Pflichten beim Überholen

BGE 6B_1325/2018:

Mit dieser graubündnerischen und vom BGer bestätigten Rechtsauffassung wird das Überholen in den Bergen wohl faktisch verunmöglicht. Der Beschwerdeführer überholte bei Schiers ein anderes Fahrzeug. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, dass die überschaubare Strecke zu kurz gewesen sei, um das Überholmanöver gefahrlos durchzuführen. Das BGer weist die Beschwerde gegen die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung ab.

E. 1.2. zum Sachverhalt: Zunächst dreht sich alles um die Entfernungen. Damit ein Überholmanöver korrekt ist, muss zwischen dem Überholenden und dem entgegenkommenden Fahrzeug ein Abstand von mind. zwei Sekunden bestehen im Moment, wo der Überholende nach Abschluss des Manövers wieder komplett auf seine Spur gewechselt hat. Vorliegend betrug der Abstand allerdings lediglich 1.5s, was die Vorinstanz willkürfrei annehmen durfte.

E. 2 zur groben Verkehrsregelverletzung: Zunächst äussert sich das BGer zu den allseits bekannten Voraussetzungen von Art. 90 Abs. 2 SVG (E. 2.1.1). Überholen und Vorbeifahren an Hindernissen ist gemäss Art. 35 Abs. 2 SVG nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Überholen auf Strassen mit Gegenverkehr ist extrem gefährlich. Nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem Zeitpunkt zurücklegt, wo der Überholende die linke Strassenseite freigegeben haben wird (E. 2.1.2). Vorliegend entstand durch die (zu) kurze einsehbare Strecke und die Unterschreitung des Mindestabstandes von zwei Sekunden zum Gegenverkehr eine ernstliche Gefahr. Wer in einer solchen Situation überholt, verhält sich rücksichtslos (E. 2.2.1). Die Verurteilung erfolgte zu Recht.

Bedenkt man, dass man beim Nachfahren einen Sicherheitsabstand von zwei Sekunden haben muss, aber auch nicht zu früh wieder auf seine Spur einbiegen darf wegen der Rücksicht gegenüber dem Überholten und man auch noch den zwei Sekundenabstand zum Gegenverkehr berechnen muss, können wir nur hoffen, dass wir die Menschen bald in Cyborgs umbauen können, die im Auge ein Laserdistanzmessgerät haben und gleichzeitig einen Taschenrechner in der Birne, damit die Überholstrecken einwandfrei berechnet werden können.

Ungerechtfertigte Parkbusse

BGE 6B_422/2018:

Eine Laienbeschwerde ist vor BGer erfolgreich. Die Beschwerdeführerin parkierte zweimal Ihr Auto auf dem Besucherparkplatz des Grundstückes in Genf, wo sie auch eine Wohnung gemietet hat. Dies ist gemäss Reglement der Immobilie verboten. Von den kantonalen Instanzen ist sie wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit einer Busse von CHF 120.00 verurteilt worden. Das BGer heisst die Beschwerde gut.

E. 1.4. zum Sachverhalt: Die Vorinstanz hat willkürfrei angenommen, dass die Beschwerdeführerin wusste, dass sie auf dem Besucherparkplatz als Mieterin nicht parkieren darf.

E. 2. zur Rechtslage: Die Beschwerdeführerin rügt, dass sie gegen kein Gesetz verstossen hat. Zunächst fragt sich das BGer, ob das SVG auf dem Parkplatz anwendbar ist. Zwar liegt dieser auf einem Privatgrundstück. Da er aber einem unbestimmten Personenkreis zur Verfügung steht, findet das SVG Anwendung. Art. 90 SVG bestraft jene, die gegen das SVG oder seine Vollziehungsvorschriften verstossen. Die Vorinstanz begründete die Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit kantonalen Bestimmungen, was aber nicht möglich ist (E. 2.2). Auch fällt eine Widerhandlung gegen Art. 30 Abs. 1 SSV ausser Betracht, weil eine entsprechende Verbotstafel fehlt. Auch ein gerichtliches Parkverbot nach Art. 258ff. ZPO fehlt.

