Wenn man die Zeugen nie sieht

BGE 6B_128/2018: Konfrontationseinvernahme (teilw. gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer touchiert in alkoholisiertem Zustand einen Fussgänger. Dieser und seine Familienmitglieder sind die einzigen Belastungszeugen und Hauptbeweise der Strafbehörden. Der Beschwerdeführer rügt (u.a.), dass er an den Einvernahmen der Belastungszeugen nicht teilnehmen konnte und dass sein Konfrontationsanspruch verletzt worden sei.

E. 2.2 zu den Teilnahmerechten: Die Parteien haben bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen kein Recht darauf, anwesend zu sein (Umkehrschluss aus Art. 147 abs. 1 Satz 1 StPO). Wurde die Polizei hingegen von der Staatsanwaltschaft damit beauftragt, eine Einvernahme durchzuführen, haben die Verfahrensbeteiligten grds. Teilnahmerechte (Art. 312 Abs. 2 StPO). Vorliegend fanden die Einvernahmen im polizeilichen Ermittlungsverfahren statt, weshalb die Teilnahmerechte des Beschwerdeführers nicht verletzt wurden.

E. 2.3. zum Konfrontationsanspruch: Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des Beschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Dies gilt auch, wenn die belastende Aussage lediglich eines von mehreren Gliedern einer Indizienkette ist (E. 2.3.3.). Der Beschwerdeführer hatte im Strafverfahren keine Möglichkeit den Beweiswert der Aussagen der Belastungszeugen in kontradiktorischer Weise zu überprüfen. In diesem Punkt wird die Beschwerde gutgeheissen (E. 2.3.4.).

Vorsorglicher Entzug der Fahrlehrerbewilligung

Ein neuer Entscheid aus der Kategorie „Detailproblematik“.

BGE 2C_1130/2018: Entzug der Fahrlehrerbewilligung, URP im Verwaltungsverfahren (gutgh. Beschwerde)

Das Strassenverkehrsamt des Kt. SG entzog dem Beschwerdeführer die Fahrlehrerbewilligung gestützt auf Art. 30 VZV und ordnete eine verkehrspsychologische Abklärung an. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde beim Verwaltungsgericht. Zugleich ersuchte er um URP im Verwaltungsverfahren. Das Gesuch um URP wurde mit Zwischenverfügung abgelehnt. Gegen diese Zwischenverfügung gelangt der Beschwerdeführer an das BGer.

E. 2.1. zur URP im Verwaltungsverfahren: Art. 29 Abs. 3 BV garantiert die unentgeltliche Prozessführung, sofern ein Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Ein Begehren gilt als nicht aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde. Ob im Einzelfall genügende Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich aufgrund einer vorläufigen und summarischen Prüfung der Prozessaussichten, wobei die Verhältnisse im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs massgebend sind.

E. 2.2. zu den Meinungen der Parteien: Der Fahrlehrerberuf ist in der Fahrlehrerverordnung reguliert. Die Fahrlehrerbewilligung wird entzogen, wenn die Voraussetzungen von Art. 27 FV erfüllt sind. Die Vorinstanz erachtete die litterae a und b des vorgenannten Artikels wegen charakterlichen Mängeln als erfüllt an und entzog die Fahrlehrerbewilligung vorsorglich gestützt auf Art. 30 VZV (E. 2.2.1.). Der Beschwerdeführer ist allerdings der Meinung, dass es für den vorsorglichen Entzug der Fahrlehrerbewilligung keine gesetzliche Grundlage gäbe (E. 2.2.2.).

E. 2.3. zur summarischen Prüfung der Prozessaussichten: Der Entzug eines Berufsausübungsbewilligung ist ein schwerwiegender Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit. Vorsorgliche Massnahmen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Das BGer stimmt dem Beschwerdeführer zu, dass Art. 30 VZV nur den Entzug des Lernfahr- oder Führerausweises regelt, nicht aber ein Entzug der Fahrlehrerbewilligung. Art. 27 FV regelt den Entzug der Fahrlehrerbewilligung. Ob die Voraussetzungen erfüllt sind, hat die Behörde im Rahmen der Untersuchungsmaxime abzuklären, wobei Art. 8 ZGB im Verwaltungsrecht analog angewendet wird. Die Vorinstanz äussert sich nicht über die Dringlichkeit und Verhältnismässigkeit einer vorsorglichen Massnahme. Nur weil Zweifel an der Eignung des Beschwerdeführers als Fahrlehrer bestehen, ist noch kein schwerer Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit gerechtfertigt.

