Sanktionierung des „Chauffards“

Urteil 1C_256/2022: Sanktionierung des Rasers ohne charakterliche Probleme

In diesem in besonders blumigen „français juridique“ gehaltenen Urteil beschäftigt sich das Bundesgericht damit, wie man einen Raser sanktionieren kann, bei welchem aber keine charakterlichen Defizite bestehen.

Der Beschwerdeführer fuhr auf der Autobahn A12 bei Châtel-St-Denis. Die Tempolitmite war wegen Bauarbeiten auf 80km/h beschränkt. Der Beschwerdeführer aber fuhr 145km/h und wurde deshalb mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 65km/h geblitzt. Im Strafverfahren wurde er mit einer bedingten Geldstrafe bestraft wegen grober Verkehrsregelverletzung bestraft. In einem ersten Schritt entzog die zuständige Behörde des Kt. FR dem Beschwerdeführer die Fahrerlaubnis auf unbestimmte Zeit und machte die Fahreignung von einer positiven verkehrspsychologischen Begutachtung abhängig, weil der Beschwerdeführer den Rasertatbestand erfüllt habe. Das Kantonsgericht FR allerdings ging davon aus, dass nicht genügend Gründe vorlagen, um von einer Charakterschwäche auszugehen und wies die Sache zurück, um eine Warnmassnahme auszusprechen. Daraufhin wurde ein 24-monatiger Warnentzug angeordnet, was von den kantonalen Gerichten bestätigt wurde. Der Beschwerdeführer verlangt vor Bundesgericht einen Warnentzug von drei Monaten.

Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 90 Abs. 3 und 4 und Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG geltend. Er bringt vor, dass er aus Versehen so schnell fuhr und damit kein Vorsatz vorläge.

Gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG wird eine Fahrlaubnis für mind. zwei Jahre entzogen, wenn jemand (u.a.) die zulässige Höchstgeschwindigkeit krass missachtet, wobei Art. 90 Abs. 4 SVG anwendbar ist. Art. 16c Abs. 2 lit. abis SVG verweist also auf den Rasertatbestand. Wer nach Art. 90 Abs. 4 SVG die Höchstgeschwindigkeit von 80km/h um mind. 60km/h überschreitet, erfüllt quasi automatisch den Rasertatbestand bzw. dessen objektives Tatbestandskriterium der krassen Geschwindigkeitsüberschreitung. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich. Wer allerdings die Geschwindigkeit nach den Grenzwerten von Art. 90 Abs. 4 SVG überschreitet, handelt vermutungsweise vorsätzlich (E. 2.1; zum subjektiven Tatbestand des Raserdelikts kann auf den Beitrag vom 4.11.22 verwiesen werden).

Die Argumentation des Beschwerdeführers beruht darauf, dass er das Geschwindigkeitsschild nicht gesehen habe. Auch wenn das so gewesen sein mag, hätte der Beschwerdeführer trotzdem realisieren müssen, dass er sich in einem Baustellenbereich befand. Mit den vorinstanzlichen Erwägungen zu diesem Punkt setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Egal was er sagt, war die Situation nicht vergleichbar mit einem Autobahnabschnitt, auf welchem ein Tempolimit von 120km/h gilt. Aus Sicht des Bundesgerichts gelingt es dem Beschwerdeführer also nicht die Vermutung der vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung umzustossen. Damit wird die zweijährige Warnmassnahme bestätigt.

Verhältnismässigkeit von Auflagen

Urteil 1C_111/2021: Überwindung von Alkoholsucht dauert lange

Aufgrund einer Trunkenheitsfahrt wurde die Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers auf unbestimmte Zeit und sicherheitshalber entzogen. Im November 2020 wurde der Sicherheitsentzug aufgehoben und die Fahrerlaubnis wurde mit Auflagen wiedererteilt. An die Wiedererteilung wurde die Auflage geknüpft, dass der Beschwerdeführer eine dreijährige Alkoholtotalabstinenz mittels halbjährlicher Haaranalysen nachzuweisen habe.

Der Beschwerdeführer rügt zunächst eine willkürlich Feststellung des Sachverhalts sowie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Er ist der Ansicht, dass das Gutachten mangelhaft war, denn der Beschwerdeführer reichte verschiedene Haaranalysen ein, die allesamt unterschiedliche unterschiedliche Werte ergaben (einer z.B. ca. 250 pg/mg). Zudem stellte er sich auf den Standpunkt, dass er schon eine längere Abstinenz nachgewiesen habe, als dass es die Vorinstanz annahm. Die Vorinstanz dürfte aber willkürfrei davon ausgehen, dass ein übermässiger Alkoholkonsum vorlag, weil die Werte der meisten Haaranalysen über 30 pg/mg lagen. Auch die Vorgeschichte wurde vom Gutachten korrekt wiedergegeben und zuletzt wurde eine günstige Prognose eines Psychiaters insofern berücksichtigt, als dass dem Beschwerdeführer überhaupt die Fahrerlaubnis wiedererteilt wurde (zur ganzen sehr ausführlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Haarproben E. 3).

Der Beschwerdeführer ist sodann der Ansicht, dass die gegen ihn verfügten Auflagen unverhältnismäßig seien. Eine auf unbestimmte Zeit, sicherheitshalber entzogene Fahrerlaubnis kann wiederteilt werden, wenn nachgewiesen wurde, dass der Mangel an der Fahreignung zumindest bedingt weggefallen ist. Die Wiedererteilung kann mit Auflagen verbunden werden (Art. 17 Abs. 3 SVG). Insb. wenn Suchtkrankheiten vorlagen, wird die Wiedererteilung in der Regel mit der Auflage einer längerfristigen Abstinenz verbunden. Damit ist es möglich, eine Fahrerlaubnis auch dann wiederzuerteilen, wenn noch nicht alle Zweifel an der Fahreignung ausgemerzt sind. Lag ein verkehrsrelevanter Alkoholmissbrauch vor, können Auflagen über mehrere Jahre angeordnet werden, da davon ausgegangen wird, dass die Überwindung einer Alkoholsucht bis zu fünf Jahren bedarf. Das Bundesgericht hat in Einzelfällen schon eine dreijährige Totalabstinenz gutgeheissen, auch wenn kürzere Fristen üblich sind (E. 4.1). Die Vorinstanz ging davon aus, dass vorliegend eine dreijährige Totalabstinenz zwar streng, aber dennoch rechtmässig ist. Der Beschwerdeführer war der Meinung, dass so lange Auflagen nur in Ausnahmefällen angeordnet werden dürfen. Dem widerspricht aber das Bundesgericht, denn in jedem Fall ist eine Einzelfallbeurteilung notwendig (E. 4.2).

