Der unaufmerksame Fussgänger (gutgh. Beschwerde)

BGE 6B_1294/2017

Im Dezember 2014 überfuhr der Beschwerdeführer bei schlechten Wetter- und Sichtverhältnissen einen Fussgänger, wofür er von den kantonalen Instanzen wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt wurde. Das BGer hingegen heisst seine Beschwerde gut.

E. 1.1./2. zu den Meinungen der Parteien: Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Vertrauensgrundsatz und rügt, dass er nicht damit habe rechnen müssen, dass ein Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn tritt, wo es keinen Fussgängerstreifen hat. Konkrete Anzeichen für ein Fehlverhalten des Fussgängers habe es nicht gegeben. Die Vorinstanz hingegen geht davon aus, dass der Beschwerdeführer den Fussgänger hätte bemerken und schon früher bremsen müssen.

E. 1.3.-5. zum Rechtlichen: Der Autofahrer muss sein Fahrzeug gemäss Art. 31 SVG stets so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Nach dem Vertrauensgrundsatz in Art. 26 SVG darf er aber davon ausgehen, dass sich sämtliche Verkehrsteilnehmer korrekt verhalten. Wo es keine Fussgängerstreifen hat, ist der Autofahrer gegenüber dem Fussgänger grds. vortrittsberechtigt (vgl. Art. 47 Abs. 5 VRV). „Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen.“

E. 1.6./7. Zur Subsumption: Der Fussgänger überquerte die Fahrbahn 6.5m vor dem Fussgängerstreifen. Er hörte Musik und war unaufmerksam. Die Witterungs- und Sichtverhältnisse waren schlecht, der Fussgänger war dunkel gekleidet. Der Beschwerdeführer hingegen machte trotz Ortskundigkeit keine Kontrollblicke nach links und rechts. Er sah den Fussgänger erst, als dieser auf der Fahrbahn war. Allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass der Fussgänger unvermittelt auf die Fahrbahn treten würde. Insofern liegt i.c. keine Sorgfaltspflichtsverletzung vor. Zwischen dem Betreten der Fahrbahn und der Kollision liegen lediglich 0.8 Sekunden, was nicht einmal der durchschnittlichen Reaktionszeit von einer Sekunde entspricht. Es gab keine Kommunikation zwischen den beiden Verkehrsteilnehmern, da der Fussgänger mit dem Rücken zum Beschwerdeführer lief. Das blosse Vorhandensein von erwachsenen Fussgängern auf dem Trottoir erfordert kein Bremsmanöver. Kausale Ursache für den Unfall war das unvorhersehbare Beschreiten der Fahrbahn durch den Fussgänger, womit der Unfall für den Beschwerdeführer nicht vermeidbar war. Der Autofahrer wird freigesprochen.

Freizeitführerscheinentzug?

BGE 1C_178/2018: Ausnahmen für Selbstständigerwerbende? (Repetitorium)

Der Entscheid bringt eigtl. nichts Neues. Ist aber trotzdem interessant, dass es wieder mal jemand versucht hat. Dank zwei schweren Widerhandlungen droht dem Beschwerdeführer ein 12-monatiger Kaskadenentzug. Der Beschwerdeführer verlangt den Verzicht des Entzuges und die Auflage, dass er nur zu beruflichen Zwecken ein Fahrzeug führen darf.

E. 2.2 zur Meinung des Beschwerdeführers: Dieser sieht sich als selbstständiger Bodenleger ohne Angestellte mit einer höchst unverhältnismässigen Massnahme konfrontiert, die einem Berufsverbot gleich komme. Aus diesem Grund verlangt er den Vollzug der Massnahme mittels der obigen Auflage.

E. 3 zur Meinung des Bundesgerichts: Ein auf die Freizeit beschränkter Entzug entfaltet nach dem gesetzgeberischen Willen nicht die erwünschte erzieherische Wirkung (E. 3.1). Eine Praxisänderung ist aus diesen Gründen nicht angezeigt, insb. weil der Gesetzgeber mit der Entzugskaskade genau die strenge Sanktionierung von Wiederholungstätern erreichen wollte (E. 3.2). Die Massnahme sei auch nicht unverhältnismässig hart, er könne ja einen Chauffeur anstellen. Zudem würden Berufschauffeure noch härter getroffen und auch bei diesen gibt es keine Ausnahmen (E. 3.3).