Das Begehren ist insofern nicht aussichtslos. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die kantonalen Behörden versuchten Kosten zu sparen und haben nun Mehraufwand.

Zuständigkeitsprobleme

BGE 6B_1304/2018: Wenn die falsche Staatsanwältin arbeitet (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer wurde im Kt. AG von einer Assistenzstaatsanwältin wegen Telefonieren am Steuer (Übertretung) und Fahren ohne Berechtigung (Vergehen) mit Strafbefehl bestraft. Der Beschwerdeführer rügt, dass der Strafbefehl nichtig sei.

E. 1.4ff. zur Zuständigkeit: Die Strafrechtspflege steht einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu. Zudem sind Strafverfahren an die gesetzlichen Formen gebunden (Art. 2 StPO). Zu den Strafverfolgungsbehörden gehören Polizei, Staatsanwaltschaft und die Übertretungsstrafbehörden (Art. 12 StPO). In der Organisation sind Bund und Kantone frei (Art. 14 StPO).

Gemäss §8 Abs. 2 EG StPO führen Assistenzstaatsanwälte Übertretungsstrafverfahren durch, nicht aber Vergehensstrafverfahren. Beim Fahren ohne Berechtigung handelt es sich aber um einen Vergehenstatbestand. Der Strafbefehl war ungültig und konnte auch nicht durch eine von einem Staatsanwalt unterzeichnete Überweisungsverfügung geheilt werden. Die erste Gerichtsinstanz hätte gemäss Art. 356 Abs. 5 StPO die Sache an die STA zurückweisen müssen (E. 1.5.).

Zuständigkeitsvorschriften schützen den Bürger vor dem Übergriff unzuständiger Behörden. Sie sind deshalb zwingend. Eine Strafbehörde prüft ihre Zuständigkeit vor Eintreten auch von Amtes wegen. Es stellt sich i.c. die Frage, ob der Strafbefehl nichtig war. Angesichts des Grundsatzes der Gültigkeit von Verfahrenshandlungen gelten nur krass fehlerhafte Verfahrenshandlungen als nichtig. Nichtigkeit nach der Evidenztheorie wird in der zu beurteilenden Konstellation nicht anzunehmen sein. Nach Ansicht des Bundesgerichts war der Strafbefehl also nicht nichtig, sondern „nur“ (teil-)ungültig (vgl. Art. 356 Abs. 5 StPO; E. 1.6.-7.).

Scheint so, als quälten den Staat die gleichen Probleme wie die Privatwirtschaft. Immer fragt man sich, wer für was zuständig ist. Der Kt. AG ist hier nicht der einzige. Auch im Kt. SG hatten sich die Strafbehörden schon mit Zuständigkeitsfragen herumzuschlagen (vgl. KGE SG vom 29.11.2017).

Die Probezeittat

BGE 6B_932/2018: Gesamtstrafenbildung nach neuem Recht, Asperationsprinzip (teilw. gutgh. Beschwerde, Änderung Rechtsprechung)

Der Entscheid befasst sich mit der Bildung einer Gesamtstrafe, wenn der Täter innerhalb der Probezeit erneut delinquiert. Der Beschwerdeführer wehrt sich einerseits (erfolglos) gegen die Verurteilung wegen BtMG-Verstössen und andererseits erfolgreich gegen das Strafmass.

E. 2 zur Gesamtstrafenbildung nach Art. 46 Abs. 1 i.V.m. Art. 49 StGB:

Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB besagt: „Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es [das Gericht] in sinngemässer Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe.“ Entgegen der früheren Fassung ist die Bestimmung keine Kann-Vorschrift mehr. Das Bundesgericht legt die neue Bestimmung nach dem allseits bekannten Methodenpluralismus aus; grammatikalisch (E. 2.3.1), historisch (E. 2.3.2), systematisch (2.3.3) und teleologisch (2.3.4).