Die Auflage wurde aufgrund des verkehrsmedizinischen Gutachtens angeordnet. Dieses war bereits bzgl. dem Sachverhalt schlüssig (s.o.). Auch die Dauer der Auflage wurde im Gutachten schlüssig und konzis begründet. Da der Beschwerdeführer eine lange Vorgeschichte bzgl. Alkohol hat und die Überwindung einer Sucht lange dauert, ist die Auflage verhältnismässig. In der Abwägung des öffentlichen Interesses der Verkehrssicherheit mit den Interessen des Beschwerdeführers erweist sich eine solche Auflage für den Beschwerdeführer bei objektiver Betrachtung ebenso als zumutbar.

Subjektiver Tatbestand beim Rasen

Urteil 6B_1188/2021: Versehentlich Rasen gemäss Art. 90 Abs. 4 SVG möglich?

In diesem zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil werden einerseits strafprozessuale Fragen geklärt zur mündlichen Berufungsverhandlung (E. 2). Andererseits beschäftigt sich das Bundesgericht mit der Frage, ob es möglich ist, in fahrlässiger Weise viel zu schnell zu Fahren, womit der Rasertatbestand als Vorsatzdelikt in subjektiver Hinsicht nicht erfüllt wäre (E. 4).

Der Beschwerdeführer wurde im September 2020 auf dem Gebiet der Gemeinde Raron mit abzugsbereinigten 143 km/h geblitzt, überschritt die dort zulässige Geschwindigkeit von 80 km/h also um 63 km/h. Er überholte andere Fahrzeuge.

Der Beschwerdeführer rügt in strafprozessualer Hinsicht, dass die Staatsanwaltschaft nicht an der mündlichen Berufungsverhandlung teilgenommen hat. Aus seiner Sicht sei das nötig gewesen, da ein Fall von notwendiger Verteidigung nach Art. 130 lit. b StPO vorlag.

Gemäss Art. 405 Abs. 3 StPO wird die Staatsanwaltschaft zur mündlichen Berufungsverhandlung vorgeladen, wenn

– sie eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme beantragt (Art. 337 Abs. 3 StPO);
– die Verfahrensleitung dies für nötig erachtet (Art. 337 Abs. 4 StPO);
– die Staatsanwaltschaft Berufung oder Anschlussberufung erklärt (Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO).

Der Wortlaut der Strafprozessordnung ist eindeutig. Es gibt deshalb in der Lehre keine auseinandergehenden Meinungen. Vereinzelt wird festgehalten, dass wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von einem Jahr beantrage, diese nur dann vorzuladen sei, wenn das Gericht eine höhere Strafe in Erwägung ziehe. Nach einer anderen Meinung bestehe für die Staatsanwaltschaft ein Anwesenheitsrecht, nicht aber eine Anwesenheitspflicht, wenn sie eine Freiheitsstrafe von einem Jahr beantragt. Auch für das Bundesgericht ist nach der grammatikalischen Auslegung der StPO klar, dass gemäss Art. 337 Abs. 3 StPO eine Anwesenheitspflicht erst besteht, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und einem Tag beantragt wird. Da vorliegend das gesetzliche Minimum von einem Jahr beantragt wurde, musste die Staatsanwaltschaft also am mündlichen Berufungsverfahren nicht teilnehmen (zum ganzen E. 2).

Der Beschwerdeführer stellt sich sodann auf den Standpunkt, dass er mit seiner Fahrweise kein hohes Unfallrisiko mit Schwerverletzten oder Todesopfern geschaffen oder in Kauf genommen habe. Im Zeitpunkt des Überholmanövers habe er gar nicht auf den Tacho geschaut und war sich gar nicht bewusst, wie schnell er war. Wer beim Überholen den Tacho nicht beachtet, nimmt aber nach Meinung der Vorinstanz eine Geschwindigkeitsüberschreitung billigend in Kauf. Zudem hätte dem Beschwerdefüherer der erhebliche Geschwindigkeitsunterschied zwischen ihm und den überholten Fahrzeugen auffallen müssen.

Gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG macht sich strafbar, wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen. Absatz 3 ist in jedem Fall erfüllt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um mindestens 60 km/h überschritten wird (Art. 90 Abs. 4 lit. c SVG; zum hohen Risiko im objektiven Tatbestand ausführlich E. 4.3.1).

Der subjektive Tatbestand des Raserdeliktes erforert Vorsatz bzgl. der Verletzung einer elementaren Verkehrsregel und der Risikoverwirklichung, wobei Eventualvorsatz genügt. Da die beschuldigte Person – wie auch vorliegend – selten geständig ist, muss das Gericht anhand der Umstände entscheiden, ob der Täter (eventual)vorsätzlich gehandelt hat. Da Autofahrer bei krassen Verkehrsregelverletzungen bzw. -unfällen meistens auch selber zu den Verletzten gehören, darf nicht leichthin angenommen werden, dass die Täter sich vorsätzlich gegen das Rechtsgut Leib und Leben entschieden haben. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist im Strassenverkehr nur mit Zurückhaltung und in krassen Fällen anzunehmen, in denen sich die Entscheidung gegen das geschützte Rechtsgut aus dem gesamten Geschehen ergibt. In BGE 142 IV 137 entschied das Bundesgericht bereits, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung nach Art. 90 Abs. 4 SVG der subjektive Tatbestand des Rasertatbestandes grundsätzlich erfüllt ist. Allerdings müssen die Gerichte die Möglichkeit haben, in besonderen Einzelfällen den subjektiven Tatbestand bei krassen Geschwindigkeitsüberschreitungen auszuschliessen. Als Beispiele solcher Situationen werden in der Lehre etwa das Vorliegen eines technischen Defekts am Fahrzeug (Fehlfunktion der Bremsen oder des Tempomats), eine äusserliche Drucksituation (Geiselnahme, Drohung) oder eine Notfallfahrt ins Spital genannt, wobei gewisse Autoren von Rechtfertigungsgründen sprechen. Ein Notstand allerdings kann eine Raserfahrt wohl nicht rechtfertigen, wie wir kürzlich gesehen haben (ausführlich zum subjektiven Tatbestand E. 4.3.2.1).

