dass der Zeuge nur im Vorverfahren und nie gerichtlich befragt wurde. Art. 343 Abs. 3 StPO enthält ein beschränktes Unmittelbarkeitsprinzip. Sofern es für die Entscheidfindung nötig erscheint, müssen im Vorverfahren erhobene Beweise vor Gericht nochmals erhoben werden. Die Wiederholung einer Zeugenaussage drängt sich insb. dann auf, wenn die Aussage der einzige direkte Belastungsbeweis ist (E. 3.1). Die Vorinstanz hat verkannt, dass die erste Instanz ihr Ermessen unterschritten hat, als sie den Belastungszeugen nicht selber befragt hat. Dadurch wurde Art. 343 Abs. 3 StPO verletzt.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Einstellung Strafverfahren

BGE 6B_782/2019: Fahrlässige Tötung im Strassenverkehr

Im Mai 2015 ereignete sich in Basel ein tödlicher Verkehrsunfall, wobei ein Velofahrer von einem Personenwagen überfahren wurde. Das Strafverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft mangels Pflichtwidrigkeit eingestellt, wogegen Witwe und Tochter des Velofahrers Beschwerde erheben.

Die kantonalen Instanzen stellten sich auf den Standpunkt, dass der Beschwerdegegner nicht mit dem Fahrradfahrer rechnen musste und stellten das Strafverfahren aufgrund des Vertrauensprinzips ein. Die Beschwerdeführerinnen bringen hingegen vor, dass der Beschwerdegegner seinerseits nicht mit angepasster Geschwindigkeit unterwegs war. Die Staatsanwaltschaft habe nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ geurteilt und somit dem Strafgericht vorgegriffen (E2.1). Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass der Fahrradfahrer (rechts)vortrittsbelastet war und der Beschwerdegegner nicht habe damit rechnen müssen, dass der Verstorbene ihm den Weg abschneidet (E. 2.).

Ein Strafverfahren wird nach den Modalitäten von Art. 319 StPO eingestellt, wobei sich die Staatsanwaltschaft nach dem Grundsatz „in dubio pro duriore“ richten muss. Eine Einstellung darf nur bei klarer Straflosigkeit oder fehlenden Prozessvoraussetzungen erfolgen. Anklage ist zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher ist, als ein Freispruch. Ist ein Freispurch etwa gleich wahrscheinlich wie eine Verurteilung, drängt sich insb. bei schweren Delikten eine Anklageerhebung auf. Eine zweifelhafte Sach- oder Rechtslage spricht ebenfalls für eine Anklage. Sind die Tatsachen aber klar, muss eine Einstellung auch „in dubio pro duriore“ möglich sein (zum Ganzen E. 2.3.1).

Im Folgenden äussert sich das BGer exemplarisch zur Fahrlässigkeit und deren Voraussetzungen (E. 2.3.2). Fahrlässig handelt, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt. Diese ergeben sich im Strassenverkehr aus dem SVG. Der Vortrittsbelastete darf die Fahrt des -berechtigten nicht behindern. Er muss vor Kreuzungen seine Geschwindigkeit mässigen. Schlimmstenfalls muss er sich in die vortrittsberechtigte Verkehrsfläche „hineintasten“. Der Vortrittsberechtigte muss sich aber vergewissern, dass kein Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer vorliegt, diese ihm den Vortritt nicht gewähren können oder wollen. Verkehrsteilnehmer müssen sodann ihre Aufmerksamkeit dorthin richten, woher die grösste Gefahr droht, wobei ihnen logischerweise für andere Stellen eine geringere Aufmerksamkeit zugebilligt werdne kann (zum Ganzen ausführlich E. 2.3.3).

Die Vorinstanz war der Meinung, dass das Fehlverhalten des Velofahrers den adäquaten Kausalvelauf unterbrach zu Gunsten des Autofahrers. Dem widerspricht das Bundesgericht. Der adäquate Kausalverlauf wird nur unterbrochen, wenn die unterbrechende Zusatzursache dermassen absurd war, dass damit schlichtweg nicht gerechnet werden musste. Da aber insb. in Wohnquartieren der Vortrittsberechtige auch auf ein Fehlverhalten der -belasteten Rücksicht nehmen muss, wurde der adäquate Kausalverlauf nicht unterbrochen (E. 2.4.2).