Nach den Materialien hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich und entgegen der alten Rechtsprechung für die ursprünglich vorgesehene Konzeption der Gesamtstrafenbildung bei Widerruf ausgesprochen, wobei er sie nunmehr an das Erfordernis der Gleichartigkeit der Strafen knüpfte. Bei der Auslegung nach Sinn und Zweck äussert sich das Bundesgericht kritisch gegenüber dem gesetzgeberischen Schaffen. Die Bildung einer Gesamtstrafe bei einem Widerruf erweist sich aus Sicht des Bundesgerichts als wenig sachgerecht. Denn der Fall, dass ein Täter nach einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe während der Probezeit weitere Delikte verübt, unterscheidet sich wesentlich vom Fall eines Täters, der sämtliche Taten begangen hatte, bevor er wegen dieser Taten (Art. 49 Abs. 1 StGB) beziehungsweise zumindest wegen eines Teils dieser Taten (Art. 49 Abs. 2 StGB) verurteilt worden ist. Schliesslich aber stellt das Bundesgericht fast schon konsterniert fest, dass der Gesetzgeber die Ansicht des Bundesgerichts nicht teilt und es deshalb seine Rechtsprechung ändern muss (E. 2.3.5).

Sodann befasst sich das Bundesgericht mit der Bildung der Gesamtstrafe (E. 2.4). Der Probezeittäter wird durch Anwendung des Asperationsprinzips eine gewisse Privilegierung gewährt. Bei der Gesamtstrafenbildung hat das Gericht demnach methodisch von derjenigen Strafe als „Einsatzstrafe“ auszugehen, die es für die während der Probezeit neu verübte Straftat nach den Strafzumessungsgrundsätzen von Art. 47 ff. StGB ausfällt. Anschliessend ist diese mit Blick auf die zu widerrufende Vorstrafe angemessen zu erhöhen. Daraus ergibt sich die Gesamtstrafe (zum Ganzen E. 2.4.2).

Da die Vorinstanz die Gesamtstrafe falsch berechnet hat, wird die Beschwerde in diesem Punkt gutgeheissen.

Das rechtlich geschützte Interesse (gutgh. Beschwerde)

BGE 1C_641/2017:

Beim Beschwerdeführer fiel bei einer Verkehrskontrolle der Drugwipe-Test positiv auf Cannabis aus. Nach einem vorsorglichen Führerscheinentzug und erfolgreicher Fahreignungsabklärung wurde im August 2015 der Ausweis wiedererteilt, mit der Auflage einer 12-monatigen Cannabisabstinenz, die mittels monatlichen Urinproben kontrolliert wird. Im März 2016 fiel eine Urinprobe wiederum positiv aus, woraufhin das Strassenverkehrsamt der sofortige Sicherungsentzug verfügte und die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis wiederum von einer Fahreignungsabklärung abhängig machte. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde. Die Beschwerdeinstanz sistierte das Verfahren und schrieb das Verfahren als gegenstandslos ab, nachdem der Beschwerdeführer trotz hängigem Rechtsmittel die erneute Fahreignungsabklärung bestand. Gegen die Abschreibung wurde beim Verwaltungsgericht Beschwerde erhoben, die abgewiesen wurde. Der Beschwerdeführer verlangt die Aufhebung dieses Urteils. Das ASTRA hat sich vernehmen lassen und beantragt die Gutheissung der Beschwerde.

E. 2.2 zur Rechtsverweigerung: Dem Rechtsuchenden wird ein gerechtes Verfahren verweigert, wenn sein ordnungsgemäss eingereichtes Begehren nicht regelmässig geprüft wird. Eine formelle Rechtsverweigerung liegt vor, wenn eine Behörde auf eine Eingabe fälschlicherweise nicht eintritt oder eine solche ausdrücklich bzw. stillschweigend nicht behandelt, obwohl sie dazu verpflichtet wäre. Ob eine formelle Rechtsverweigerung vorliegt, prüft das Bundesgericht frei.

E. 2.3. zur Meinung der Vorinstanz: Die Vorinstanz ist der Auffassung, mit der Wiedererteilung des Führerausweises am 28. Februar 2017 sei das schutzwürdige Interesse des Beschwerdeführers an der Behandlung seiner beim Departement gegen den Sicherungsentzug vom 23. März 2016 erhobenen Beschwerde entfallen.