Was der Täter wusste, wollte und in Kauf nahm, betrifft sog. innere Tatsachen und ist damit Tatfrage. Diese prüft das Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür. Die Willkürrüge muss explizit vorgebracht und substantiiert werden. Der Beschwerdeführer setzt sich mit dem Urteil der Vorinstanz nicht auseinander. Seine Vorbringen erschöpfen sich in appellatorischer Kritik. Insbesondere der grosse Geschwindigkeitsunterschied zwischen dem Beschwerdeführer und den überholten Fahrzeugen, dürfte Ersterem kaum entgangen sein. Die Vorinstanz durfte deshalb willkürfrei von einem eventualvorsätzlichen Handeln seitens des Beschwerdeführers ausgehen. Dieser machte auch keine besonderen Umstände geltend, wieso er die Geschwindigkeit dermassen krass überschritt. Vom Grundsatz, dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 90 Abs. 4 SVG auch den subjektiven Tatbestand erfüllt, musste vorliegend also nicht ausnahmsweise abgewichen werden.

Sorgfaltspflicht beim Losfahren

Urteil 6B_677/2021: Tragischer Todesfall auf dem Parkplatz (gutgh. Beschwerde)

Im September 2013 ereignete sich ein tragischer Unfall. Der Beschwerdegegner überfuhr auf einem Parkplatz seinen Stiefvater, der zwei Stunden später an den Folgen des Unfalles verstarb. Die kantonalen Instanzen sprachen den Beschwerdegegner vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Dagegen wehren sich die Angehörigen des Opfers und verlangen, dass der Beschwerdegegner wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen sei. Es geht vorliegend um die Frage, ob der Beschwerdegegner den Tod seines Stiefvaters bei genügender Sorgfalt hätte vermeiden können.

Der Unfall passierte, als sich der Beschwerdegegner mit dem Opfer und weiteren Personen verabredete. Das Tatfahrzeug schien einen technischen Mangel zu haben, machte komische Geräusche und man wollte diese gemeinsam erörtern. Währenddem sich der Beschwerdegegner kurz vom Auto entfernte, legte sich das Opfer darunter, um den Geräuschen nachzugehen. Als der Beschwerdegegner das Fahrzeug parkieren wollte, stieg er ein und überrollte das Opfer. Die Vorinstanz war der Meinung, dass man in einer solchen Situation nicht damit rechnen müsse, dass sich jemand bereits unter dem Fahrzeug befindet, ohne den Lenker vorzuwarnen. Es sei lebensfremd in solchen Situationen ein Kontrollgang um ein Fahrzeug zu verlangen. Der Beschwerdegegner konnte das Opfer von der Fahrerposition nicht sehen.

Die fahrlässige Tötung nach Art. 117 StGB setzt die Verletzung einer Sorgfaltspflicht voraus. Der Erfolg, der Tod eines Menschen, muss für den Täter vorherseh- und vermeidbar gewesen sein (ausführlich zur Fahrlässigkeit E. 3.2). Im Strassenverkehr richten sich die Sorgfaltspflichten nach dem SVG und seinen Verordnungen. Wer sich in den Verkehr einfügt, darf andere Strassenbenützer nicht gefährden (Art. 36 Abs. 4 SVG). Wer z.B. von einem unübersichtlichen Parkplatz losfährt, muss nötigenfalls eine Hilfsperson herbeiziehen, die das Fahrmanöver überwacht (Art. 15 Abs. 3 VRV). Nach der Rechtsprechung muss sich ein Fahrer, der im toten Winkel aufgrund der Umstände mit Personen rechnen muss, seine Körperposition ändern, um eben diese toten Winkel einzusehen (vgl. BGE 107 IV 55 E. 2c). Die Aufmerksamkeit hat der Lenker nach den Umständen dorthin zu richten, wo am ehesten Gefahrenquellen drohen. Hat der Lenker aber seine Pflichten erfüllt, darf er sein Fahrmanöver ohne weitere Überwachung des sichttoten Bereichs ausführen (E. 3.3).

Die Beschwerdeführer bringen – kurz gesagt – vor, dass die Vorinstanzen den Sachverhalt willkürlich festgestellt haben, indem sie nicht mit der nötigen Tiefe der Frage nachgegangen sind, ob der Beschwerdegegner beim Einsteigen in das Fahrzeug seinen davorliegenden Stiefvater hätte sehen können. Das Bundesgericht stimmt dem zu, denn die Vorinstanzen hatten sich zuwenig mit den damals herrschenden Lichtverhältnissen und dem zeitlichen Ablauf des Unglücks auseinandergesetzt. Die Schlussfolgerung der Vorinstanzen, dass keine Sorgfaltspflichtsverletzung vorliegt, war damit rechtsfehlerhaft (dazu ausführlich E. 3.5).

Aquaplaning

Urteil 1C_135/2022: Qualifikation von Aquaplaning im Administrativverfahren

Mit „etwas“ Verspätung widmen wir uns diesem französischen Urteil, welches sich mit der Frage befasst, wie ein Aquaplaning auf der Autobahn sanktioniert werden kann. Für die Feinschmecker unter uns bietet das Urteil keine bahnbrechenden Erkenntnisse. Trotzdem ist es immer wieder interessant zu sehen, welche Sachverhalte von den Administrativ- und Strafbehörden unterschiedlich beurteilt werden.

Die Beschwerdeführerin fuhr auf der Autobahn A12 von Lausanne nach Fribourg bei regnerischem Wetter und nasser Fahrbahn. Als sie mit etwa 100km/h ein anderes Auto überholte, verlor sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug und kollidierte mit dem auf der rechten Fahrbahn fahrenden Fahrzeug. Dieses kollidierte in der Folge frontal mit der Mittelleitplanke. Die KAM des Kt. FR beurteilte den Sachverhalt als schwere Widerhandlung und ordnete einen Warnentzug von drei Monaten an. Von der Strafbehörde wurde die Beschwerdeführerin mit einer Busse wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung bestraft. Die Beschwerdeführerin beruft sich darauf, dass eine mittelschwere Widerhandlung vorliegt und beantragt eine Warnmassnahme von einem Monat. Sie bringt vor, dass sie nicht rücksichtslos gehandelt habe.

