Das Recht auf das Plädoyer

BGE 6B_1298/2018: Abwesenheit der beschuldigten Person vor Gericht (gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid befasst sich mit Art. 356 Abs. 4 StPO und wann die Fiktion des Einspracherückzugs angenommen werden darf. Ebenso behandelt der Entscheid das Recht des Verteidigers zu plädieren.

Die Beschuldigte Person erhielt einen Strafbefehl wegen Betäubungsmitteldelikten, gegen welchen sie Einsprache erhob. Nach Überweisung der Sache an das Gericht, setzte dieses die Hauptverhandlung an. Der Verteidiger teilte daraufhin mit, dass sein Klient nicht auffindbar sei und beantragt die Verschiebung der Hauptverhandlung. Das Gericht hingegen hält am Verhandlungstermin fest, an welchem die Folgen der Abwesenheit der beschuldigten Person erörtert werden können. Der Verteidiger teilte daraufhin mit, dass eine Substitutin an der Verhandlung teilnehmen werde. Diese erschien 17 Minuten zu spät zur Hauptverhandlung, woraufhin das Gericht den Rückzug der Einsprache und die Rechtskraft des Strafbefehls feststellte. Dagegen wehrt sich die beschuldigte Person und macht eine Verletzung der EMRK geltend.

E. 3 zur Abwesenheit der beschuldigten Person in der Hauptverhandlung: Art. 356 Abs. 4 StPO stipuliert, dass die Einsprache als zurückgezogen gilt, wenn die Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung fernbleibt und sich nicht vertreten lässt. Es handelt sich dabei um eine Fiktion, dass kein Interesse mehr an der Einsprache bestehe. Im Licht von Art. 29a BV und Art. 6 EMRK darf die Rückzugsfiktion nur zur Anwendung gelangen, wenn die betroffene Person von der Vorladung und den Folgen des Fernbleibens wusste. Die Fiktion darf nur zur Anwendung gelangen, wenn nach Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 StPO) aufgrund des Fernbleibens auf ein Desinteresse der einsprechenden Person am Prozess geschlossen werden kann. Die Rückzugsfiktion gilt allerdings auch, wenn das Gericht das persönliche Erscheinen der beschuldigten Person anordnet, zur Verhandlung aber nur der Rechtsvertreter erscheint (E. 3.1). Ob nun ein Desinteresse der beschuldigten Person vorlag oder nicht, lässt das BGer offen, weil die Verteidigung sich zu diesem Punkt gar nicht äussern konnte.

E. 4 zur EMRK: Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung der EMRK gelten, indem das Gericht die verspätete Rechtsvertreterin nicht mehr plädieren liess. Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK garantiert das Recht, sich verteidigen zu lassen. Im Kontumazverfahren darf der Verteidiger gemäss Art. 367 Abs. 1 StPO plädieren. Das Plädoyer kann natürlich auch Ausführungen zur Rückzugsfiktion enthalten (E. 4.1). Im Folgenden äussert sich das BGer zur „Respektviertelstunde“ und ab wann eine Verspätung des Rechtsvertreters als Rückzug der Einsprache gewertet werden darf, ohne dass das Gericht dabei dem überspitzten Formalismus verfällt. Nach der Lehre sollen Verspätungen von „ein paar Minuten“ bis einer Stunde toleriert werden (E. 4.1.1). Vorliegend teilte der Anwalt dem Gericht mit, dass er seinen Klienten nicht erreichen konnte und dass seine Substitutin an die Verhandlung kommt. Weil sich diese über den Verhandlungsbeginn irrte, kam sie 17min zu spät. Sie wollte dennoch mit dem Gerichtspräsident sprechen, der auch noch im Saal anwesend war, was ihr aber verweigert wurde, obwohl die nächste Verhandlung erst in 40min begonnen hätte. Das Gericht verhielt sich überspitzt formalistisch, die Beschwerde wird gutgeheissen.

Braucht der Anwalt einen Anwalt?

BGE 6B_1136/2018:

Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. Ein Strafverfahren wegen div. einfacher Verkehrsregelverletzungen, z.B. Überfahren einer Sicherheitslinie, wurde eingestellt. Eine Lohnausfall- sowie Parteientschädigung wurde allerdings abgelehnt. Dagegen wehrt sich der Beschwerdeführer erfolglos.