E. 2.4. zur Meinung des BGer: Administrativmassnahmen werden im ADMAS-Register eingetragen, so auch der Sicherungsentzug vom März 2016. Gemäss der ADMAS-Register-VO bliebe dieser Eintrag mind. 10 Jahre bestehen bis er automatische gelöscht würde. Das Verwaltungsgericht war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer durch diesen Eintrag nicht beschwert würde. Das sieht das BGer nicht so: „Auf der Hand liegt jedenfalls, dass der Eintrag für den Beschwerdeführer nachteilige Folgen haben könnte, wenn sich die Frage eines neuerlichen Sicherungsentzugs namentlich wegen Cannabismissbrauchs stellte. Darauf weist zutreffend auch das ASTRA hin. Könnte sich der Eintrag des am 23. März 2016 verfügten Sicherungsentzugs – wie die Vorinstanz anzunehmen scheint – in keiner Hinsicht nachteilig für den Beschwerdeführer auswirken, wäre nicht einzusehen, weshalb der Gesetz- und Verordnungsgeber den Eintrag überhaupt vorgesehen hätten. Der Eintrag des Sicherungsentzugs im ADMAS kann demnach für den Beschwerdeführer in einem allfälligen neuerlichen Administrativverfahren nachteilige Folgen haben. Schon deshalb hat der Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Interesse an der Behandlung der beim Departement gegen den Sicherungsentzug eingereichten Beschwerde.“ Auch könnte ein Arbeitgeber einen ADMAS-Auszug verlangen. Zudem muss niemand fehlerhafte Registereinträge hinnehmen, was sich aus dem Recht über informationelle Selbstbestimmung ergibt. Der Beschwerdeführer hat insofern nach wie vor ein schutzwürdiges Interesse auf Behandlung seiner Beschwerde. Zudem bestreitet der Beschwerdeführer auch die Richtigkeit der Urinprobe, die zum Sicherungsentzug führte. „In Anbetracht dessen ist es schlechthin unhaltbar, wenn die Vorinstanz annimmt, aufgrund der Wiederteilung des Führerausweises am 28. Februar 2017 habe der Beschwerdeführer kein schutzwürdiges Interesse an seiner gegen den Sicherungsentzug vom 23. März 2016 erhobenen Beschwerde mehr“.

Das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kt. AG hat es sich hier zu einfach gemacht. Auch wenn die Fahrerlaubnis zwischenzeitlich wiedererteilt wurde, hat der Beschwerdeführer eine Vielzahl von schutzwürdigen Interessen, die die Behandlung seiner Beschwerde rechtfertigen.

Der unaufmerksame Fussgänger (gutgh. Beschwerde)

BGE 6B_1294/2017

Im Dezember 2014 überfuhr der Beschwerdeführer bei schlechten Wetter- und Sichtverhältnissen einen Fussgänger, wofür er von den kantonalen Instanzen wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Das BGer hingegen heisst seine Beschwerde gut.

E. 1.1./2. zu den Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Vertrauensgrundsatz und rügt, dass er nicht damit habe rechnen müssen, dass ein Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn tritt, wo es keinen Fussgängerstreifen hat. Konkrete Anzeichen für ein Fehlverhalten des Fussgängers habe es nicht gegeben. Die Vorinstanz hingegen geht davon aus, dass der Beschwerdeführer den Fussgänger hätte bemerken und schon früher bremsen müssen.

E. 1.3.-5. zum Rechtlichen: Der Autofahrer muss sein Fahrzeug gemäss Art. 31 SVG stets so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Nach dem Vertrauensgrundsatz in Art. 26 SVG darf er aber davon ausgehen, dass sich sämtliche Verkehrsteilnehmer korrekt verhalten. Wo es keine Fussgängerstreifen hat, ist der Autofahrer gegenüber dem Fussgänger grds. vortrittsberechtigt (vgl. Art. 47 Abs. 5 VRV). „Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen.“