Das Bundesgericht führt zunächst die exemplarisch die Voraussetzungen für die Widerhandlungen nach Art. 16a bis 16c SVG auf und konkludiert, dass die mittelschwere Widerhandlung ein Auffangtatbestand ist. Die für eine Warnmassnahme vorausgesetzte Gefährdung muss nicht konkret, sondern lediglich erhöht abstrakt sein. Ob eine erhöht abstrakte Gefährdung vorliegt, beurteilt sich anhand des Einzelfalles. Der Tatbestand der schweren Widerhandlung setzt objektiv eine ernstliche Gefahr und subjektiv eine rücksichtsloses Vorgehen voraus. Der subjektive Tatbestand ist mit jenem der groben Verkehrsregelverletzung identisch. Rücksichtslos verhält sich z.B., wer sich der Gefahr seiner Fahrweise bewusst ist, diese aber nicht anpasst.. Rücksichtslos ist es aber auch, wenn man sich der gefährlichen Fahrweise gar nicht bewusst ist, also unbewusst fahrlässig handelt. In diesen Fällen ist aber zurückhaltend von einer Rücksichtslosigkeit auszugehen. Von grober Fahrlässigkeit bzw. Rücksichtslosigkeit ist nur dann auszugehen, wenn die Unkenntnis der Gefährdung besonders schuldhaft („particulièrement blamable“) ist. Je schlimmer die Folgen der Widerhandlung, desto eher kann von einer Rücksichtslosigkeit ausgegangen werden (äusserst ausführlich E. 2.1).

Ein mittelschweres Verschulden i.S.v. Art. 16b SVG ist dann anzunehmen, wenn nach den Einzelfallumständen keine hohe Vorsicht gefordert wird. Ebenso kann das Verschulden mittelschwer sein, wenn Unfallrisiken nicht berücksichtigt werden, die von einer durchschnittlich vorsichtigen Person erkennbar waren.

Gemäss Art. 31 SVG muss die fahrende Person ihr Fahrzeug stets so beherrschen, dass sie ihren Vorsichtspflichten nachkommen kann. Dazu muss man seine Aufmerksamkeit stets der Strasse widmen, um allfällige Gefahren frühzeitig zu identifizieren und damit man die Geschwindigkeit den Umständen anpassen kann. Das Nicht-Beherrschen des Fahrzeuges muss nicht immer eine schwere Widerhandlung sein. Beim Aquaplaning gibt es allerdings viele Präjudizien von Fällen, in welchen eine Widerhandlung als schwer qualifiziert wurde. Das Phänomen des Aquaplanings ist nach Ansicht des Bundesgericht auch jedem bekannt, insb. dass es auf der Autobahn bereits ab Geschwindigkeiten von weniger als 80km/h eintreten kann. Ob die Geschwindigkeit den Umständen korrekt angepasst wurde ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei überprüfen kann, wobei es dies mit einer gewissen Zurückhaltung tut (ausführlich E. 2.2).

Die Beschwerdeführerin gab zu, dass sie um die Gefahr von Aquaplaning wusste. Sie habe aber nicht rücksichtslos gehandelt, da sie ihre Geschwindigkeit auf 90-100km/h reduziert habe. Bei den vorherrschenden Wetterverhältnissen trifft alle Verkehrsteilnehmer nach Ansicht des Bundesgerichts eine erhöhte Vorsichtspflicht. Jeder sollte wissen, dass man bei Regen und nasser Fahrbahn auf der Autobahn nicht schneller als 80km/h fahren sollte. Da die Beschwerdeführerin schneller fuhr, hat sie ein offensichtliches Risiko verkannt. Unter diesen Bedingungen mit mehr als 80km/h zu überholen erscheint als besonders schuldhaft, insb. weil auf der Autobahn hohe Geschwindigkeiten gefahren werden. Auch dass im Strafverfahren nur auf eine einfache Verkehrsregelverletzung erkannt wurde, hilft der Beschwerdeführerin nicht weiter, da die Administrativbehörde in der rechtlichen Würdigung eines Sachverhalts frei ist (ausführlich E. 2.3f).

Privilegierung nach Auslandstat

Urteil 1C_653/2021: Bundesgericht strenger als das ASTRA

In diesem zur Publikation vorgesehenen Urteil befasst sich das Bundesgericht mit der Frage, wann man in den Genuss der Privilegierung von Art. 16cbis Abs. 2 SVG nach einer Auslandtat gelangt, also wann die Schweizer Behörde die Dauer des ausländischen Fahrverbots nicht überschreiten darf. Die Beschwerdeführerin überschritt auf der Autobahn in Österreich die Höchstgeschwindigkeit von 100km/h um 62km/h. Sie wurde dafür von den österreichischen Behörden mit einem Fahrvervot von zwei Wochen sanktioniert. Im IVZ ist bei der Beschwerdeführerin eine nicht kaskadenrelevante Massnahme eingetragen, ein einmonatiger Führerscheinentzug wegen einer mittelschweren Widerhandlung. Das Strassenverkehrsamt verfügte daraufhin einen dreimonatigen Ausweisentzug unter Anrechnung des bereits erfolgten ausländischen Entzugsdauer. Die Beschwerdeführerin führt dagegen aus, dass bei ihr die privilegierende Regelung von Art. 16cbis Abs. 2 SVG zur Anwendung gelangen muss, da die alte Massnahme nicht mehr kaskadenrelevant war. Sie beantragt insofern einen Ausweisentzug von zwei Wochen. In einer Stellungnahme führte das ASTRA aus, dass es davon ausging, dass die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin korrekt sei, dass also die ausländische Dauer des Fahrverbots nur überschritten werden dürfe, wenn im IVZ eine kaskadenrelevante Massnahme eingetragen sei.

Die gesetzliche Grundlage für die Sanktionierung von Taten im Ausland durch Inhaber einer Schweizer Fahrerlaubnis findet sich in Art. 16cbis Abs. 2 SVG. Sie enthält in Abs. 2 Satz 3 eine wichtige Privilegierung:

„Die Entzugsdauer darf bei Personen, zu denen im Informationssystem Verkehrszulassung keine Daten zu Administrativmassnahmen (Art. 89c Bst. d) enthalten sind, die am Begehungsort im Ausland verfügte Dauer des Fahrverbots nicht überschreiten.