Es ist sodann unklar, ob der Beschwerdegegner den geforderten Kontrollblick nach links gemacht hat, auch wenn ihm für diese Stelle geringere Aufmerksamkeit zugebilligt werden kann. Er muss ja auch auf den Vortritt von rechts achten. Zudem setzte sich die Vorinstanz nicht genügend mit Gutachten auseinander. Der Sachverhalt ist unklar. Es Bedarf einer klassischen Beweiswürdigung, die so nicht stattgefunden hat (E. 2.4.3). Das Bundesgericht folgt auch den Ausführungen zur Vermeidbarkeit des Unfalles nicht der Vorinstanz. Kurz gesagt ist die Vorinstanz von der für den Beschwerde günstigsten Variante ausgegangen, was aber dem Prinzip „in dubio pro reo“ entspricht und vom Sachgericht zu beurteilen ist.

Die Voraussetzungen für eine Einstellung sind nicht erfüllt, da die Beweis- und Rechtslage zur Sorgfaltspflichtsverletzung und Vermeidbarkeit nicht eindeutig erscheinen.

Kostenauflage bei Einstellung oder: Der Rosenkrieg

Strassenverkehrsrecht heisst immer auch Straf(prozess)recht, weshalb wir hier auch erlesene StPO-Entscheide bringen. In BGE 6B_732/2019 heisst das BGer eine Beschwerde gut, weil die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer zu Unrecht die Verfahrenskosten auferlegt hat, obwohl das Strafverfahren eingestellt wurde.

Dem Beschwerdeführer wurde eine Nötigung vorgeworfen, weil er vor das neue Zuhause seiner getrennt lebenden Frau Gerümpel und Esswaren deponiert hat, welches diese zumindest teilweise beim Auszug zurückgelassen hat. Das Strafverfahren wurde eingestellt, die Verfahrenskosten ihm aber auferlegt.

Wird die beschuldigte Person verurteil, trägt sie die Verfahrenskosten (Art. 426 Abs. 1 StPO), andernfalls trägt der Staat die Verfahrenskosten (Art. 423 StPO). Die Kosten und auch die Entschädigung können aber trotz Einstellung/Freispruch der beschuldigten Person auferlegt werden, wenn sie die Durchführung des Verfahrens schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder die Durchführung des Verfahrens erschwert hat (Art. 426 Abs. 2 bzw. 430 Abs. 1 StPO).

Nach der Rechtsprechung verstösst eine Kostenauflage bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens gegen die Unschuldsvermutung (Art. 10 Abs. 1 StPO, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK), wenn der beschuldigten Person in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt vorgeworfen wird, es treffe sie ein strafrechtliches Verschulden. Damit käme die Kostenauflage einer Verdachtsstrafe gleich. Dagegen ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar, einer nicht verurteilten beschuldigten Person die Kosten zu überbinden, wenn sie in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d.h. im Sinne einer analogen Anwendung der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm, die sich aus der Gesamtheit der schweizerischen Rechtsordnung ergeben kann, klar verletzt und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. In tatsächlicher Hinsicht darf sich die Kostenauflage nur auf unbestrittene oder bereits klar nachgewiesene Umstände stützen. Das Verhalten einer angeschuldigten Person ist widerrechtlich, wenn es klar gegen Normen der Rechtsordnung verstösst, die sie direkt oder indirekt zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen verpflichten (vgl. Art. 41 Abs. 1 OR). Vorausgesetzt sind regelmässig qualifiziert rechtswidrige, rechtsgenüglich nachgewiesene Verstösse. Die Verfahrenskosten müssen mit dem zivilrechtlich vorwerfbaren Verhalten in einem adäquat-kausalen Zusammenhang stehen (E. 1.1.2).

Die Vorinstanz war der Meinung, dass das Verhalten des Beschwerdeführers widerrechtlich war, weil grds. jeder seinen eigenen Müll entsorgen muss und die Sachen seiner Ehefrau hätten gestohlen werden können (E. 1.2).

Das BGer widerspricht dieser Ansicht, denn da die Sachen bzw. der Müll auch der Ehefrau gehörten, wäre sie ebenfalls zur Entsorgung verpflichtet, weshalb ihr daraus kein Schaden entsteht. Insofern kann auch nicht von einem qualifizierten Verstoss gesprochen werden. Da die Ehefrau beim Auszug ihre Sachen grds. zurückliess und sich monatelang nicht um ihre Dinge kümmerte, blieb dem Beschwerdeführer kaum eine andere Lösung übrig. Hätte er die Dinge einfach weggeworfen, hätte er sich vorwerfen lassen müssen, gemeinschaftliches Eigentum vernichtet zu haben. Zudem soll die Kostenauflage bei Einstellung/Freispruch eine Ausnahme bleiben (E. 1.3.2).

Das BGer heisst die Beschwerde gut.