E. 1. zur Entschädigung: Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte. Sowohl der Beizug eines Verteidigers als auch der von diesem betriebene Aufwand müssen sich als angemessen erweisen (E. 1.1.1). Das BGer prüft die Auslegung von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO frei, allerdings auch mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüber den kantonalen Behörden. Diese haben einen grossen Ermessensspielraum (E. 1.1.2).

Der Sachverhalt bot keine Schwierigkeiten wie z.B. haftpflichtrechtliche oder administrativrechtliche Fragen. Dies gilt umso mehr, weil der Beschwerdeführer Rechtsanwalt und erfahrener Strafverteidiger ist. Er konnte an allen Einvernahmen teilnehmen und auch selber Fragen stellen, sein rechtliches Gehör konnte er stets wahrnehmen. Dafür war kein Rechtsvertreter nötig (E. 1.2.1). Auch die vom Beschwerdeführer zitierten Urteile finden keine Anwendung, weil in jenen stets juristische Laien auf der Anklagebank sassen (E. 1.2.2).

Des Rechtlichen Mächtige können sich also die Kosten für einen Verteidiger sparen. Sie können sich alleine dem übermächtigen Staatsapparat entgegenstellen.

Wenn man die Zeugen nie sieht

BGE 6B_128/2018: Konfrontationseinvernahme (teilw. gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer touchiert in alkoholisiertem Zustand einen Fussgänger. Dieser und seine Familienmitglieder sind die einzigen Belastungszeugen und Hauptbeweise der Strafbehörden. Der Beschwerdeführer rügt (u.a.), dass er an den Einvernahmen der Belastungszeugen nicht teilnehmen konnte und dass sein Konfrontationsanspruch verletzt worden sei.

E. 2.2 zu den Teilnahmerechten: Die Parteien haben bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen kein Recht darauf, anwesend zu sein (Umkehrschluss aus Art. 147 abs. 1 Satz 1 StPO). Wurde die Polizei hingegen von der Staatsanwaltschaft damit beauftragt, eine Einvernahme durchzuführen, haben die Verfahrensbeteiligten grds. Teilnahmerechte (Art. 312 Abs. 2 StPO). Vorliegend fanden die Einvernahmen im polizeilichen Ermittlungsverfahren statt, weshalb die Teilnahmerechte des Beschwerdeführers nicht verletzt wurden.

E. 2.3. zum Konfrontationsanspruch: Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch des Beschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Dies gilt auch, wenn die belastende Aussage lediglich eines von mehreren Gliedern einer Indizienkette ist (E. 2.3.3.). Der Beschwerdeführer hatte im Strafverfahren keine Möglichkeit den Beweiswert der Aussagen der Belastungszeugen in kontradiktorischer Weise zu überprüfen. In diesem Punkt wird die Beschwerde gutgeheissen (E. 2.3.4.).

Zuständigkeitsprobleme

BGE 6B_1304/2018: Wenn die falsche Staatsanwältin arbeitet (gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer wurde im Kt. AG von einer Assistenzstaatsanwältin wegen Telefonieren am Steuer (Übertretung) und Fahren ohne Berechtigung (Vergehen) mit Strafbefehl bestraft. Der Beschwerdeführer rügt, dass der Strafbefehl nichtig sei.

E. 1.4ff. zur Zuständigkeit: Die Strafrechtspflege steht einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu. Zudem sind Strafverfahren an die gesetzlichen Formen gebunden (Art. 2 StPO). Zu den Strafverfolgungsbehörden gehören Polizei, Staatsanwaltschaft und die Übertretungsstrafbehörden (Art. 12 StPO). In der Organisation sind Bund und Kantone frei (Art. 14 StPO).

Gemäss §8 Abs. 2 EG StPO führen Assistenzstaatsanwälte Übertretungsstrafverfahren durch, nicht aber Vergehensstrafverfahren. Beim Fahren ohne Berechtigung handelt es sich aber um einen Vergehenstatbestand. Der Strafbefehl war ungültig und konnte auch nicht durch eine von einem Staatsanwalt unterzeichnete Überweisungsverfügung geheilt werden. Die erste Gerichtsinstanz hätte gemäss Art. 356 Abs. 5 StPO die Sache an die STA zurückweisen müssen (E. 1.5.).