E. 1.6./7. Zur Subsumption: Der Fussgänger überquerte die Fahrbahn 6.5m vor dem Fussgängerstreifen. Er hörte Musik und war unaufmerksam. Die Witterungs- und Sichtverhältnisse waren schlecht, der Fussgänger war dunkel gekleidet. Der Beschwerdeführer hingegen machte trotz Ortskundigkeit keine Kontrollblicke nach links und rechts. Er sah den Fussgänger erst, als dieser auf der Fahrbahn war. Allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass der Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn treten würde. Insofern liegt i.c. keine Sorgfaltspflichtsverletzung vor. Zwischen dem Betreten der Fahrbahn und der Kollision liegen lediglich 0.8 Sekunden, was nicht einmal der durchschnittlichen Reaktionszeit von einer Sekunde entspricht. Es gab keine Kommunikation zwischen den beiden Verkehrsteilnehmern, da der Fussgänger mit dem Rücken zum Beschwerdeführer lief. Das blosse Vorhandensein von erwachsenen Fussgängern auf dem Trottoir erfordert kein Bremsmanöver. Kausale Ursache für den Unfall war das unvorhersehbare Beschreiten der Fahrbahn durch den Fussgänger, womit der Unfall für den Beschwerdeführer nicht vermeidbar war. Der Autofahrer wird freigesprochen.

Diabetes und Fahrunfähigkeit

BGE 6B_1450/2017: Verkehrsunfall wegen Diabetes (Gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer ist Diabetiker. Im September 2016 verursachte er einen Unfall. Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau warf ihm Fahren in fahrunfähigem Zustand vor, weil er vor der Abfahrt seinen Blutzuckerwert nicht gemessen habe. Das Bezirksgericht sprach in frei, das Obergericht hingegen hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft gut. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

E. 1.1 Meinung des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz hat ihren Schuldspruch lediglich mit Richtwerten aus einem Merkblatt für Fahrzeuglenker mit Diabetes mellitus des Kantonsspitals Aarau und aus Richtlinien bezüglich Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) begründet. Eine konkrete Einzelfallabklärung habe die Vorinstanz aber unterlassen, v.a. weil Sie einen Blutzuckerwert von 5 mmol/l als Minimum für Fahrtauglichkeit einsetzt. Der Beschwerdeführer fühlte sich vor der Fahrt gut und fahrfähig. Zudem hat er vor der Fahrt noch ein Langzeit-Insulin eingenommen.

E. 1.2. Meinung der Vorinstanz: Das Obergericht war der Meinung, dass der Beschwerdeführer mind. eventualvorsätzlich handelte, da er vor der Fahrt einen Blutzuckerwert von 4.8mmol/l gemessen hatte und keine Vorsichtsmassnahmen getroffen habe.

E. 1.3 Meinung des Bundesgerichts: Die Vorinstanz hat nicht gewürdigt, dass der Beschwerdeführer vor Fahrtbeginn ein Langzeit-Insulin eingenommen hat. Zudem hat sie die Richtlinien für Diabetiker generell angewendet und nicht auf den vorliegenden Einzelfall abgestimmt (vgl. auch BGE 1C_840/2013 E. 2.2). Aus diesen Gründen ist der vorinstanzliche Schuldspruch bundesrechtswidrig.

Da hat das Obergericht relativ schludrig gearbeitet und den Sachverhalt willkürlich festgestellt.

Zweifel an den Zweifel?

BGE 1C_232/2018: Die ernsthaften Zweifel (teilw. gutgh. Beschwerde)

Das StVA BE entzog dem Beschwerdeführer vorsorglich den Fahrausweis, weil ein Arzt die Fahreignung verneinte aufgrund eines unkontrollierten Alkoholkonsums und einer maniformen Störung. Interessanterweise führte das ASTRA in einer Stellungnahme vor Bundesgericht aus, dass es fraglich sei, ob aufgrund einer ärztliche Meldung genügend begründete ernsthafte Zweifel für einen vorsorglichen Entzug bestünden.

E. 2 zu den Meinungen der Verfahrensbeteiligten: Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die Massnahme nicht verhältnismässig sei. Es fehle der Konnex zum Strassenverkehr (E. 2.1). Für das Strassenverkehrsamt hingegen ist eine ärztliche Meldung immer Grund genug, um ernsthaft an der Fahreignung einer Person zu zweifeln (E. 2.2).