Es ist eine ziemlich vorteilhafte Regel, denn oft sind die Fahrverbote im Ausland um einiges kürzer, als jene in der Schweiz. Die vorliegend zu beurteilende Widerhandlung wäre nach Schweizer Recht eine schwere Widerhandlung, die mit mind. drei Monaten Führerscheinentzug sanktioniert würde. Bei einer Überschreitung des Tempolimits von 62km/h würden der Lenkerin wohl eher fünf oder sechs Monate Führerscheinentzug winken. Das Bundesgericht prüft nun ausführlich, welche Relevanz das Kaskadensystem für diese vorteilhafte Regel hat. Reicht bereits ein Eintrag im IVZ, oder muss doch eine kaskadenrelevante Widerhandlung vorliegen.

Das Bundesgericht legt die Norm nach dem gängigen Methodenpluralismus aus, wobei es allerdings vom klaren Wortlaut nur abweicht, wenn trifftige Gründe dafür sprechen. Es stimmt dabei den kantonalen Instanzen zu, dass die Bestimmung nach dem Wortlaut eindeutig ist. Nach diesem genügt ein Eintrag im IVZ, damit die betroffene Person nicht in den Genuss der Privilegierung kommt. Auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 16cbis SVG lässt sich nichts ableiten, dass die Abweichung von der ausländischen Entzugsdauer nur bei kaskadenrelevanten Administrativmassnahmen zulässig sein sollte, obwohl es einzelne Minderheitsvoten in diesem Sinne gegeben haben mag. Auch wenn es zu einer gewissen Ungleicheit führt, differenzierte der Gesetzgeber bewusst zwischen Erst- und Wiederholungstätern und sah die Privilegierung nur für erstere vor. Bei Wiederholungstätern findet denn auch das Kaskadensystem ohne Einschränkung Anwendung. Liegt keine kaskadenrelevante Widerhandlung vor, ist gegenüber den betroffenen Wiederholungstätern ein Entzug ausserhalb des Kaskadensystems ohne die Bevorteilung gemäss Art. 16c bis Abs. 2 Satz 3 SVG auszusprechen (zum Ganzen ausführlich E. 4).

Die Beschwerdeführerin gilt also als Wiederholungstäterin und kommt nicht in den Genuss der Privilegierung für Ersttäter. Die Warnmassnahme von drei Monaten unter Anrechnung des österreichischen Fahrverbots von zwei Wochen ist nicht bundesrechtswidrig. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Rasen in der Not

Urteil 6B_322/2022: Geschwindigkeit und Notstand (gutgh. Beschwerde)

Ein tolles Urteil unserer höchsten Richter, da es sehr übersichtlich deren Rechtsprechung zur gerechtfertigten Geschwindigkeitsüberschreitung zusammenfasst.

Der Beschwerdegegner wurde auf der Autobahn mit 200km/h geblitzt. Die Gerichte des Kantons Zürichs sprachen den Beschwerdegegner vom Vorwurf der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung frei. Der Beschwerdegegner machte im Strafverfahren einen Notstand geltend. Seine Frau leide an einer Herzerkrankung. Sie verspürte auf der Heimfahrt plötzlich Symptome, weshalb der Beschwerdegegner schnellstmöglich nach Hause fahren wollte, wo sich die Medikamente der Frau befanden. Gegen den Freispruch wehrt sich die Staatsanwaltschaft.

Begeht man eine Straftat, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person, also z.B. das Leben der Gattin, aus einer unmittelbaren und nicht andes abwendbaren Gefahr zu retten, handelt man rechtmässig, wenn man dadurch höherwertige Interessen wahrt (Art. 17 StGB). Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen sollte ein Notstand nur zurückhaltend angenommen werden, da durch Schnellfahren meistens eine Vielzahl von unbeteiligten Person konkret oder abstrakt gefährdet werden. Je höher dabei die gefahrene Geschwindigkeit, desto eher ist es nur dem Zufall geschuldet, dass sich die Gefahr eines schweren Unfalles nicht verwirklicht (E. 2.2.1).

Die Straftatbestände in Art. 90 SVG sind abstrakte Gefährdungsdelikte. Die grobe Verkehrsregelverletzung setzt eine erstliche Gefahr, die qualifiziert grobe das Risiko eines Unfalles mit Todesopfern oder schwerverletzten Personen voraus (E. 2.2.2). Daraus schliesst das Bundesgericht, dass das geschützte Rechtsgut der groben und qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung nicht nur die Verkehrssicherheit ist, sondern unmittelbar auch Leib und Leben der anderen Verkehrsteilnehmer. Lediglich bei der einfachen Verkehrsregelverletzung steht das Rechtsgut des „reibungslosen Ablaufs der Fortbewegung auf öffentlichen Strassen“ im Vordergrund, während Individualinteressen wie Leib und Leben oder Eigentum nur mittelbar geschützt werden (E. 2.4.1). Da sich im vorliegenden Fall also gleichwertige Rechtsgüter – Leben Gattin vs. Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer – gegenüberstehen, stellt das Bundesgericht die Frage in den Raum, ob die Annahme eines Notstandes überhaupt möglich ist. Es umschifft die Frage aber gekonnt, da die Voraussetzungen des Notstandes sowieso nicht erfüllt sind (E. 2.4.4).

Zur Kasuistik:

Urteil 1C_345/2012: GÜ von 31km/h in 30er Zone gerechtfertigt bei Vater, der ins Krankhaus muss, weil sein Neugeborenes schwere Atemaussetzer habe.
Urteil 6B_7/2010: GÜ innerorts um 25km/h nicht gerechtfertigt bei Tierarzt, der zu einer Kuh mit akuter Euterentzündung brauste.
Urteil 6A.28/2003: GÜ von 58km/h auf Autobahn nicht gerechtfertigt von Lenker, der glaubte verfolgt zu werden, wobei der Verfolger ein ziviles Polizeiauto war.
BGE 106 IV 1: GÜ innerorts um 60km/h gerechtfertigt, da der Lenker seinen Nachbar mit unerträglichen Kopfschmerzen ins Spital fuhr. Heute wohl überholter Entscheid

Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft argumentierte aus Sicht des Bundesgerichts zu Recht, dass auf dem Radarfoto keine Anzeichen für ein Unwohlsein der Gattin zu sehen waren. Irritierend war auch, dass der Beschwerdegegner nach dem Blitzen sein Tempo reduzierte und sich an das Tempolimit hielt. Obwohl er nach eigener Aussage um das Leben seiner Frau fürchtete, gefährdete der Beschwerdegegner gleichzeitig deren Leben mit einer Raserfahrt (E. 2.4.4). Ein Notstand setzt sodann voraus, dass die drohende Gefahr für das Leben der Gattin nicht andes abwendbar war. Zu Recht führt die Staatsanwaltschaft aus, dass es keinen Sinn ergibt, wenn der Beschwerdegegner ca. 30km nach Hause fährt, anstatt in das nur 11km entfernt gelegene nächste Krankenhaus. Indem die Vorinstanz diesen Umstand nicht würdigte, verletzte sie den Grundsatz der absoluten Subsidiarität (E. 2.4.5). Und schliesslich verletzt das kantonale Urteil den Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Der Zeitgewinn von höchstens einigen Minuten steht in keinem Verhältnis zur massiv übersetzten Geschwindigkeit (E. 2.4.6).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird gutgeheissen.

Keine Fahreignungsabklärung bei 1.58%

Urteil 1C_500/2021: Knapp unter dem Grenzwert (gutgh. Beschwerde)

Bei der Beschwerdeführerin wurde bei einer Polizeikontrolle ein Atemalkoholwert von 0.79 mg/L bzw. 1.58 Promille festgestellt. Gegenüber den Beamten gab sie an, dass sie zwar nicht süchtig sei, aber ein Alkoholproblem „auf der Kippe zum Alkoholismus“ habe. Der vorläufig abgenommene Führerschein gab das Strassenverkehrsamt wieder zurück. Nach Abschluss des Strafverfahrens sanktionierte das Strassenverkehrsamt die Beschwerdeführerin mit einem Führerscheinentzug von vier Monaten. Kurz vor Ablauf des Vollzugs des Führerscheinentzugs ordnete das Strassenverkehrsamt eine verkehrsmedizinische Fahreignungsabklärung an, da ein Verdacht auf eine Alkoholproblematik bestand.

Führerscheine müssen entzogen werden, wenn die Voraussetzungen zur Erteilung nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Leidet jemand an einer (Alkohol)Sucht, muss der Führerschein sicherheitshalber auf unbestimmte Zeit entzogen werden (Art. 16d Abs. 1 lit. b SVG). Bestehen lediglich Zweifel an der Fahreignung, muss eine Fahreignungsuntersuchung angeordnet werden. Fährt jemand mit 0.8 mg/L bzw. 1.6 Promille oder mehr, besteht eine gesetzliche Vermutung, dass ebensolche Zweifel bestehen (Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG). Mit der Fahreignungsabklärung wird i.d.R. auch ein vorsorglicher Entzug der Fahrerlaubnis nach Art. 30 VZV angeordnet. Da die Voraussetzungen der Fahreignungsabklärung und des vorsorglichen Entzugs aber nicht deckungsgleich sind, kann in Ausnahmefällen vom vorsorglichen Entzug abgesehen werden. Die Ausnahme muss von der Behörde nachvollziehbar begründet werden. Das automobilistische Verhalten der betroffenen Person während des Verfahrens muss bei der Sachverhaltsabklärung mitberücksichtigt werden (zum Ganzen E. 3).

Die Atemalkoholprobe der Beschwerdeführerin lag knapp unter dem magischen Wert von 0.8 mg/L bzw. 1.6%, womit eine Fahreignungsabklärung nicht zwingend, aber auch nicht unmöglich ist. Die Beschwerdeführerin wirft den Vorinstanzen vor, den „Leitfaden Fahreignung“ nicht eingehalten zu haben. Dieser stellt jedoch nur eine Orientierungshilfe für Behörden dar. Er ist kein verbindlicher Erlass. Dreh- und Angelpunkt in dieser Sache ist die „Selbstbelastung“ der Beschwerdeführerin, indem sie sich selber ein Alkoholproblem attestierte.

Die Vorinstanzen sahen in dieser Äusserung sowie dem Fiaz von 1.58% genug Zweifel für die Anordnung der Abklärung. Das Bundesgericht widerspricht aber den kantonalen Instanzen. Zunächst weist es darauf hin, dass die Gefahrenlage offenbar keinen vorsorglichen Entzug nötig machte. Zu Gunsten der Beschwerdeführerin wirken sich auch ihr unbescholtener Leumund aus und ebenso favorable Drittauskünfte (Arzt, Arbeitgeber). Während des Verfahrens hat sich die Beschwerdeführerin zudem bewährt. Schliesslich bringt das Bundesgericht vor, dass nicht nachvollziehbar begründet wurde, weshalb die Fahreignungsabklärung ohne vorsorglichen Entzug angeordnet wurde. Die Beschwerde wird gutgeheissen und das kantonale Urteil aufgehoben.

Vorsicht Meinung: Je länger ich darüber nachdenke, desto seltsamer finde ich den Entscheid. Zunächst sagt das Bundesgericht in E. 3.2., dass eine Fahreignungsabklärung nur angeordnet werden darf, wenn ernsthafte Zweifel an der Fahreignung der betroffenen Person bestehen. Das Gesetz fordert aber „nur“ Zweifel. Die ernsthaften Zweifel werden eigentlich für den vorsorglichen Entzug vorausgesetzt. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit den beiden Sicherungsmassnahmen nahm das Bundesgericht z.B. in Urteil 1C_184/2019 E. 2.1. vor. Zudem kreiert das Bundesgericht vorliegend eine Art Meta-Voraussetzung für die zuständigen Behörden, nämlich dass sie begründen müssen, wieso kein vorsorglicher Entzug angeordnet wurde mit der Fahreignungsabklärung. Aus meiner Sicht aber müssen die Behörden einfach dartun, ob „normale“ Zweifel für die Fahreignungsabklärung oder eben ernsthafte Zweifel für den vorsorglichen Entzug bestehen. Der Entscheid liefert sicher eine gute Basis für den nächsten Stammtisch nach der SVG-Tagung…

Mangelnde Kooperation bei der Fahreignungsabklärung

Urteil 1C_780/2021: Vorsorglicher Führerscheinentzug ist keine Massnahme des Verwaltungszwangs zur Durchsetzung einer Fahreignungsabklärung (tlw. gutgh. Beschwerde)

Das Urteil befasst sich mit der Frage, wie die zuständigen Ämter vorgehen können, wenn eine betroffene Person der Anordnung einer Fahreignungsabklärung nicht Folge leistet. Der nicht vorbelastete Beschwerdeführer wehrt sich in vorliegender Sache gegen die Anordnung einer Fahreignungsabklärung sowie eines vorsorglichen Entzuges seiner Fahrerlaubnis. Da die Anordnung der Fahreignungsabklärung bereits in Rechtskraft erwachsen ist (vgl. dazu E. 3), befasst sich das Bundesgericht hauptsächlich mit der Frage, ob die Anordnung des vorsorglichen Führerausweisentzugs rechtmässig war.