Eine Änderung zu Gunsten von Berufstätigen ist nur auf dem politischen Parkett erreichbar.

Beschleunigungsgebot

BGE 1C_190/2018: Lange Verfahrensdauer

Wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 39km/h innerorts im Jahr 2009 drohte dem Beschwerdeführer kaskadenbedingt ein 12-monatiger Ausweisentzug. Nachdem das Strafverfahren (vorerst) vor zweiter Instanz im Mai 2014 rechtskräftig abgeschlossen wurde, verfügte das Strassenverkehrsamt die erwähnte Massnahme. Dagegen reichte der Beschwerdeführer Rekurs ein und verlangte im Strafverfahren zugleich die Revision des zweitinstanzlichen Entscheides. Die Rekurskommission sistierte daraufhin das Verfahren. Die Revision wurde abgewiesen, was das BGer im Januar 2016 bestätigte. Im Oktober 2017 nahm die Rekurskommission ihre Arbeit wieder auf und bestätigte den Ausweisentzug. Dagegen wehrt sich der Beschwerdeführer. Nach seiner Ansicht sei das Beschleunigungsgebot verletzt, da die ganze Geschichte 9 Jahre und 3 Monate dauerte.

E. 3 zur Meinung der Parteien: Zunächst stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass die Verjährungsregelungen des StGB im Administrativrecht analog angewendet werden müssen. Zudem hätte eine Warnmassnahme aufgrund der langen Verfahrensdauer keine erzieherische Wirkung mehr. Gemäss dem vorinstanzlichen Entscheid besteht kein Grund für einen Verzicht auf die Massnahme. Lediglich die Dauer vom Januar 2016 bis Oktober 2017 bis zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch die Rekurskommission sei zu lange gewesen. Allerdings sei dies nicht genug intensiv, um einen Massnahmeverzicht zu rechtfertigen.

E. 4 zur gefestigten Rechtsprechung: Die Unterschreitung der Mindestentzugsdauer ist seit der Revision des SVG vom 1.1.2005 nicht mehr möglich (vgl. Art. 16 Abs. 3 SVG). Die aktuelle Rechtslage widerspricht damit der Rechtsprechung von BGE 120 IB 504, nach welcher eine Unterschreitung noch möglich war. Offengelassen wurde bis jetzt, ob von einer Massnahme gänzlich abgesehen werden kann. Alle bisherigen Begehren wurden allerdings vom Bundesgericht abgelehnt.

E. 5 zur Meinung des Bundesgerichtes: Die Verfahrensdauer von 9 Jahren und 3 Monaten ist klar zu lang. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes kann aber nur dort geortet werden, wo die Rekurskommission die Wiederaufnahme des Verfahrens um ca. 20 Monate vertändelte. Allerdings rechtfertigt sich dadurch noch ein Massnahmeverzicht, zumal „der Beschwerdeführer ein vermindertes Interesse an einem raschen Entscheid hatte, da er sein Fahrzeug weiterhin lenken durfte“. Die restliche Verfahrensdauer ist auf die Erhebung der Rechtsmittel des Beschwerdeführers zurückzuführen und kann den Behörden nicht angelastet werden (E. 5.1).

Auch wenn die Widerhandlung weit zurückliegt, geht die erzieherische Wirkung nicht verloren – trotz zwischenzeitlichem Wohlverhalten. Eine schwere Verletzung des Beschleunigungsgebotes liegt auch nicht vor. Der Führerscheinentzug ist nicht bundesrechtswidrig.