E. 3 zur Fahreignungsabklärung: Die Grundregel lautet, dass im Falle der Anordnung einer Fahreignungsabklärung der FA vorsorglich entzogen werden muss, um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten (E. 3.1). Ernsthafte Zweifel liegen namentlich vor, in den Fällen von Art. 15d Abs. 1 lit. a-e SVG, also auch, wenn ein Arzt eine Meldung gemäss lit. e macht (E. 3.2). Die Meldungen von Ärzten können i.d.R. nicht angezweifelt werden, da zwischen diesen und den Patienten ein Vertrauensverhältnis vorliegt und solche Meldungen eher zurückhaltend gemacht werden (E. 3.3).

E. 4 zum vorsorglichen Entzug: Der Beschwerdeführer konnte bis jetzt zwischen Alkoholkonsum und Strassenverkehr trennen, ein verkehrsrelevanter Vorfall hat es insofern nie gegeben. Aus diesem Grund sind keine ernsthaften Zweifel vorhanden, welche einen vorsorglichen Ausweisentzug gemäss Art. 30 VZV rechtfertigen.

Die Meldung eines Arztes gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. e SVG hat eine Fahreigungsabklärung zur Folge. Liegt allerdings kein verkehrsrelevanter Vorfall vor, ist ein vorsorglicher Entzug unverhältnismässig. Der Entscheid relativiert etwas die behördliche Übermacht bzgl. Sicherheitsmassnahmen im Strassenverkehr, womit das ganze ein klein wenig verhältnismässiger wird.

 

Keine Ordnungsbussen für juristische Personen

Urteil 6B_252/2017: Keine Ordnungsbussen für die Firma (gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid dreht sich um die Frage, ob juristische Personen aufgrund der im Ordnungsbussengesetz stipulierten Halterhaftung zu Übertretungsbussen verdonnert werden können, wenn sie den Lenker des auf sie eingelösten Fahrzeug nicht bezeichnen können.

E. 1. zur Halterhaftung: Zunächst beschäftigt sich das BGer damit, ob die Halterhaftung gemäss Art. 6 OBG gegen die Unschuldsvermutung und damit gegen Art. 6 EMRK verstösst. Dieser garantiert ein faires Verfahren und zwingt damit die Anklagebehörde grds. die erforderlichen Beweismittel zu erbringen (E. 1.2.1). Die Unschuldsvermutung gilt allerdings nicht absolut. Bei leichteren Widerhandlungen, die mit geringen Bussen bestraft werden, verstösst eine Halterhaftung nicht gegen Art. 6 EMRK, solange die EMRK-Vertragsstaaten innerhalb vernünftiger Grenzen bleiben (vgl. O’Halloran und Francis gegen Grossbritannien, Urteil vom 29. Juni 2007; Falk gegen Niederlande, Urteil vom 19. Oktober 2004; E. 1.2.2).

Fahrzeughalter akzeptieren grds. die Strassenverkehrsgesetzgebung, aus welcher sich gewisse Obliegenheiten ergeben, z.B. Auskunftspflichten gegenüber Behörden. Weigert sich der Halter, den Lenker anzugeben, kann man ihn nicht dazu zwingen, er hat aber die Konsequenzen daraus zu tragen (E. 1.2.3). Einem Fahrzeughalter ist zuzumuten, die Identität der Person zu kennen, der er sein Fahrzeug anvertraut. Dies gilt auch für juristische Personen. Es entspricht denn auch dem Willen des Gesetzgebers, die Verantwortung des Fahrzeughalters zu stärken und die Behörden von aufwändiger, unverhältnismässiger Ermittlungsarbeit im Bereich ausgesprochener Bagatelldelikte, wie sie im Ordnungsbussenverfahren beurteilt werden, zu entlasten (vgl. E. 1.3.1).

Art. 6 EMRK wird durch die Halterhaftung des OBG nicht verletzt.

E. 2. zur Haltereigenschaft: Die Beschwerdeführerin rügt, dass sie als juristische Person gar kein Auto fahren könne und schon deshalb nicht strafbar sei. Für die Halterhaftung ist gemäss der Rechtsprechung auf den formellen Halterbegriff abzustellen (vgl. Urteil 6B_432/2017 E. 2.2). Da die Beschwerdeführerin im Fahrzeugausweis eingetragen ist, gilt sie als Halterin nach OBG.