Die Beschwerdeführerin hat sich nicht strafbar gemacht. Der kantonale Entscheid wird aufgehoben.

Lockerung beim Abstand?

Die Rechtsprechung zum Abstand ist allseits bekannt. Der Entscheid liefert auch nichts essentiell Neues. Liest man ihn aber genauer, bietet die Begründung evtl. ein Anknüpfungspunkt für die Verteidigung in jenen Fällen, in welchen ein anderes Auto vor das eigene fährt und dadurch der Abstand verkürzt wird.

BGE 6B_1227/2018: Abstand

E. 2.3. zum Vorwurf der Anklage:

„Ebenso verhält es sich, wenn das vorausfahrende Fahrzeug wie vorliegend mit zu geringem Abstand vor dem dahinterfahrenden Fahrzeug einschwenkt. Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer nicht das Entstehen des ungenügenden Abstands vor, sondern die Tatsache, in der Folge keinen genügenden Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug hergestellt zu haben. Ob der Beschwerdeführer im darauffolgenden Streckenverlauf an einer Stelle abbremste, wie er dies vorbringt, ist für den Verstoss gegen Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 VRV nicht entscheidend. Für den strafrechtlichen Vorwurf relevant ist der fehlende ausreichende Abstand, der vorliegend hinreichend erstellt ist, und der vom Beschwerdeführer auch nicht in Zweifel gezogen wird. Selbst wenn mit der Darstellung des Beschwerdeführers davon auszugehen wäre, dass er die Bremsen mindestens einmal in der Folge betätigte, so bremste er jedenfalls nicht genügend ab, um einen ausreichenden Abstand herzustellen. Dies ist aus dem über längere Zeitdauer fehlenden ausreichenden Abstand zu schliessen, der mit dem Überwachungsvideo ohne Zweifel beweisbar ist.“

Der Entscheid impliziert, dass ein kurzer Verstoss gegen die Strassenverkehrsregeln straflos sein müsste, wenn ein anderes Auto z.B. durch einen Spurwechsel den Abstand verkürzt, sofern man sofort versucht, den Abstand wiederherzustellen.

Das Risiko beim Sport

BGE 6B_261/2018: Todesfall im Radrennsport

An einem Amateurradrennen kam es bei einer Abfahrt mit ca. 70km/h zu einer Streifkollision zwischen zwei Velofahrer, wobei der Überholte zu Fall kam und infolge eines Schädelhirntraumas verstarb. Drei nachfolgende Fahrer stürzten ebenfalls und verletzten sich dabei. Der Überholende und Beschwerdegegner wurde vor erster Instanz wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung verurteilt. Das Obergericht des Kt. AG sprach den Beschwerdegegner hingegen frei. Dagegen wehren sich die Erben des Verstorbenen und weitere Zivilkläger sowie die Staatsanwaltschaft vor Bundesgericht. Dieses weist die Beschwerde ab und heisst damit den Freispruch gut.

E. 3 zum Sachverhalt: Zunächst rügen die Beschwerdeführer eine willkürliche Feststellung des Sachverhaltes. Es ist strittig, wie heftig die Berührung/Kollision zwischen dem Beschwerdegegner und dem Verstorbenen war. Die Vorinstanz kam willkürfrei zum Schluss, dass die Berührung zwischen den beiden Radfahrern nicht kraftvoll war.