Begründung vom Strafmass

BGE 6B_502/2019: Fussgänger übersehen, Strafmass (teilw. Gutgeheissene Beschwerde)

Die Beschwerdeführerin übersah einen Fussgänger, der von links nach rechts über die Fahrbahn ging. Wäre dieser nicht stehen geblieben, wäre es zur Kollision gekommen. Das BGer bestätigt den Schuldspruch wegen grober Verkehrsregelverletzung, heisst die Beschwerde aber bzgl. der Strafzumessung gut.

Die Beschwerdeführerin hat durch ihre Unaufmerksamkeit eine erhöht abstrakte Gefahr für den Fussgänger geschaffen, weshalb der die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung bestätigt wird (E. 2).

Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Berufungsinstanz keine eigene Strafzumessung vorgenommen habe, sondern auf die Strafzumessung der Vorinstanz verweist (E. 3.1). Die Strafzumessung ist nach Art. 50 StGB nachvollziehbar zu begründen (E. 3.3.1). In Bezug zu einer bedingten Geldstrafe hat die Verbindungsbusse eine untergeordnete Bedeutung und darf sich nicht straferhöhend auswirken (E. 3.3.2).

Die Strafzumessung der Vorinstanz verstösst in versch. Hinsicht gegen Bundesrecht. Das Berufungsgericht fällt einen eigenen Entscheid, der den Entscheid der Vorinstanz ersetzt. Sie muss auch eine eigene Strafe festsetzen und nachvollziehbar begründen. Vorliegend war dies nicht der Fall. Ebenfalls sei nicht nachvollziehbar, weshalb das Verschulden der Beschwerdeführerin mittelschwer ist. Das Bezirksgericht begründete das Strafmass mit Umständen, die bereits Merkmal des Straftatbestandes sind. Damit wird gegen das Doppelverwertungsverbot verstossen. Die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale sind aber Voraussetzung für einen Schuldspruch und dürfen bei der Strafe nicht nochmals berücksichtigt werden. Ebenso war die erstinstanzliche Verbindungsbusse mit CHF 8’000.00 nicht mehr schuldangemessen (E. 3.4). Bzgl. Strafe wird die Beschwerde gutgeheissen.

Verweigerung von Drogenvortests nicht strafbar

BGE 6B_614/2019: Vereitelung (teilw. Gutgh. Beschwerde, zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer geriet im Kt. AG in Oftringen in eine Polizeikontrolle. Vor Ort verweigerte er sowohl einen Drugwipe-Schnelltest, als auch eine Blutprobe auf dem Polizeiposten, wofür er von den kantonalen Instanzen wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung von Fahrunfähigkeit verurteilt wurde.

E. 1 zu den Parteimeinungen: Der Beschwerdeführer bringt hervor, dass keinerlei Anzeichen für eine Fahrunfähigkeit bestanden und insofern auch kein Anfangsverdacht für die Anordnung der Drogentests. Die kantonalen Instanzen sind der Meinung, dass durchaus Anzeichen für eine Fahrunfähigkeit bestanden, i.e. auffällig langsames Fahren, Nervosität und zunehmendes Aufbrausen, wässrige Augen und zittrige Augenlieder sowie energisches Antworten.

E. 1.4ff. zur Vereitelung: Wer eine Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit vereitelt, wird nach Art. 91a SVG bestraft. Es ist ein Vorsatzdelikt, wobei Eventualvorsatz genügt. Atemalkoholproben sind gemäss Art. 55 Abs. 1 SVG ohne Verdacht zu jeder Zeit möglich. Nach Abs. 2 des vorgenannten Artikels sind weitere Vortests möglich, wenn die betroffene Person noch andere Anzeichen von Fahrunfähigkeit aufweist. Dazu kann die Polizei gemäss Art. 10 Abs. 2 SKV Vortests durchführen. Zur Durchführung von Vortests reichen bereits geringe Anzeichen von Fahrunfähigkeit, wie wässrige Augen oder blasser Teint. Das Ergebnis des Vortests kann dann zu einem hinreichenden Tatverdacht führen gemäss Art. 197 StPO. Die Einwände des Beschwerdeführers gehen also fehl, wenn er sagt, dass für den Vortest kein hinreichender Tatverdacht vorlag, denn dieser ist dafür gar nicht vorausgesetzt (E. 1.5.1).