E. 3. zur Strafbarkeit des Unternehmens: Gemäss Art. 102 StGB werden Unternehmen Straftaten zugerechnet, wenn sie aufgrund mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner natürlichen Person zugerechnet werden können, wobei nur Verbrechen und Vergehen genannt werden. Bei Übertretungen haften juristische Personen nur, wenn dies ausdrücklich im Gesetz geregelt ist (E. 3.1.1). Im Strafrecht muss das Legalitätsprinzip streng angewendet werden. Ohne Gesetz gibt es keine Strafe („nulla poena sine lege“; Art. 1 StGB). Ebenso enspringt dem Legalitätsprinzip das Bestimmtheitsgebot, das besagt, dass Strafnormen so präzise fomuliert sein müssen, dass sich ein Durchschnittsbürger danach auch richten kann („nulla poena sine lege certa“). Der Gesetzgeber wollte mit Art. 6 OBG den Halter bei geringen Straftaten im Verkehr in die Pflicht nehmen. Eine ausdrückliche Bestrafung von juristischen Personen für Übertretungen wird darin aber nicht stipuliert. Insofern verletzt eine Ordnungsbusse, welche einer juristischen Person auferlegt wird, das Legalitätsprinzip (E. 3.2).

Mangels gesetzlicher Grundlage können juristische Personen damit nicht mit verkehrsrechtlichen Ordnungsbussen bestraft werden.

BGer verdonnert StVA zur Arbeit

BGE 1C_33/2018: Keine Bindung des StVA an das Strafurteil (gutgh. Beschwerde)

Die Rechtsprechung zur Bindung des StVA an das Strafurteil ist allseits bekann. Anbei ein Entscheid, in welchem sich das StVA ausnahmsweise nicht binden lassen durfte!

Der Beschwerdeführer wurde als Halter in Österreich wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 51km/h im 100er Bereich verurteilt. Das Strassenverkehrsamt SG stellte dafür einen dreimonatigen Führerscheinentzug in Aussicht und verfügte später sogar einen Warnentzug von sechs Monaten, obwohl der Beschwerdeführer Unterlagen einreichte, nach welchen sein Sohn gefahren sein soll. Das Urteil dreht sich um die Bindung des Strassenverkehrsamtes an das Strafurteil.

E. 2.2 zum österreichischen Verfahren: Das Strassenverkehrsrecht Österreichs entspricht weitgehend jenem der Schweiz. Deshalb kann auf einen österreichischen Entscheid ohne weiteres abgestellt werden.

E. 3.2 zur Bindung: Die Verwaltungsbehörde wird durch ein Strafurteil nicht gebunden, muss aber widersprüchliche Urteile vermeiden und darf nur ausnahmsweise von den im Strafverfahren festgestellten Tatsachen abweichen, z.B. wenn klare Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Tatsachenfeststellung bestehen; in diesem Fall hat die Verwaltungsbehörde nötigenfalls selbstständige Beweiserhebungen durchzuführen.

E. 4.2 zum Strafurteil: Die österreichische Strafverfügung stützt sich lediglich auf das Bild eines Geschwindigkeitsmessgeräts, auf welchem der Lenker nicht erkennbar ist.

E. 5 zur Nicht-Bindung des StVA: Der Beschwerdeführer reichte dem StVA ein schriftliches Schuldeingeständnis seines Sohnes ein, der nachweislich auch die Busse bezahlte und bezeichnete zwei Zeugen, welche ihm ein Alibi verschafften. Ebenso bestätigte ein Verband, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Geschwindigkeitsüberschreitung an einem Geschäftsausflug jenes Verbandes teilgenommen hatte. „Somit liegen klare Anhaltspunkte vor, welche die Sachverhaltsfeststellung in der Strafverfügung als möglicherweise unrichtig erscheinen und Zweifel an den von den österreichischen Behörden lediglich anhand des Radarbildes festgestellten Tatumstände aufkommen lassen. Die Vorinstanz wäre daher verpflichtet gewesen, eigene Erhebungen vorzunehmen, um diese Anhaltspunkte näher zu untersuchen. Aufgrund der vom Beschwerdeführer dargestellten Sachlage erscheint es durchaus möglich, dass nicht er, sondern sein Sohn am 30. Juni 2015 den Personenwagen bei der Geschwindigkeitsüberschreitung gelenkt hat.“

Die Beschwerde wird damit gutgeheissen und das Strassenverkehrsamt verpflichtet, den Sachverhalt eigens abzuklären.