Diabetes und Fahrunfähigkeit

BGE 6B_1450/2017: Verkehrsunfall wegen Diabetes (Gutgh. Beschwerde)

Der Beschwerdeführer ist Diabetiker. Im September 2016 verursachte er einen Unfall. Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau warf ihm Fahren in fahrunfähigem Zustand vor, weil er vor der Abfahrt seinen Blutzuckerwert nicht gemessen habe. Das Bezirksgericht sprach in frei, das Obergericht hingegen hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft gut. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

E. 1.1 Meinung des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz hat ihren Schuldspruch lediglich mit Richtwerten aus einem Merkblatt für Fahrzeuglenker mit Diabetes mellitus des Kantonsspitals Aarau und aus Richtlinien bezüglich Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) begründet. Eine konkrete Einzelfallabklärung habe die Vorinstanz aber unterlassen, v.a. weil Sie einen Blutzuckerwert von 5 mmol/l als Minimum für Fahrtauglichkeit einsetzt. Der Beschwerdeführer fühlte sich vor der Fahrt gut und fahrfähig. Zudem hat er vor der Fahrt noch ein Langzeit-Insulin eingenommen.

E. 1.2. Meinung der Vorinstanz: Das Obergericht war der Meinung, dass der Beschwerdeführer mind. eventualvorsätzlich handelte, da er vor der Fahrt einen Blutzuckerwert von 4.8mmol/l gemessen hatte und keine Vorsichtsmassnahmen getroffen habe.

E. 1.3 Meinung des Bundesgerichts: Die Vorinstanz hat nicht gewürdigt, dass der Beschwerdeführer vor Fahrtbeginn ein Langzeit-Insulin eingenommen hat. Zudem hat sie die Richtlinien für Diabetiker generell angewendet und nicht auf den vorliegenden Einzelfall abgestimmt (vgl. auch BGE 1C_840/2013 E. 2.2). Aus diesen Gründen ist der vorinstanzliche Schuldspruch bundesrechtswidrig.

Da hat das Obergericht relativ schludrig gearbeitet und den Sachverhalt willkürlich festgestellt.

Zweifel an den Zweifel?

BGE 1C_232/2018: Die ernsthaften Zweifel (teilw. gutgh. Beschwerde)

Das StVA BE entzog dem Beschwerdeführer vorsorglich den Fahrausweis, weil ein Arzt die Fahreignung verneinte aufgrund eines unkontrollierten Alkoholkonsums und einer maniformen Störung. Interessanterweise führte das ASTRA in einer Stellungnahme vor Bundesgericht aus, dass es fraglich sei, ob aufgrund einer ärztliche Meldung genügend begründete ernsthafte Zweifel für einen vorsorglichen Entzug bestünden.

E. 2 zu den Meinungen der Verfahrensbeteiligten: Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die Massnahme nicht verhältnismässig sei. Es fehle der Konnex zum Strassenverkehr (E. 2.1). Für das Strassenverkehrsamt hingegen ist eine ärztliche Meldung immer Grund genug, um ernsthaft an der Fahreignung einer Person zu zweifeln (E. 2.2).

E. 3 zur Fahreignungsabklärung: Die Grundregel lautet, dass im Falle der Anordnung einer Fahreignungsabklärung der FA vorsorglich entzogen werden muss, um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten (E. 3.1). Ernsthafte Zweifel liegen namentlich vor, in den Fällen von Art. 15d Abs. 1 lit. a-e SVG, also auch, wenn ein Arzt eine Meldung gemäss lit. e macht (E. 3.2). Die Meldungen von Ärzten können i.d.R. nicht angezweifelt werden, da zwischen diesen und den Patienten ein Vertrauensverhältnis vorliegt und solche Meldungen eher zurückhaltend gemacht werden (E. 3.3).

E. 4 zum vorsorglichen Entzug: Der Beschwerdeführer konnte bis jetzt zwischen Alkoholkonsum und Strassenverkehr trennen, ein verkehrsrelevanter Vorfall hat es insofern nie gegeben. Aus diesem Grund sind keine ernsthaften Zweifel vorhanden, welche einen vorsorglichen Ausweisentzug gemäss Art. 30 VZV rechtfertigen.

Die Meldung eines Arztes gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. e SVG hat eine Fahreigungsabklärung zur Folge. Liegt allerdings kein verkehrsrelevanter Vorfall vor, ist ein vorsorglicher Entzug unverhältnismässig. Der Entscheid relativiert etwas die behördliche Übermacht bzgl. Sicherheitsmassnahmen im Strassenverkehr, womit das ganze ein klein wenig verhältnismässiger wird.

 

Ist ein Ausweisentzug diskriminierend für körperlich Beeinträchtigte?