E. 5 zur Sorgfaltspflichtsverletzung: Die Verurteilung wegen einem Fahrlässigkeitsdelikt setzt eine Sorgfaltspflichtsverletzung voraus. Eine solche liegt vor, wenn der wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat auf Grund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen, und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Das Mass der Sorgfalt richtet sich Normen, die der Unfallverhütung und Sicherheit dienen. Wenn solche fehlen können private Regelungen herangezogen werden oder letztlich auch der allgemeine Gefahrensatz. Grundsätzlich gilt, dass derjenige, der eine Gefahr schafft, zu verhindern hat, dass Dritte dadurch verletzt werden. Allerdings müssen die Schutzmassnahmen dafür zumutbar sein. Eine weitere Schranke der Sicherungspflicht liegt in der Eigenverantwortung des einzelnen Sportlers. Jedem steht es frei, beim Sport gewisse Risiken auf sich zu nehmen. Insb. im Sport können Schutzmassnahmen keine völlige Gefahrenfreiheit garantieren. Sie sollen vielmehr die Gefahren auf ein erträgliches Mass beschränken. Jede Sportart birgt in sich ein unterschiedlich hohes sportartspezifisches Grundrisiko. Bei Realisierung des sportartspezifischen Grundrisikos ist von der strafrechtlichen Ahndung abzusehen. Beim Radsport besteht durchaus das Risiko von schweren Verletzungen oder gar dem Tod (E. 5.1).

Die Beschwerdeführer rügen, dass Art. 35 Abs. 3 SVG nicht analog angewendet wurde. Da das Radrennen gemäss Art. 52 Abs. 2 SVG polizeilich bewilligt war und auf einer abgesperrten Strassen stattfand, kommt das SVG gemäss Art. 1 Abs. 2 SVG nicht zur Anwendung. Verkehrsregeln können aber trotzdem analog herangezogen werden, wenn es um die Beurteilung eines sicherheitsrelevanten Verhaltens geht. Im Radrennsport wird die analoge Anwendung des SVG aber verneint wegen dem Wettkampfcharakter der Veranstaltungen. Die Wettkampfmanöver wie Überholen sind in besonderem Masse von Wettkampfcharakter geprägt und nicht mit üblichem Strassenverkehr vergleichbar. Insofern kann von den Rennfahrern nicht die gleiche Sorgfalt verlangt werden, wie dies im normalen Strassenverkehr der Fall wäre (E. 5.2). Dies dürfte auch für andere Rennsportarten gelten.

Sodann setzt sich das BGer mit dem Reglement des Schweizerischen Radsportverbandes auseinander. Dieses enthält keine ausdrücklichen Regelungen zum Überholen. Die Vorinstanz befragte deshalb verschiedene Personen zu den Usanzen beim Überholen im Radrennsport. Nach diesen Aussagen seien Berührungen zwischen Radrennfahren nicht aussergewöhnlich, auch nicht bei hohen Tempi. Auch würden beim Windschattenfahren sehr kleine Abstände gewahrt, die im Notfall kaum Zeit für adäquate Reaktionen zuliessen. Insofern sei mit der vorliegenden Berührung das sportartspezifische Risiko nicht überschritten worden. Das BGer stützt diese Ansicht, insb. auch mit Verweis auf die Eigenverantwortung jedes Sportlers, risikoreiche Sportarten zu betreiben.

Vorliegend hat sich also in tragischer Weise ein Grundrisiko des Radsportes verwirklicht, welches jeder Sportler in Kauf nimmt. Insofern wurde die Grenze des erlaubten Risikos nicht überschritten und der Freispruch erfolgte zu Recht.

Die Pflichten nach dem Unfall

Zwei Urteile zu den Pflichten des Autofahrers nach einem Unfall. BGE 6B_626/2018 befasst sich mit den Pflichten nach Sachschaden, BGE 6B_575/2018 mit jenen nach einem Personenschaden.

In BGE 6B_626/2018 fuhr der Beschwerdeführer in ein von der Feuerwehr aufgestelltes Absperrgitter. Nach dem Unfall liess der Beschwerdeführer zwar sein Kontrollschild fotografieren, unterliess es aber, der Feuerwehr seine Personalien anzugeben. Er wehrt sich gegen eine Bestrafung gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG.