Zuständigkeitsvorschriften schützen den Bürger vor dem Übergriff unzuständiger Behörden. Sie sind deshalb zwingend. Eine Strafbehörde prüft ihre Zuständigkeit vor Eintreten auch von Amtes wegen. Es stellt sich i.c. die Frage, ob der Strafbefehl nichtig war. Angesichts des Grundsatzes der Gültigkeit von Verfahrenshandlungen gelten nur krass fehlerhafte Verfahrenshandlungen als nichtig. Nichtigkeit nach der Evidenztheorie wird in der zu beurteilenden Konstellation nicht anzunehmen sein. Nach Ansicht des Bundesgerichts war der Strafbefehl also nicht nichtig, sondern „nur“ (teil-)ungültig (vgl. Art. 356 Abs. 5 StPO; E. 1.6.-7.).

Scheint so, als quälten den Staat die gleichen Probleme wie die Privatwirtschaft. Immer fragt man sich, wer für was zuständig ist. Der Kt. AG ist hier nicht der einzige. Auch im Kt. SG hatten sich die Strafbehörden schon mit Zuständigkeitsfragen herumzuschlagen (vgl. KGE SG vom 29.11.2017).

Einstellung des Strafverfahrens

BGE 6B_1118/2018: Aussergewöhnlicher Todesfall, Voraussetzungen Einstellung

Strafverfahren gehören zum Strassenverkehr wie das Bier zum Angelurlaub. Der Entscheid befasst sich exemplarisch mit den Voraussetzungen der Einstellung und dem „In dubio pro durore“ Prinzip. Vorliegend geht es um den (tragischen) Tod eines Kleinkindes in einem Spital.

E. 3 zur Einstellung nach StPO 319: Die Staatsanwaltschaft verfügt eine Einstellung, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt (lit. a); kein Straftatbestand erfüllt ist (lit. b); Rechtfertigungsgründe einen Straftatbestand unanwendbar machen (lit. c). Der Entscheid über die über die Einstellung des Verfahrens hat die Staatsanwaltschaft als anklagende Behörde nach dem Prinzip „in dubio pro durore“ zu richten. Danach darf eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit oder offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden. Erscheint eine Verurteilung vor Gericht als wahrscheinlicher als ein Freispruch, muss Anklage erhoben werden. Halten sich Freispruch und Verurteilung die Waage, drängt sich in der Regel, insb. bei schweren Delikten, eine Anklage auf, v.a. bei zweifelhafter Beweis- oder Rechtslage. Allerdings haben die Staatsanwaltschaften die Kompetenz bei klarem Sachverhalt in antizipierter Beweiswürdigung das Strafverfahren einzustellen (E. 3.1.1).

Ob die Staatsanwaltschaft zu Recht von einer klaren Beweislage ausging, prüft das Bundesgericht nur auf Willkür hin. Ob hingegen der Grundsatz „in dubio pro durore“ richtig angewendet wurde, ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei prüft (E. 3.1.2).

Im vorliegenden Fall geht es um die fahrlässige Tötung eines Menschen, die eine Sorgfaltspflichtsverletzung des behandelnden Arztes voraussetzt. Ein Arzt verletzt seine Pflichten nur dort, wo er eine Diagnose stellt bzw. eine Therapie oder ein sonstiges Vorgehen wählt, das nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und daher den objektivierten Anforderungen der ärztlichen Kunst nicht genügt (E. 3.1.3).