BGE 1C_184/2018: Ausweisentzug trotz körperlicher Beeinträchtigung

Der Beschwerdeführer ist körperlich beeinträchtigt. Er hat mit langsamer Geschwindigkeit einen Fussgänger angefahren und wehrt sich gegen die Annahme einer mittelschweren Widerhandlung. Strafrechtlich ist er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt worden.

E. 2 zur Winderhandlungsschwere: Auch mit langsamer Geschwindigkeit jemanden anzufahren, erfüllt ohne Weiteres den Tatbestand von Art. 16b SVG.

E. 3 zur Diskriminierung körperlich beeinträchtigter Personen: Der Beschwerdeführer bringt hervor, dass er durch den Ausweisentzug als in seiner Mobilität beeinträchtigte Person diskriminiert wird. Bereits in BGE 6A.38/2016 hat das BGer entschieden, dass ein dreimonatiger Entzug einen Paraplegiker nicht mehr belastet, als andere Personen. Die Auswirkungen der Massnahme sind hauptsächlich wirtschaftlicher Natur, indem man die Kosten für den ÖV bezahlen muss. Insofern sei eine körperlich beeinträchtigte Person nicht mehr belastet, als andere Personen, die durch die Massnahme aus persönlichen, geografischen, finanziellen oder auch wegen den Arbeitszeiten beschwert sind. Grds. kann die Mindestentzugsdauer nicht unterschritten werden, auch nicht bei Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind (E. 3.1).

Im Folgenden untersucht das BGer, ob eine indirekte Diskriminierung gemäss Art. 8 Abs. 2 BV vorliegen könnte. Diese liegt vor, wenn Zugehörige einer best. Personengruppe durch ein Gesetz einen Nachteil erleiden, ohne dass dies aus objektiver Sicht gerechtfertigt wäre. Durch seine persönliche Situation ist der Beschwerdeführer durch den Ausweisentzug sicher mehr betroffen, wie ein anderer Autofahrer. Er kann z.B. nicht zur etwa einen Km entfernten ÖV-Station gehen oder radeln. Diese Auswirkungen der Massnahme treffen aber nicht nur Handikapierte. Auch andere Bürger, z.B. altersbedingt oder aus persönlichen Gründen, treffen ähnliche Nachteile. Ein Ausweisentzug hat insofern keine übertriebene Auswirkungen auf körperlich beeinträchtigte Personen (E. 3.2).

Ein Ausweisentzug trifft alle Bürger gleich und ist insofern nicht für einzelne Gruppen diskriminierend.

Keine Ordnungsbussen für juristische Personen

Urteil 6B_252/2017: Keine Ordnungsbussen für die Firma (gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid dreht sich um die Frage, ob juristische Personen aufgrund der im Ordnungsbussengesetz stipulierten Halterhaftung zu Übertretungsbussen verdonnert werden können, wenn sie den Lenker des auf sie eingelösten Fahrzeug nicht bezeichnen können.

E. 1. zur Halterhaftung: Zunächst beschäftigt sich das BGer damit, ob die Halterhaftung gemäss Art. 6 OBG gegen die Unschuldsvermutung und damit gegen Art. 6 EMRK verstösst. Dieser garantiert ein faires Verfahren und zwingt damit die Anklagebehörde grds. die erforderlichen Beweismittel zu erbringen (E. 1.2.1). Die Unschuldsvermutung gilt allerdings nicht absolut. Bei leichteren Widerhandlungen, die mit geringen Bussen bestraft werden, verstösst eine Halterhaftung nicht gegen Art. 6 EMRK, solange die EMRK-Vertragsstaaten innerhalb vernünftiger Grenzen bleiben (vgl. O’Halloran und Francis gegen Grossbritannien, Urteil vom 29. Juni 2007; Falk gegen Niederlande, Urteil vom 19. Oktober 2004; E. 1.2.2).