Aufgrund eines Vorfalles von mutmasslicher häuslicher Gewalt führte die Polizei in der Wohnung der ehemaligen Partnerin des Beschwerdeführers, wo auch er sich aufhielt, eine Kontrolle durch. Der Beschwerdeführer war alkoholisiert und gab gegenüber den Beamten an, dass er einmal wöchentlich deswegen in eine Therapie gehe. Die Polizei erstelle einen Bericht und leitete eine Kopie davon weiter an das Strassenverkehrsamt. Dieses ordnete zunächst eine Fahreignungsabklärung an wegen des Verdachts auf eine Trunksucht. Die eingeschriebene Verfügung holte der Beschwerdeführer nicht ab. Gut einen Monat später wurde vom Strassenverkehrsamt der vorsorgliche Führerscheinentzug angeordnet. Allerdings holte der Beschwerdeführer auch diese eingeschriebene Verfügung nicht ab. Erst wiederum etwa einen Monat später konnte dem Beschwerdeführer die Verfügung von der Polizei übergeben werden.

Der Beschwerdeführer erachtet den vorsorglichen Führerscheinentzug als rechtswidrig, weil der auslösende Vorfall – ein Ehestreit – keinerlei Bezug zum Strassenverkehr hatte. Die Polizei hätte auch keinen Atemalkoholtest anordnen dürfen (E. 4.1). Die kantonalen Instanzen stellten sich auf den Standpunkt, dass bei der Anordnung einer Fahreignungsabklärung grds. stets auch ein vorsorglicher Führerscheinentzug anzuordnen sei und dass andererseits die mangelnde Mitwirkung des Beschwerdeführers die Zweifel an der Fahreignung verstärken würden. Zu den Mitwirkungspflichten gehöre nach Ansicht der kantonalen Behörden, dass die betroffene Person die Untersuchungskosten vorschiessen und an den Untersuchungshandlungen teilnehmen muss. Nach Ansicht der Vorinstanz sei der vorsorgliche Sicherungsentzug die einzige Massnahme, mit welcher eine Fahreignungsabklärung durchgesetzt werden könne, wenn die betroffene Person es versäumt, ihren Mitwirkungspflichten nachzukommen (E. 4.2).

Autofahrer*innen müssen fahrgeeignet sein. Fahreignung setzt voraus, dass man frei von Süchten ist, die das sichere Führer von Motorfahrzeugen beeinträchtigen (Art. 14 Abs. 1 lit. c SVG). Leidet jemand an einer Sucht im Sinne des SVG, muss die Fahrerlaubnis auf unbestimmte Zeit entzogen werden, um die übrigen Verkehrsteilnehmer zu schützen (Art. 16d Abs. 1 lit. b). Bestehen Zweifel an der Fahreignung einer Person, muss eine Fahreignungsabklärung angeordnet werden, um diese Zweifel zu besätigen oder auszumerzen (Art. 15d SVG). Sind die Zweifel ernsthafter Natur und muss der Verkehr sofort geschützt werden, wird die Fahrerlaubnis der betroffenen Person umgehend vorsorglich entzogen (Art. 30 VZV). Beim vorsorglichen Führerscheinentzug handelt es sich um eine Präventionsmassnahme zur Wahrung der Sicherheit im Strassenverkehr. Strafprozessuale Garantien nach Art. 6 EMRK finden deshalb in diesem Verwaltungsverfahren keine Anwendung (E. 4.3-5).

Auch wenn die Voraussetzungen für die Fahreignungsabklärung und den vorsorglichen Entzug sehr ähnlich sind, müssen die Massnahmen nicht in jedem Fall zusammen angeordnet werden (E. 4.6). Verweigert die betroffene Person bei der Fahreignungsabklärung die Mitwirkung, können durchaus negative Schlüsse auf ihre Fahreignung gezogen werden. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz ist der vorsorgliche Führerscheinentzug aber keine Massnahme des Verwaltungszwangs, welche automatisch angeordnet werden kann, wenn jemand die Mitwirkung bei der Fahreignungsabklärung verweigert. Nur wenn durch die mangelnde Mitwirkung in Rahmen einer Gesamtbetrachtung ernsthafte Zweifel gemäss Art. 30 VZV entstehen, kann der vorsorgliche Entzug angeordnet werden (E. 4.7). Eine Trunksucht liegt nach dem verkehrsrechtlichen Suchtbegriff dann vor, wenn jemand regelmässig so viel Alkohol konsumiert, dass seine Fahrfähigkeit vermindert wird und er keine Gewähr bietet, den Alkoholkonsum zu kontrollieren und ihn ausreichend vom Strassenverkehr zu trennen, oder wenn die Gefahr nahe liegt, dass er im akuten Rauschzustand am motorisierten Strassenverkehr teilnimmt. Ernsthafte Zweifel sind etwa dann angebracht, wenn jemand wiederholt Trunkenheitsfahrten unternommen hat (E. 4.8).

Vorliegend war ein Ehestreit Auslöser des Verwaltungsverfahrens. Ein Bezug zum Strassenverkehr ist nicht erkennbar. Die vagen Angaben des Beschwerdeführers, dass er in eine Therapie gehe, vermögen keine ernsthaften Zweifel an seiner Fahreignung zu begründen. Zudem hat der Beschwerdeführer einen ungetrübten Leumund. Auch wenn sich der Beschwerdeführer bzgl. der angeordneten Fahreignungsabklärung unkooperativ verhielt, kann dadurch nicht automatisch auf ernsthafte Zweifel geschlossen werden. In einer interessanten Klammerbemerkung vergleicht das Bundesgericht den vorliegenden Fall mit jenem von Urteil 1C_556/2012, nach welchem die Angabe, wöchentlich vier Joints zu rauchen, grds. mit der Fahreignung vereinbart werden kann.