Gutachterlich wurde vorliegend keine Sorgfaltspflichtsverletzung festgestellt bzw. keine Mängel in der ärztlichen Behandlung. Der Tod war die Folge einer extrem seltenen aorto-ösophagealen Fistel, einer Verbindung zwischen Körperhauptschlagader und Speiseröhre. Der Sachverhalt war insofern klar festgestellt. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Vom Beschuldigten zum Zeugen

BGE 6B_171/2017: Rollenspiele im Strafprozess (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer und eine Komplizin werden u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten strafrechtlich verfolgt. Die Komplizin war in einem separaten Strafverfahren geständig. Dieses wurde rechtskräftig erledigt. Nun wurde Sie im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeugin einvernommen. Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass seine Komplizin als Auskunftsperson hätte befragt werden müssen und deshalb die Einvernahme unverwertbar sei. Der Entscheid beschäftigt sich lehrstückhaft mit der Frage, ob eine rechtskräftig verurteilte Person in einem späteren Verfahren gegen einen Tatbeteiligten ein Zeugnis ablegen kann.

E. 2. zu den versch. Rollen und deren Rechten und Pflichten: Gemäss Legaldefinition in Art. 162 StPO ist ein Zeuge an der Straftat nicht beteiligt und kann sachdienliche Aussagen machen. Der Rollenwechsel von Auskunftsperson und Zeugen zur Rechtstellung der beschuldigten Person ist grds. möglich (E. 2.1.4.). Der Wechsel von der Rolle der beschuldigten Person zum Zeugen wurde in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet: In BGE 6B_1039/2014 musste die verurteilte Person als Auskunftsperson befragt werden. In BGE 6B_1178/2016 wurde die Einvernahme als Zeuge wiederum gutgeheissen.

E. 2.3. zur Lehre: Die eine Lehrmeinung geht davon aus, dass man bzgl. eines Sachverhaltes ein Leben lang beschuldigte Person ist und deshalb später nur als Auskunftsperson einvernommen werden kann. Die andere Lehrmeinung geht davon aus, dass nach rechtskräftiger Erledigung eines Strafverfahrens der Rollenwechsel zum Zeugen möglich ist, wobei teils differenziert wird, ob eine Einstellungsverfügung oder ein richterliches Urteil ergangen ist (wegen Art. 323 StPO).

E. 3 zur Auslegung der StPO: Als Auskunftsperson wird einvernommen, wer in einem anderen Verfahren wegen einer Tat, die mit der abzuklärenden Straftat in Zusammenhang steht, beschuldigt ist. Der Zeuge wiederum hat mit dieser nichts zu tun. Die in einem anderen Verfahren rechtskräftig verurteilte Person ist nach der Ansicht des BGer weder Auskunftsperson noch Zeuge (E. 3.2.1.). Der Zweck der Auskunftsperson gemäss Art. 178 lit. f. StPO ist der Schutz des Betroffenen vor Interessenskollisionen (E. 3.2.2.). Historisch gesehen war dem Gesetzgeber bewusst, dass es problematisch sei, „wenn ein Restverdacht bleibe und die frühere beschuldigte Person, wenn sie als Zeugin wahrheitspflichtig würde, allenfalls Gefahr liefe, dass der Fall gegen sie wieder aufgenommen würde. Fragwürdig sei eine Zeugeneinvernahme sodann, wenn das Verfahren gegen die mitbeschuldigte Person allein aus prozessualen Gründen eingestellt worden sei.“ Trotzdem hat er auf eine entsprechende Regelung verzichtet, dass rechtskräftig verurteilte Personen als Auskunftspersonen einzuvernehmen seien. Das BGer folgert daraus, dass es dem Gesetzgeber bewusst war, dass Art. 178 lit. f. StPO nur auf Personen angewendet wird, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist (E. 3.2.3.). Nach Auslegung mittels Methodenpluralismus liegt eine Lücke vor (E. 3.2.4.).

E. 3.3. Lückenfüllung durch das BGer: Das BGer ist der Ansicht, dass nach der rechtskräftigen Erledigung eines Strafverfahrens die Schutzrechte der Auskunftsperson nicht mehr nötig sind, da gemäss Art. 11 StPO der Grundsatz von „ne bis in idem“ gilt. Dem BGer ist dabei bewusst, dass die Wiederaufnahme des eingestellten Strafverfahrens (Art. 323 StPO) und die Revision eines Urteils möglich sind (Art. 410ff. StPO). „Den damit verbundenen Bedenken ist allerdings entgegenzuhalten, dass eine Person gemäss Art. 169 Abs. 1 StPO das Zeugnis verweigern kann, wenn sie sich mit ihrer Aussage selbst derart belasten würde, dass sie strafrechtlich (lit. a; vgl. dazu Urteil 1B_436/2011 vom 21. September 2011 E. 2.4) oder zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden könnte, und wenn das Schutzinteresse das Strafverfolgungsinteresse überwiegt (lit. b; vgl. KAUFMANN, a.a.O., S. 161).“