Fahrzeughalter akzeptieren grds. die Strassenverkehrsgesetzgebung, aus welcher sich gewisse Obliegenheiten ergeben, z.B. Auskunftspflichten gegenüber Behörden. Weigert sich der Halter, den Lenker anzugeben, kann man ihn nicht dazu zwingen, er hat aber die Konsequenzen daraus zu tragen (E. 1.2.3). Einem Fahrzeughalter ist zuzumuten, die Identität der Person zu kennen, der er sein Fahrzeug anvertraut. Dies gilt auch für juristische Personen. Es entspricht denn auch dem Willen des Gesetzgebers, die Verantwortung des Fahrzeughalters zu stärken und die Behörden von aufwändiger, unverhältnismässiger Ermittlungsarbeit im Bereich ausgesprochener Bagatelldelikte, wie sie im Ordnungsbussenverfahren beurteilt werden, zu entlasten (vgl. E. 1.3.1).

Art. 6 EMRK wird durch die Halterhaftung des OBG nicht verletzt.

E. 2. zur Haltereigenschaft: Die Beschwerdeführerin rügt, dass sie als juristische Person gar kein Auto fahren könne und schon deshalb nicht strafbar sei. Für die Halterhaftung ist gemäss der Rechtsprechung auf den formellen Halterbegriff abzustellen (vgl. Urteil 6B_432/2017 E. 2.2). Da die Beschwerdeführerin im Fahrzeugausweis eingetragen ist, gilt sie als Halterin nach OBG.

E. 3. zur Strafbarkeit des Unternehmens: Gemäss Art. 102 StGB werden Unternehmen Straftaten zugerechnet, wenn sie aufgrund mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner natürlichen Person zugerechnet werden können, wobei nur Verbrechen und Vergehen genannt werden. Bei Übertretungen haften juristische Personen nur, wenn dies ausdrücklich im Gesetz geregelt ist (E. 3.1.1). Im Strafrecht muss das Legalitätsprinzip streng angewendet werden. Ohne Gesetz gibt es keine Strafe („nulla poena sine lege“; Art. 1 StGB). Ebenso enspringt dem Legalitätsprinzip das Bestimmtheitsgebot, das besagt, dass Strafnormen so präzise fomuliert sein müssen, dass sich ein Durchschnittsbürger danach auch richten kann („nulla poena sine lege certa“). Der Gesetzgeber wollte mit Art. 6 OBG den Halter bei geringen Straftaten im Verkehr in die Pflicht nehmen. Eine ausdrückliche Bestrafung von juristischen Personen für Übertretungen wird darin aber nicht stipuliert. Insofern verletzt eine Ordnungsbusse, welche einer juristischen Person auferlegt wird, das Legalitätsprinzip (E. 3.2).

Mangels gesetzlicher Grundlage können juristische Personen damit nicht mit verkehrsrechtlichen Ordnungsbussen bestraft werden.

BGer verdonnert StVA zur Arbeit

BGE 1C_33/2018: Keine Bindung des StVA an das Strafurteil (gutgh. Beschwerde)

Die Rechtsprechung zur Bindung des StVA an das Strafurteil ist allseits bekann. Anbei ein Entscheid, in welchem sich das StVA ausnahmsweise nicht binden lassen durfte!

Der Beschwerdeführer wurde als Halter in Österreich wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 51km/h im 100er Bereich verurteilt. Das Strassenverkehrsamt SG stellte dafür einen dreimonatigen Führerscheinentzug in Aussicht und verfügte später sogar einen Warnentzug von sechs Monaten, obwohl der Beschwerdeführer Unterlagen einreichte, nach welchen sein Sohn gefahren sein soll. Das Urteil dreht sich um die Bindung des Strassenverkehrsamtes an das Strafurteil.

E. 2.2 zum österreichischen Verfahren: Das Strassenverkehrsrecht Österreichs entspricht weitgehend jenem der Schweiz. Deshalb kann auf einen österreichischen Entscheid ohne weiteres abgestellt werden.

E. 3.2 zur Bindung: Die Verwaltungsbehörde wird durch ein Strafurteil nicht gebunden, muss aber widersprüchliche Urteile vermeiden und darf nur ausnahmsweise von den im Strafverfahren festgestellten Tatsachen abweichen, z.B. wenn klare Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Tatsachenfeststellung bestehen; in diesem Fall hat die Verwaltungsbehörde nötigenfalls selbstständige Beweiserhebungen durchzuführen.

E. 4.2 zum Strafurteil: Die österreichische Strafverfügung stützt sich lediglich auf das Bild eines Geschwindigkeitsmessgeräts, auf welchem der Lenker nicht erkennbar ist.