E. 1.3/4 zu den Pflichten: Gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG muss der Verursacher dem Geschädigten sofort Namen und Adresse angeben. Ist dies nicht möglich, muss er die Polizei verständigen. Die Angabe des Kontrollschildes alleine reicht nicht aus, zumal Halter und Lenker nicht unbedingt die gleiche Person sein muss. Selbst wenn dies zuträfe, ist es nicht Sache des Geschädigten, nach dem Namen und dem Wohnsitz des Beteiligten zu forschen (E. 1.3.1). Der Schädiger muss den Geschädigten über den entstandenen Schaden unterrichten und ihm Namen und Adresse unaufgefordert mitteilen. Die Anzeige hat sofort (unverzüglich) nach dem Unfall zu erfolgen, d.h. so rasch als dies dem Schädiger nach den Umständen zuzumuten ist (E. 1.4.1).

Der Beschwerdeführer gab vor Ort nur sein Kontrollschild an bzw. liess dieses fotografieren. Auch nachdem der Beschwerdeführer, der kein Mobiltelefon besitzt, zuhause ankam, unterliess er es, die ihm bekannte geschädigte Partei zu informieren. Er wurde erst ca. 40min später anhand des fotografierten Kontrollschildes durch die Polizei aufgesucht und identifiziert. Weder gab er vor Ort seine Personalien an, noch verständigte er unverzüglich die geschädigte Partei, als ihm dies möglich war. Die Beschwerde wird abgewiesen.

In BGE 6B_575/2018 beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Frage, ab wann eine Verletzung vorliegt, die für eine Führerflucht vorausgesetzt ist. Der Beschwerdeführer kollidierte mit einem Kind auf dem Fussgängerstreifen. Er gab der Mutter des Kindes seine Adresse bekannt, die Polizei hat er allerdings erst am Folgetag über den Unfall benachrichtigt. Der Beschwerdeführer wehrt sich gegen die Verurteilung nach Art. 92 Abs. 2 SVG.

E. 2.2-4 zur Verletzung: Art. 51 Abs. 2 SVG stipuliert, dass im Falle eines Personenschadens den Verletzten zu helfen ist, die Polizei gerufen werden muss und sich die Beteiligten ohne Erlaubnis der Polizei nicht entfernen dürfen. Nach einem Zusammenstoss zwischen Mensch und Maschine ist von einem Verkehrsunfall auszugehen (E. 2.1). Es stellt sich die Frage, ab wann jemand als verletzt gilt. Art. 55 VRV konkretisiert die Regeln bei Personenschäden. Die Polizei muss gemäss Abs. 1 sofort benachrichtigt werden, ausser es liegen gemäss Abs. 2 nur geringfügige Prellungen oder Schürfungen vor. Allerdings liegt auch in diesen Situationen nach der Lehre und Rechtsprechung eine Verletzung im Sinne eines Personenschadens vor. Nur absolut geringfügige, praktisch bedeutungslose Schäden, denen kaum Beachtung geschenkt werden müsse, mache einen Beizug der Polizei nicht nötig. Ein Erschrecken alleine reicht nicht für eine Verletzung aus (E. 2.2.1/2). Da vorliegend die Kollision relativ heftig war, durfte der Beschwerdeführer nicht davon ausgehen, dass nur unbeachtliche Schäden vorlagen.

E. 2.5 zur Flucht: Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass er nicht geflüchtet sei. Die Flucht setzt allerdings kein krasses Fehlverhalten voraus. Eine Flucht ist bereits gegeben, wenn man seinen Pflichten nicht nachkommt, z.B. indem man sich ohne die Polizei zu rufen vom Unfallort entfernt.

Diese Rechtsprechung macht die Regelung in Art. 55 Abs. 2 VRV bis zu einem gewissen Grad obsolet. Im Zweifelsfalle ist dem Autofahrer zu empfehlen, dass er die Polizei hinzuzieht, wenn irgendwie die Möglichkeit besteht, dass sich jemand beim Unfall verletzt hat.