Die Vereitelung kann durch Ausweichen (Flucht), durch Vereiteln (Nachtrunk) oder Widerstand erfolgen. Es ist ein Erfolgsdelikt. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn der Nachweis der Fahrunfähigkeit durch das Verhalten des Täters verunmöglicht wird. Kann die Fahrunfähigkeit später trotzdem bewiesen werden, liegt ein vollendeter Versuch vor. Ob das Verweigern eines Vortests bereits den Tatbestand erfüllen kann, ist in der Lehre umstritten. Gewissen Autoren stellen sich auf den Standpunkt, dass durch das Verhalten des Täters der Nachweis komplett verunmöglicht werden muss (E. 1.6.1). Obwohl nach negativem Vortest nach Art. 10 Abs. 4 SKV auf weitere Massnahmen verzichtet werden kann, sind die Vortests keine Voraussetzung für die Anordnung von strafprozessualen Zwangsmassnahmen. Auch bei negativem Vortest wäre die Anordnung einer Blutprobe möglich. Die Vortests sind in anderen Worten nicht beweiskräftig. Verweigert man einen Vortest, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a SVG nicht, da der Vortest Indikator, nicht aber ein Nachweis für die Fahrunfähigkeit ist (E. 1.6.2).

Die Feststellung von Anzeichen von Fahrunfähigkeit sind abhängig vom Einzelfall. Anzeichen können sein: Verursachen eines Unfalls, berauschter, müder, euphorischer, apathischer oder sonst auffälliger Zustand. Kenntnis von früherem Drogenkonsum reicht aber nicht für einen Vortest.

Der Beschwerdeführer verweigerte sowohl den Vortest, als auch die Blutprobe, wodurch der Nachweis der Fahrunfähigkeit endgültig verunmöglicht wurde. Der Tatbestand ist erfüllt.

E. 2 zur Strafzumessung: Gutgeheissen wird die Beschwerde in Bezug auf die Strafzumessung, weil die Vorinstanz fälschlicherweise von unechter Konkurrenz ausgeht. Die Verweigerung des Drugwipe-Tests erfüllt den objektiven Tatbestand von Art. 91a SVG eben nicht.

Akteneinsicht und Vollmacht

Quick and dirty: Zwei gutgeheissene Beschwerden im Strafprozessrecht.

BGE 1B_396/2019: Akteneinsichtsrecht im Strafverfahren (gutgh. Beschwerde)

Das BGer heisst eine Laienbeschwerde einer Beschwerdeführerin gut, die geltend macht, dass das Obergericht Kt. BE das rechtliche Gehör verletzt hat, indem ihr keine umfassende Akteneinsicht gewährt wurde. Konkret ging um die Möglichkeit auf eine neunzeilige Stellungnahme des Beschwerdegegners zu replizieren (E. 2.2).

Teil des rechtlichen Gehörs nach Art. 29 Abs. 2 BV bildet die Akteneinsicht. Das Recht darauf ergibt sich allein aus der Verfahrensbeteiligung und ist insoweit voraussetzungslos. Es ist mit anderen Worten nicht Sache des Gerichts, antizipierend darüber zu befinden, ob einem Rechtssuchenden die Akteneinsicht etwas nützt. Der Anspruch gilt nicht absolut und wird im Strafprozess durch Art. 101 Abs. 1 StPO eingeschränkt. Die Parteien können die Akten spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten einsehen (E. 2.3).

Die Vorinstanz hat das Akteneinsichtsgesuch zu Unrecht abgewiesen, weshalb die Beschwerde gutgeheissen wird.

BGE 6B_781/2019: Bevollmächtigung der Wahlverteidigung (gutgh. Beschwerde)

Ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen das BetmG und Geldwäscherei wurde gegen die Beschwerdeführerin eingestellt. Gegen diese Verfügung wurde Beschwerde erhoben, die abgewiesen wurde. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens wurden der Beschwerdeführerin auferlegt. Diese stellt sich auf den Standpunkt, dass sie den beschwerdeführenden Anwalt gar nie bevollmächtigt habe und von der Beschwerde gar nichts wusste.

Das Tätigwerden einer (Wahl)Verteidigung setzt gemäss Art. 129 Abs. 2 StPO eine schriftliche Vollmacht oder eine protokolierte Erklärung der beschuldigten Person voraus. Das Vorhandensein der Vollmacht ist Prozessvoraussetzung und von Amtes wegen zu prüfen (E. 3.1). Den Akten lässt sich i.c. allerdings keine Vollmacht entnehmen. Das Obergericht SH stellt sich auf den Standpunkt, dass eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht vorgelegen habe, was das BGer allerdings verneint. Das Obergericht ist insofern zu Unrecht auf die Beschwerde eingetreten und hätte vorerst die Vertretungsbefugnis abklären müssen (E. 3.3).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.