E. 5 zur Nicht-Bindung des StVA: Der Beschwerdeführer reichte dem StVA ein schriftliches Schuldeingeständnis seines Sohnes ein, der nachweislich auch die Busse bezahlte und bezeichnete zwei Zeugen, welche ihm ein Alibi verschafften. Ebenso bestätigte ein Verband, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Geschwindigkeitsüberschreitung an einem Geschäftsausflug jenes Verbandes teilgenommen hatte. „Somit liegen klare Anhaltspunkte vor, welche die Sachverhaltsfeststellung in der Strafverfügung als möglicherweise unrichtig erscheinen und Zweifel an den von den österreichischen Behörden lediglich anhand des Radarbildes festgestellten Tatumstände aufkommen lassen. Die Vorinstanz wäre daher verpflichtet gewesen, eigene Erhebungen vorzunehmen, um diese Anhaltspunkte näher zu untersuchen. Aufgrund der vom Beschwerdeführer dargestellten Sachlage erscheint es durchaus möglich, dass nicht er, sondern sein Sohn am 30. Juni 2015 den Personenwagen bei der Geschwindigkeitsüberschreitung gelenkt hat.“

Die Beschwerde wird damit gutgeheissen und das Strassenverkehrsamt verpflichtet, den Sachverhalt eigens abzuklären.

Vom Halter zum Lenker

BGE 6B_243/2018: Geschlecht, Alter und Statur reichen aus

Dem Beschwerdeführer wird u.a. vorgeworfen, auf der Autobahn mit zu geringem Abstand gefahren zu sein und das vorfahrende Auto rechts überholt zu haben. Erstinstanzlich wurde er freigesprochen, das Obergericht hingegen hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch gut. Der Beschwerdeführer bestreitet seine Lenkerschaft. Es geht um die Beweiswürdigung.

Der Beschwerdeführer hat seine Vergehen zunächst an einer polizeilichen Einvernahme zugegeben. Da er allerdings über das Bestehen eines Beweisvideos getäuscht worden sei, erachtet er diese Einvernahme als nicht verwertbar (vgl. Art. 140 i.V.m. Art. 141 StPO). Die Vorinstanz war der Meinung, dass es auf die Einvernahme gar nicht ankommt, da der Beschwerdeführer Halter des Fahrzeuges ist und zwei Zeugen den Lenker als „40- bis 50- bzw. 40- bis 45-jährigen, leicht übergewichtigen bzw. stämmigen Mann“ beschrieben haben, der glatzköpfig gewesen sein soll (E. 1.1./2.).

Das BGer lässt offen, ob die Einvernahme verwertbar ist oder nicht, denn „nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann die Haltereigenschaft bei einem Strassenverkehrsdelikt, das von einem nicht eindeutig identifizierbaren Fahrzeuglenker begangen worden ist, ein Indiz für die Täterschaft sein (BGE 6B_791/2011 E. 1.4.1 mit Hinweis; BGE 6B_812/2011 E. 1.5; BGE 6B_628/2010 E. 2.3). Das Gericht kann im Rahmen der Beweiswürdigung ohne Verletzung der Unschuldsvermutung zum Schluss gelangen, der Halter habe das Fahrzeug selber gelenkt, wenn dieser die Tat bestreitet und sich über den möglichen Lenker ausschweigt (BGE 6B_914/2015 E. 1.2; BGE 6B_812/2011 E. 1.5; BGE 6B_439/2010 E. 5.1; BGE 1P.641/2000 E. 4). Nichts anderes kann gelten, wenn der Halter zwar Angaben zum Lenker macht, diese aber unglaubhaft oder gar widerlegt sind (BGE 6B_748/2009 E. 2.2 e contrario; BGE 1P.428/2003 E. 4.6.2; BGE 1P.641/2000 E. 4 e contrario; E. 1.4.2).