Die Beschwerde wird bzgl. des vorsorglichen Führerscheinentzuges gutgeheissen. Das Bundesgericht macht es den zuständigen Strassenverkehrsämtern mit diesem Entscheid nicht einfach. Wenn sich der Sachverhalt nicht zu Lasten der betroffenen Person ändert bzw. sich diese vlt. sogar bessert und z.B. selbstständig auf den Konsum von Alkohol verzichtet, dann dürfte die Anordnung eines vorsorglichen Führerscheinentzugs nicht möglich sein und die Durchsetzung der Fahreignungsabklärung schwierig werden. Man könnte sich überlegen, solche seltenen Fälle mit einer Strafandrohung nach Art. 292 StGB zu verbinden.

Faksimilie-Unterschrift auf Strafbefehl

Urteil 6B_684/2021: Die Tücken des Massengeschäfts (gutgh. Beschwerde, für Publikation vorgesehen)

Dieses Urteil ist höchstinteressant, weil es aufzeigt, welche Fallstricke das Massengeschäft in der Verwaltung haben kann. Die Strafbehörden müssen stets aufpassen, dass sie im Bereich der Massendelinquenz und trotz speditiver Fallbearbeitung stets die gesetzlichen Vorgaben der Strafprozessordnung einhalten. Nicht jeder formeller Fehler kann nachträglich geheilt werden.

Wegen einem Rechtsüberholmanöver im Juli 2018 wurde der Beschwerdeführer zunächst wegen grober und schliesslich vom Appelationsgericht BS wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass der Strafbefehl wegen einem Formmangel nichtig sei. Der Strafbefehl war mit einem Unterschriftenstempel („Faksimilie-Stempel“) unterzeichnet. Ohne handschriftliche Unterschrift sei die Urheberschaft des Strafbefehls unklar gewesen. Die Vorinstanz stimmt dem Beschwerdeführer zu, dass ein Strafbefehl von der ausstellenden Person unterzeichnet werden muss und dass der Strafbefehl einen Formfehler hatte. Allerdings sei dieser Fehler nach der Einsprache des Beschwerdeführers mit der Überweisungsverfügung an das Gericht geheilt worden, weil sich mit dieser Verfügung die Staatsanwältin ausdrücklich als Ausstellerin des Strafbefehls bekannt habe. Zudem vertritt die Vorinstanz die Auffassung, dass die Benutzung von Faksimilie-Stempel im Bereich des strafprozessualen Massengeschäfts generell zulässig sei.

Gemäss Art. 353 Abs. 1 lit. k StPO enthält der Strafbefehl die Unterschrift der ausstellenden Person.

Bei schriftlichen Eingaben von Parteien reicht gemäss Art. 110 Abs. 1 StPO eine fotokopierte oder faksimilierte Unterschrift nicht. Gleiches gilt gemäss Art. 80 Abs. 2 StPO auch für Entscheide, was letztlich der Rechtssicherheit dient. Auch für Strafbefehle gilt, dass Aussteller und Unterzeichner identisch sein müssen. Weder darf eine unzuständige Person unterschreiben, noch darf der Strafbefehl „in Vertretung“ unterschrieben werden (zum Ganzen ausführlich E. 1.3).

Daraus folgt, dass die eigenhändige Unterschrift auf einem Strafbefehl bezeugt, dass dieser bzgl. Schuld und Strafe dem Willen des Staatsanwaltes oder der Staatsanwältin entspricht. Bei der Unterschrift handelt es sich insofern um ein Gültigkeitserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit. Ergänzend kommt hinzu, dass bei fehlender Einsprache ein Strafbefehl zum Urteil wird, weshalb ein Strafbefehl wie ein Entscheid gemäss Art. 80 StPO eine eigenhändige Unterschrift zu enthalten hat. Damit überzeugt die Vorinstanz nicht, wenn sie ausführt, dass im Bereich des strafprozessualen Massengeschäfts mittels Faksimilie-Unterschrift vom Formerfordernis der eigenhändigen Unterschift abgewichen werden darf, auch wenn die Anwendung der Faksimilie-Stempel „streng reglementiert“ sei (vgl. E. 1.4.1).

Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist ein Strafbefehl mit einer Faksimilie-Unterschrift aber nicht nichtig, sondern lediglich ungültig. Nur krass fehlerhafte Verfahrenshandlungen führen zur Nichtigkeit eines Entscheides, z.B. wenn die entscheidende Behörde weder funktionell noch sachlich zuständig war. Deshalb prüft das Bundesgericht, ob der Mangel mit der Überweisungsverfügung an das Gericht geheilt wurde (vgl. E. 1.4.2).

Nach dem Grundsatz der Formstrenge müssen Verfahren innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Form durchgeführt werden. Erhebt die Staatsanwaltschaft nach Einsprache der beschuldigten Person Anklage an das Gericht, gilt der Strafbefehl als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1 StPO und 325 StPO). Im Hauptverfahren ist die Staatsanwaltschaft Partei (Art. 104 Abs. 1 lit. c StPO), womit ihre schriftlichen Eingaben datiert und unterzeichnet werden müssen (Art. 110 Abs. 1 StPO). Das Gericht prüft sodann die Anklage. Bestehen formelle Mängel wird die Sache an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen (Art. 329 StPO). In der Folge nimmt das Bundesgericht eine interessante Differenzierung vor:

Wenn der Strafbefehl bewusst im Sinne einer eigentlich Praxis – wie vorliegend zur Bewältigung des Massengeschäfts – ungültig mittels Faksimilie-Unterschrift ausgestellt wird, kann der Mangel durch die Überweisung an das Gericht nicht geheilt werden. Eine Heilung des Mangels einer ungültigen Unterschrift ist nur dann möglich, wenn auf die (eigenhändige) Unterschrift nicht bewusst verzichtet worden, sondern diese namentlich versehentlich unterblieben ist und damit die Nichteinhaltung des Gültigkeitserfordernisses nicht auf einer eigentlichen Praxis beruht (E. 1.5.2).

Die Beschwerde wird gutgeheissen. Damit ist klar, dass die Strafbehörden bei der Straffung ihrer Prozesse im Namen der Effizienz stets darauf bedacht sein müssen, dass sie die Formvorschriften der StPO einhalten.