E. 3.4. Fazit: „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine Person, die in einem getrennten Verfahren für die abzuklärende Tat oder eine damit in Zusammenhang stehende Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, grundsätzlich in analoger Anwendung von Art. 162 ff. StPO als Zeuge oder Zeugin einzuvernehmen ist. Bestehen jedoch im Einzelfall Anhaltspunkte dafür, dass die einzuvernehmende Person über ihre Verurteilung hinaus (vgl. jedoch Art. 11 StPO) als Täterin oder Teilnehmerin der abzuklärenden oder einer konnexen Straftat nicht ausgeschlossen werden kann, so ist sie gestützt auf Art. 178 lit. d StPO als Auskunftsperson einzuvernehmen. Der Entscheid über die Rolle der einzuvernehmenden Person richtet sich nach der Sach- und Rechtslage im Einvernahmezeitpunkt (vgl. oben E. 2.1.3).“

Die wunderbare Welt der Alkohol-Gutachten

BGE 6B_918/2017: FiaZ und die Gutachten dazu (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer fuhr mit einem Kollegen zu Beginn der Fasnacht in Huttwil mit einem Lieferwagen umher, wobei sie mehrfach ein Knallgasgemisch in dafür präparierten Rohren entzündeten. Später griff die Polizei den Beschwerdeführer bei seinem Kollegen auf, brachte ihn ins Spital, wo eine Blutalkoholkonzentration von 1.88% gemessen wurde. Er beschwert sich beim Bundesgericht gegen die Verurteilung wegen qualifiziertem FiaZ.

E. 1. zur Anordnung der Blutprobe: Zunächst rügt der Beschwerdeführer, dass die Blutprobe nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern von der Polizei angeordnet wurde, womit Art. 241 Abs. 1 StPO verletzt sei. Das BGer entgegnet: „Der Instanzenzug muss nicht nur prozessual durchlaufen, sondern auch materiell erschöpft sein. Verfahrensrechtliche Einwendungen, die im kantonalen Verfahren hätten geltend gemacht werden können, können nach dem Grundsatz der materiellen Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs vor Bundesgericht nicht mehr vorgebracht werden (BGE 135 I 91 E. 2.1 S. 93; Urteil 6B_673/2017 vom 2. Oktober 2017 E. 1.2.2). Es verstösst gegen Treu und Glauben, verfahrensrechtliche Mängel erst in einem späteren Verfahrensstadium oder sogar erst in einem nachfolgenden Verfahren geltend zu machen, wenn der Einwand schon vorher hätte festgestellt und gerügt werden können (BGE 143 V 66 E. 4.3 S. 69 f.; Urteil 6B_178/2017 vom 25. Oktober 2017 E. 4; je mit Hinweisen).“

E. 2. zum rechtlichen Gehör bzgl. Gutachten: Um die Nachtrunkbehauptung des Beschwerdeführers zu überprüfen, hat das IRM Bern bei der Universitätsklinik Freiburg i. Br. eine sog. Begleitstoffanalyse in Auftrag gegeben, weil das IRM Bern dafür die Infrastruktur nicht hat. Die Begleitstoffanalyse ist ein Standardverfahren, bei welchem die Probe mit Headspace-Gaschromatographie-Flammenionisationsdetektion analysiert wird. Der Beschwerdeführer rügt, dass er sich dazu nicht äussern konnte.

Gemäss Art. 184 Abs. 3 StPO ist das rechtl. Gehör der Parteien zu Gutachten ausdrücklich geregelt, wird aber im gleichen Absatz auch wieder relativiert. So kann davon abgesehen werden, wenn es um Bestimmung der BAK oder andere Standard-Laboruntersuchungen geht. Der Grund für die Ausnahmeregelung liegt darin, dass es bei den in Art. 184 Abs. 3 Satz 2 StPO genannten Gutachten um standardisierte Expertisen geht, welche aufgrund allgemein anerkannter Methoden in weitgehend technisch vorgegebener Weise erstellt werden. Die Gewährung des rechtl. Gehörs macht v.a. bei psychiatrischen Gutachten Sinn. Da es sich bei der Begleitstoffanalyse um ein Standardverfahren ohne grosse Interpretationsmöglichkeit handelt, musste das rechtl. Gehör nicht bereits vorher gewährt werden.