Drogenschnelltest bei der Polizeikontrolle

BGE 6B_598/2018:

Der Beschwerdeführer widersetzte sich bei einer Polizeikontrolle einem Drogenschnelltest und wurde dafür wegen Vereitelung verurteilt. Neben div. Rügen über die Zusammensetzung der Gerichte sowie den Strafprozess rügt der Beschwerdeführer, dass Art. 91a SVG gegen das Selbstbelastungsverbot verstösst und Drogenschnelltests nicht von der Polizei, sondern von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden müssen.

E. 3 zum Vereiteln: Art. 91a SVG soll verhindern, dass der korrekt sich einer Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit unterziehende Fahrzeugführer schlechter wegkommt als derjenige, der sich ihr entzieht oder sie sonstwie vereitelt. Gemäss Art. 55 Abs. 1 SVG kann die Polizei ohne Verdachtsmomente Fahrzeugführer einer Atemalkoholprobe unterziehen. Bei Anzeichen auf Fahrunfähigkeit, die nicht auf Alkohol zurückzuführen sind, können weitereVoruntersuchungen durchgeführt werden, z.B. Urin- und Speichelproben. Nach Art. 10 Abs. 2 SKV führt die Polizei solche Vortests durch (E. 3.1).

Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass solche Vortests von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden müssen, weil ein Anfangsverdacht vorausgesetzt ist (E. 3.3). Das BGer hat darauf hingewiesen, dass Art. 10 Abs. 2 SKV eine Anordnungskompetenz enthält. Die Lehre wiederum ist gespalten (E. 3.2). Polizeiliche Kontrollen im Strassenverkehr ohne Tatverdacht sind Handlungen im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Kontrolltätigkeit. Fraglich ist, ob die nach Art. 10 Abs. 2 SKV erforderlichen Hinweise auf Fahrunfähigkeit im Sinne eines hinreichenden Tatverdachts nach Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO auszulegen sind.  

Nach der Rechtsprechung genügen für die Durchführung eines Vortests nach Art. 10 Abs. 2 SKV bereits geringe Anzeichen für eine durch Betäubungs- oder Arzneimittel beeinträchtigte Fahrfähigkeit, wie beispielsweise ein blasser Teint und wässrige Augen. Nicht zulässig ist eine Voruntersuchung, welche einzig auf der Kenntnis des früheren Drogenkonsums basiert. Art. 55 SVG hat generalpräventive Wirkung. Zudem geht es in Abs. 2 „nur“ um Voruntersuchungen, deren Eingriffsintensität beschränkt ist. Es wird nicht, wie etwa bei der Blutprobe, in die körperliche Integrität der betroffenen Person eingegriffen. Aus diesem Grund sind die von Art. 10 Abs. 2 SKV geforderten Hinweise nicht nicht mit einem hinreichenden Tatverdacht im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO gleichzusetzen. Die Polizei ist befugt, solche Vortests anzuordnen. Erst wenn durch den Vortest aus den Hinweisen ein hinreichender Tatverdacht wird, braucht es eine Anordnung der Staatsanwaltschaft zur Durchführung weiterer Zwangsmassnahmen, i.e. Blutprobe (E. 3.5).

Art. 91a SVG verstösst auch nicht gegen das Verbot des Selbstbelastungszwanges. Als Halter und Lenker eines Strassenfahrzeuges hat man gegenüber den Behörden gewisse Obliegenheiten, worunter auch Auskunftspflichten fallen. Der EGMR in seiner Rechtsprechung ausdrücklich festgehalten, dass die Selbstbelastungsfreiheit nicht berührt ist, wenn es um die Entnahme von Beweismitteln wie Blut, Atem, Urin usw. geht, die auch ohne den Willen der beschuldigten Person erlangt werden können (E. 3.6).