Zwar gibt es im ordentlichen SVG-Strafverfahren keine Halterhaftung. Von der Haltereigenschaft als Indiz auf die Täterschaft zu schliessen ist indessen nicht willkürlich (E. 1.4.4.). Ebenso konnten Zeugen die Statur, das Alter und das Geschlecht des Lenkers beschreiben, die mit dem Beschwerdeführer übereinstimmen. Schliesslich war auch das Aussageverhalten des Beschwerdeführers nicht lupenrein. Die Beweiswürdigung der Vorinstanz war damit nicht willkürlich (E. 1.4.5.).

Das „in dubio“-Prinzip wird hier relativ stark aufgeweicht zu Gunsten einer einfacheren Strafverfolgung von Autofahrern. Ebenso scheint eine Art Beweislastumkehr stattzufinden, in welcher der Autofahrer die Beweise für seine Unschuld liefern muss und nicht die Strafbehörden den Beweis für die Schuld. Übergewichtige, mittelalterliche Männer gibt es in der Schweiz wohl einige…

 

Die rechtliche Würdigung im Administrativverfahren

BGE 1C_26/2018: Das StVA hat freie Hand (gutgh. Beschwerde des StVA)

Der Beschwerdegegner fuhr auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeit von ca. 100km/h mit einem Abstand von ca. 10m zum vorfahrenden Fahrzeug. Dafür wurde er zunächst wegen grober Verkehrsregelverletzung verurteilt, nach Einsprache erfolgte eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung. Die Kantonspolizei BS, zuständig für Administrativmassnahmen, verfügte einen Ausweisentzug von drei Monaten. Das Verwaltungsgericht hingegen ging von einer mittelschweren Widerhandlung aus und änderte den Ausweisentzug auf einen Monat. Die Kantonspolizei führt gegen dieses Urteil erfolgreich Beschwerde.

Im vorliegenden Fall geht es hauptsächlich um die Bindung der Administrativbehörde an das Strafurteil. An den Sachverhalt ist die Administrativbehörde grds. gebunden. „In der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts – namentlich auch des Verschuldens – ist die Verwaltungsbehörde hingegen frei, ausser die rechtliche Qualifikation hängt stark von der Würdigung von Tatsachen ab, die der Strafrichter besser kennt, etwa weil er den Beschuldigten persönlich einvernommen hat. Auch in diesem Zusammenhang hat sie jedoch den eingangs genannten Grundsatz, widersprüchliche Urteile zu vermeiden, gebührend zu berücksichtigen. Insbesondere hat sich die Verwaltungsbehörde bezüglich der Würdigung des Verschuldens grundsätzlich einer vertretbaren Ermessensausübung des Strafrichters anzuschliessen“ (E. 2.4.).

Zum Abstand auf Autobahnen bei regem Verkehrsaufkommen sagt das BGer, dass „der Nachfolgende die vor ihm liegende Verkehrssituation ohne Schwierigkeiten überblicken [kann], womit er es in der Hand hat, seine Geschwindigkeit den Umständen anzupassen und dadurch einen situationsgerechten Abstand herzustellen oder einzuhalten und eine Behinderung oder Gefährdung der Verkehrsteilnehmer, insbesondere des Vorausfahrenden selber, zu vermeiden“ (E. 5.1.). Grds. gilt dabei die „Zwei-Sekunden-Regel“, grob bzw. schwer wird es ab einem Abstand von weniger als 0.6s (E. 5.2.). Das BGer stellt allerdings fest, dass „es sei bei starkem Verkehrsaufkommen nicht immer einfach [sei], diese Abstände stets zu wahren, weil sie von anderen Verkehrsteilnehmern für Spurwechsel ge- bzw. missbraucht und dadurch verkleinert würden.“ In Abweichung der obigen Faustregeln hat es deshalb Abstandsunterschreitungen auch schon als leicht oder mittelschwer beurteilt (vgl. BGE 1C_183/2013 E. 4; Verwarnung in BGE 1C_413/2014). Allerdings hat es auch schon schwere Widerhandlungen bestätigt, obwohl im Strafverfahren eine Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung erfolgte (z.B. BGE 1C_250/2017; zum Ganzen E. 5.3.).

Da im vorliegenden Fall die Abstandsunterschreitung nicht nur kurzzeitig war und mit einem Lieferwagen erfolgte, bestätigt das BGer die Annahme einer schweren Widerhandlung (E. 5.4.).

E. 6. zum Grundsatz „ne bis in idem“.