E. 3. zur Externalisierung des Gutachtens: Der Beschwerdeführer rügt, dass der Auftrag an das Uniklinikum Freiburg i. Br. von der Staatsanwalt hätte erfolgen müssen und nicht durch das IRM Bern. Der Gutachter kann gemäss Art. 184 Abs. 2 lit. b StPO weitere Personen einsetzen. Solange nur Teilaspekte des Gutachtens weitergegeben werden, ist dafür keine Zustimmung der Staatsanwaltschaft nötig. Die Begleitstoffanalyse ist lediglich ein Teilaspekt, der dann auch vom IRM Bern interpretiert wurde, weshalb der Auftrag nicht von der Staatsanwaltschaft zu erfolgen hatte.

Die Begleitstoffanalyse widerlegte die Nachtrunkbehauptungen des Beschwerdeführers. Es handelt sich dabei um ein Standardverfahren, welches kein vorheriges rechtliches Gehör bedarf. Ebenso ist es empfehlenswert, sämtliche formaljuristische Voraussetzungen von Beginn weg zu prüfen, insb. die Anordnung der Blutprobe.

A-Post Plus im Strafverfahren

BGE 6B_773/2017: A-Post Plus und Zustellfiktion im Strafverfahren (gutg. Beschwerde)

In diesem Entscheid geht es um die Frage, ab wann ein Dokument, i.c. eine Einstellungsverfügung, im Strafverfahren als zugestellt gilt, wenn dieses mit A-Post Plus verschickt wird, was natürlich Auswirkungen auf den Fristenlauf hat. Die Einstellungsverfügung wurde im vorliegenden Fall an einem Samstag ins Postfach des Rechtsvertreters gelegt. Die kantonalen Instanzen gingen davon aus, dass die Beschwerdefrist bereits am folgenden Sonntag zu laufen begann und erachteten die Beschwerde des Rechtsvertreters als verspätet. Dieser nahm von der Verfügung am Montag Kenntnis und ging davon aus, dass die Beschwerdefrist am Dienstag zu laufen begann.

E. 2.1./2. Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass mit Zustellung eines Dokumentes per A-Post-Plus keine Empfangsbestätigung eingeholt werde, weshalb Art. 85 Abs. 2 StPO verletzt sei. Die Vorinstanz geht davon aus, dass mit der registrierten Zustellung A-Post Plus ein Schreiben in den Machtbereich des Empfängers gelangt sei und deshalb auch den Fristenlauf für allfällige Rechtsmittel auslöst.

E. 2.3ff. Meinung es Bundesgerichts: Es äussert sich zunächst zu den gesetzlichen Grundlagen und hält zu Art. 85 StPO fest, dass die „gesetzlich vorgeschriebenen Zustellformen dem Umstand Rechnung tragen, dass Verfügungen oder Entscheide, die der betroffenen Person nicht eröffnet worden sind, grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten (BGE 122 I 97 E. 3a/bb; Urteil 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Der Beweis der ordnungsgemässen Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die hieraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (BGE 142 IV 125 E. 4; 136 V 295 E. 5.9; 129 I 8 E. 2.2; je mit Hinweisen).“ Mangels Empfangsbestätigung genügt die Zustellung mit A-Post Plus den gesetzlichen Anforderungen von Art. 85 Abs. 2 StPO nicht (E. 2.3.1.).