Das BGer weist die Beschwerde ab, wobei interessant ist, dass die Hälfte der Verfahrenskosten direkt dem Rechtsvertreter auferlegt, weil dieser das BGer wiederholt mit denselben Rügegründen beschäftigt hat.

Was ist genau eine Einspurstrecke?

BGE 6B_216/2018:

Die Strafbehörden werfen dem Beschwerdeführer vor, auf der Autobahn rechts überholt zu haben. Dieser entgegnet, dass er sich auf einer Einspurstrecke befunden habe, auf welcher man rechts überholen darf.

E. 1 zur Einspurstrecke: Eine Einspurstrecke ist ein Fahrstreifen, der zum Einspuren bestimmt ist und mit Einspurtafeln, die ein Fahrziel angeben, gekennzeichnet ist (E. 1.3). Nach Art. 35 Abs. 1 SVG muss links überholt werden, woraus das Rechtsüberholverbot abgeleitet wird. “ Überholen liegt vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein in gleicher Richtung langsamer vorausfahrendes einholt, an ihm vorbeifährt und vor ihm die Fahrt fortsetzt, wobei weder das Ausschwenken noch das Wiedereinbiegen eine notwendige Voraussetzung des Überholens bildet“. Gemäss Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV darf man aber auf Einspurstrecken rechts an anderen Fahrzeugen vorbeifahren, sofern für die einzelnen Fahrstreifen unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind (E. 1.4). Der Beschwerdeführer ist dabei der Ansicht, dass pro Fahrstreifen auch mehrere Ziele signalisiert werden können. Dem widerspricht das Bundesgericht. Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV muss im Lichte des Rechtsüberholverbots eng ausgelegt werden, da Rechtsüberholen nach wie vor eine ernstliche Gefahr für den Verkehr darstellt (E. 1.6). Deshalb kann die Ausnahme von Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV nur gelten, wenn ausschliesslich ein Fahrziel auf der Einspurstrecke signalisiert ist, weil nur dann davon ausgegangen werden kann, dass der linksfahrende nicht doch einen Spurwechsel auf seine Normalspur vornehmen wird.

E. 2 zum Verbotsirrtum: Der Beschwerdeführer macht geltend, dass er einem Rechtsirrtum unterlegen ist. Der Irrtum darf dabei nicht vermeidbar sein. „Von Inhabern eines Führerausweises wird grundsätzlich erwartet, dass sie die Verkehrsregeln kennen. Liegen Zweifel an der Rechtmässigkeit eines Manövers vor, ist dieses nicht vorzunehmen.“ Mit dieser Argumentation dürfte wohl jeder Irrtum über die Strassenverkehrsregeln vermeidbar sein.

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Der unaufmerksame Fussgänger (gutgh. Beschwerde)

BGE 6B_1294/2017

Im Dezember 2014 überfuhr der Beschwerdeführer bei schlechten Wetter- und Sichtverhältnissen einen Fussgänger, wofür er von den kantonalen Instanzen wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Das BGer hingegen heisst seine Beschwerde gut.

E. 1.1./2. zu den Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Vertrauensgrundsatz und rügt, dass er nicht damit habe rechnen müssen, dass ein Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn tritt, wo es keinen Fussgängerstreifen hat. Konkrete Anzeichen für ein Fehlverhalten des Fussgängers habe es nicht gegeben. Die Vorinstanz hingegen geht davon aus, dass der Beschwerdeführer den Fussgänger hätte bemerken und schon früher bremsen müssen.