„Eine Zustellung ist gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ungeachtet der Verletzung von Art. 85 Abs. 2 StPO auch dann gültig erfolgt, wenn die Kenntnisnahme des Empfängers auf andere Weise bewiesen werden kann und die zu schützenden Interessen des Empfängers (Informationsrecht) gewahrt werden (vgl. BGE 142 IV 125 E. 4.3; Urteile 1B_41/2016 vom 24. Februar 2016 E. 2.2; 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Entscheidend ist, ab welchem Zeitpunkt von einer Kenntnisnahme ausgegangen werden kann.“ Das BGer lehnt die Meinung der Vorinstanz ab, welches mit der Zustellung einer Sendung vom Beginn des Fristenlaufes ausgeht. In diesem Fall wäre es möglich, dass jemand ohne jemals Kenntnis von einer Verfügung zu haben, eine Rechtsmittelfrist verpasst. „Es ist daher zentral, dass der Betroffene seine Rechte effektiv wahren kann und ihm das Ergreifen eines Rechtsmittels nicht unnötig erschwert oder verunmöglicht wird. Die Rechtsmittelfrist kann erst dann zu laufen beginnen, wenn die betroffene Person im Besitz aller für die erfolgreiche Wahrung ihrer Rechte wesentlichen Elemente ist (BGE 102 Ib 91 E. 3). Bestehen besondere Formvorschriften, darf an den blossen Zugang in den Machtbereich des Empfängers keine fristauslösende Wirkung geknüpft werden. Massgebend ist vielmehr die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Adressaten.“

Das BGer heisst die Beschwerde gut. Der Zustellnachweis der A-Post Plus reicht also nicht dafür aus, dass die teils kurzen Fristen im Strafverfahren zu laufen beginnen. Vielmehr benötigt es dafür grds. die Kenntnisnahme des Empfängers.

Ausstand im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft

BGE 1B_375/379/2017: Ausstand im Strafverfahren (gutgh. Beschwerde)

Die Strafbehörden führen eine Untersuchung gegen die beschwerdeführenden Ehegatten wegen Menschenhandel. Letztere sollen mehrere Frauen illegal und in ausbeuterischer Weise v.a. aus Malaysia in die Schweiz geschlossen haben. Die Ehegatten wehren sich gegen den Vorwurf des Menschenhandels und verlangen aufgrund div. Verfahrensmängeln, dass die untersuchende Staatsanwältin in den Ausstand tritt.

E. 2. Zum Ausstand: „Befangenheit einer staatsanwaltlichen Untersuchungsleiterin oder eines Untersuchungsleiters ist nach der Praxis des Bundesgerichtes namentlich anzunehmen, wenn nach objektiver Betrachtung besonders krasse oder ungewöhnlich häufige Fehlleistungen der Untersuchungsleitung vorliegen, welche bei gesamthafter Würdigung eine schwere Verletzung der Amtspflichten darstellen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken.“

E. 4. Zu den Verfehlungen: Die Vorinstanz hat verschiedene Fehler der untersuchenden Staatsanwaltschaft festgestellt, u.a.:

– Ausübung von Druck auf die eingeschleusten Opfer bzgl. Aussagen.
– Versprechen von Privilegierungen, wenn Opfer belastende Aussagen machen.
– Verweigerung von Parteirechten bei Einvernahmen von Auskunftspersonen oder Zeugen.
– Kein Untersuchen von entlastenden Umständen.

E. 5. Zur Schlussfolgerung: Obwohl die Vorinstanz die Untersuchungsführung als „heikel, unglücklich und falsch“ bezeichnet, sieht sie keine Befangenheit der Staatsanwältin. Diese Schlussfolgerung bezeichnet das BGer als „schwer nachvollziehbar“. Die Verfehlungen der Untersuchungsbehörde können nicht geheilt werden. „Die von der Vorinstanz festgestellten diversen Verfahrensfehler, die sich allesamt zum Nachteil der Beschwerdeführer als beschuldigte Parteien ausgewirkt haben, erscheinen bei gesamthafter Betrachtung schwerwiegend. Bei objektiver Würdigung der von der Vorinstanz festgestellten Prozessgeschichte drängt sich der Eindruck auf, dass die Untersuchungsleiterin voreingenommen ist. Sie hat in geradezu systematisch anmutender Weise die Parteirechte der Beschwerdeführer missachtet und sich in unfairer Weise einseitig auf die Beschaffung von belastendem Beweismaterial konzentriert.“

Das BGer heisst das Ausstandsbegehren gut.

Die Ehefrau im Visier der Strafbehörden

BGE 6B_1025/2016: Rechtsbelehrung bei Einvernahmen (Leitentscheid, gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid setzt sich lehrstückhaft mit den Verfahrensrollen der Auskunftsperson und des Zeugen im Strafverfahren auseinander und welche Mitwirkungs- und Aussageverweigerungsrechte die Beteiligten haben. Im vorliegenden Fall wurde die Ehegattin als Auskunftsperson zu mutmasslichen Straftaten ihres Ehemannes befragt.

E. 1.2.1./2. zu den gesetzlichen Regelungen der Auskunftsperson und des Zeugen:

Während der Zeuge grds. nichts mit der untersuchten Straftat zu tun hat, nimmt die Auskunftsperson eine Stellung zwischen Zeuge und beschuldigter Person ein. So kann als Auskunftsperson einvernommen werden, wer ohne beschuldigt zu sein, trotzdem etwas mit der untersuchten Straftat zu tun haben könnte (vgl. Art. 178 Lit. d StPO). Der Auskunftsperson kommt deshalb ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht zu, weil sie in erster Linie eigene Interessen schützt (vgl. Art. 180 StPO). Der Zeuge wiederum ist an der Straftat nicht beteiligt, weshalb er grds. zum wahrheitsgemässen Zeugnis verpflichtet ist (vgl. Art. 163 Abs. 2 StPO). Er hat ein beschränktes Zeugnisverweigerungsrecht, z.B. wenn er gegen eine nahestehende Person aussagen müsste und insofern in einem Interessenkonflikt stünde (vgl. Art. 168 StPO).

E.1.3.ff. zur Hinweispflicht bei der ersten Einvernahme:

Die Rechtsbelehrung zu Beginn einer Einvernahme hängt von der Stellung einer Person im Verfahren ab. Die unterschiedlichen Mitwirkungsverweigerungs-rechte der Auskunftsperson einerseits und der Zeugin oder des Zeugen andererseits beruhen auf anderen Prämissen und verfolgen andere Ziele. Während das Aussageverweigerungsrecht der Auskunftsperson deren eigene Interessen im Verfahren schützt, betrifft das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen nicht den Schutz der befragten, sondern den Schutz der beschuldigten Person. Der Zeuge soll insofern davor geschützt werden, dass er sich zwischen einem strafbaren Falschzeugnis zugunsten der beschuldigten Person oder einem Zeugnis, dass schlimmstenfalls ein Familienmitglied belastet, entscheiden muss. Nun gibt es Konstellationen, in welchen eine Auskunftsperson aber sogleich auch Zeuge sein könnte. Gemäss BGer ist es deshalb unerlässlich, dass die zu befragende Person über beide Arten der Mitwirkungsverweigerungsrechte zu belehren ist, wenn ihr als Auskunftsperson zusätzlich zum allgemeinen Aussageverweigerungsrecht ein spezifisches Zeugnisverweigerungsrecht, z.B. als naher Angehöriger zukommt (E. 1.3.1.).

Die Lehre schliesst sich dem an und unterscheidet zwischen zwei Arten von Auskunftspersonen, einerseits der „normalen“ und andererseits dem sog. „Quasi-Zeugen“. Ist von Anfang an klar, dass der Auskunftsperson in materieller Hinsicht auch Zeugenstellung zukommt, so muss sie über die entsprechenden Zeugnisverweigerungsrechte belehrt werden (E. 1.3.2.).

Einvernahmen unterstehen einem strengen Beweisverwertungsverbot, wenn die entsprechende Rechtsbelehrung zu Beginn einer Einvernahme nicht erfolgte. Wird eine Auskunftsperson als „Quasi-Zeuge“ von der Polizei nicht über die Zeugnisverweigerungsrechte aufgeklärt, ist die Einvernahme unverwertbar (E. 1.3.3).

Vorliegend wurde die Ehegattin als Auskunftsperson einvernommen und entsprechend über ihre Rechte aufgeklärt. Ihr kommt aber als „Quasi-Zeugin“ ebenfalls das Zeugnisverweigerungsrecht zu, worüber sie nicht aufgeklärt wurde. Die Einvernahme ist unverwertbar.