E. 1.3.-5. zum Rechtlichen: Der Autofahrer muss sein Fahrzeug gemäss Art. 31 SVG stets so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Nach dem Vertrauensgrundsatz in Art. 26 SVG darf er aber davon ausgehen, dass sich sämtliche Verkehrsteilnehmer korrekt verhalten. Wo es keine Fussgängerstreifen hat, ist der Autofahrer gegenüber dem Fussgänger grds. vortrittsberechtigt (vgl. Art. 47 Abs. 5 VRV). „Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen.“

E. 1.6./7. Zur Subsumption: Der Fussgänger überquerte die Fahrbahn 6.5m vor dem Fussgängerstreifen. Er hörte Musik und war unaufmerksam. Die Witterungs- und Sichtverhältnisse waren schlecht, der Fussgänger war dunkel gekleidet. Der Beschwerdeführer hingegen machte trotz Ortskundigkeit keine Kontrollblicke nach links und rechts. Er sah den Fussgänger erst, als dieser auf der Fahrbahn war. Allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass der Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn treten würde. Insofern liegt i.c. keine Sorgfaltspflichtsverletzung vor. Zwischen dem Betreten der Fahrbahn und der Kollision liegen lediglich 0.8 Sekunden, was nicht einmal der durchschnittlichen Reaktionszeit von einer Sekunde entspricht. Es gab keine Kommunikation zwischen den beiden Verkehrsteilnehmern, da der Fussgänger mit dem Rücken zum Beschwerdeführer lief. Das blosse Vorhandensein von erwachsenen Fussgängern auf dem Trottoir erfordert kein Bremsmanöver. Kausale Ursache für den Unfall war das unvorhersehbare Beschreiten der Fahrbahn durch den Fussgänger, womit der Unfall für den Beschwerdeführer nicht vermeidbar war. Der Autofahrer wird freigesprochen.

Diabetes und Fahrunfähigkeit

BGE 6B_1450/2017: Verkehrsunfall wegen Diabetes (Gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer ist Diabetiker. Im September 2016 verursachte er einen Unfall. Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau warf ihm Fahren in fahrunfähigem Zustand vor, weil er vor der Abfahrt seinen Blutzuckerwert nicht gemessen habe. Das Bezirksgericht sprach in frei, das Obergericht hingegen hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft gut. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

E. 1.1 Meinung des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz hat ihren Schuldspruch lediglich mit Richtwerten aus einem Merkblatt für Fahrzeuglenker mit Diabetes mellitus des Kantonsspitals Aarau und aus Richtlinien bezüglich Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) begründet. Eine konkrete Einzelfallabklärung habe die Vorinstanz aber unterlassen, v.a. weil Sie einen Blutzuckerwert von 5 mmol/l als Minimum für Fahrtauglichkeit einsetzt. Der Beschwerdeführer fühlte sich vor der Fahrt gut und fahrfähig. Zudem hat er vor der Fahrt noch ein Langzeit-Insulin eingenommen.

E. 1.2. Meinung der Vorinstanz: Das Obergericht war der Meinung, dass der Beschwerdeführer mind. eventualvorsätzlich handelte, da er vor der Fahrt einen Blutzuckerwert von 4.8mmol/l gemessen hatte und keine Vorsichtsmassnahmen getroffen habe.

E. 1.3 Meinung des Bundesgerichts: Die Vorinstanz hat nicht gewürdigt, dass der Beschwerdeführer vor Fahrtbeginn ein Langzeit-Insulin eingenommen hat. Zudem hat sie die Richtlinien für Diabetiker generell angewendet und nicht auf den vorliegenden Einzelfall abgestimmt (vgl. auch BGE 1C_840/2013 E. 2.2). Aus diesen Gründen ist der vorinstanzliche Schuldspruch bundesrechtswidrig.

Da hat das Obergericht relativ schludrig gearbeitet und den Sachverhalt willkürlich festgestellt.

Keine Ordnungsbussen für juristische Personen

Urteil 6B_252/2017: Keine Ordnungsbussen für die Firma (gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid dreht sich um die Frage, ob juristische Personen aufgrund der im Ordnungsbussengesetz stipulierten Halterhaftung zu Übertretungsbussen verdonnert werden können, wenn sie den Lenker des auf sie eingelösten Fahrzeug nicht bezeichnen können.

E. 1. zur Halterhaftung: Zunächst beschäftigt sich das BGer damit, ob die Halterhaftung gemäss Art. 6 OBG gegen die Unschuldsvermutung und damit gegen Art. 6 EMRK verstösst. Dieser garantiert ein faires Verfahren und zwingt damit die Anklagebehörde grds. die erforderlichen Beweismittel zu erbringen (E. 1.2.1). Die Unschuldsvermutung gilt allerdings nicht absolut. Bei leichteren Widerhandlungen, die mit geringen Bussen bestraft werden, verstösst eine Halterhaftung nicht gegen Art. 6 EMRK, solange die EMRK-Vertragsstaaten innerhalb vernünftiger Grenzen bleiben (vgl. O’Halloran und Francis gegen Grossbritannien, Urteil vom 29. Juni 2007; Falk gegen Niederlande, Urteil vom 19. Oktober 2004; E. 1.2.2).

Fahrzeughalter akzeptieren grds. die Strassenverkehrsgesetzgebung, aus welcher sich gewisse Obliegenheiten ergeben, z.B. Auskunftspflichten gegenüber Behörden. Weigert sich der Halter, den Lenker anzugeben, kann man ihn nicht dazu zwingen, er hat aber die Konsequenzen daraus zu tragen (E. 1.2.3). Einem Fahrzeughalter ist zuzumuten, die Identität der Person zu kennen, der er sein Fahrzeug anvertraut. Dies gilt auch für juristische Personen. Es entspricht denn auch dem Willen des Gesetzgebers, die Verantwortung des Fahrzeughalters zu stärken und die Behörden von aufwändiger, unverhältnismässiger Ermittlungsarbeit im Bereich ausgesprochener Bagatelldelikte, wie sie im Ordnungsbussenverfahren beurteilt werden, zu entlasten (vgl. E. 1.3.1).

Art. 6 EMRK wird durch die Halterhaftung des OBG nicht verletzt.

E. 2. zur Haltereigenschaft: Die Beschwerdeführerin rügt, dass sie als juristische Person gar kein Auto fahren könne und schon deshalb nicht strafbar sei. Für die Halterhaftung ist gemäss der Rechtsprechung auf den formellen Halterbegriff abzustellen (vgl. Urteil 6B_432/2017 E. 2.2). Da die Beschwerdeführerin im Fahrzeugausweis eingetragen ist, gilt sie als Halterin nach OBG.

E. 3. zur Strafbarkeit des Unternehmens: Gemäss Art. 102 StGB werden Unternehmen Straftaten zugerechnet, wenn sie aufgrund mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner natürlichen Person zugerechnet werden können, wobei nur Verbrechen und Vergehen genannt werden. Bei Übertretungen haften juristische Personen nur, wenn dies ausdrücklich im Gesetz geregelt ist (E. 3.1.1). Im Strafrecht muss das Legalitätsprinzip streng angewendet werden. Ohne Gesetz gibt es keine Strafe („nulla poena sine lege“; Art. 1 StGB). Ebenso enspringt dem Legalitätsprinzip das Bestimmtheitsgebot, das besagt, dass Strafnormen so präzise fomuliert sein müssen, dass sich ein Durchschnittsbürger danach auch richten kann („nulla poena sine lege certa“). Der Gesetzgeber wollte mit Art. 6 OBG den Halter bei geringen Straftaten im Verkehr in die Pflicht nehmen. Eine ausdrückliche Bestrafung von juristischen Personen für Übertretungen wird darin aber nicht stipuliert. Insofern verletzt eine Ordnungsbusse, welche einer juristischen Person auferlegt wird, das Legalitätsprinzip (E. 3.2).

Mangels gesetzlicher Grundlage können juristische Personen damit nicht mit verkehrsrechtlichen Ordnungsbussen bestraft werden.