Betriebsgefahr des stehenden Autos

Urteil 4A_314/2022: Wenn der Katalysator ein Brand verursacht

In diesem Fall macht ein Bauer bei einer Motorfahrzeughaftpflichtversicherung Ansprüche geltend, nachdem das abgestellte Fahrzeug eines Lieferanten durch einen heissen Katalysator einen Stallbrand verursachte. Das erstinstanzliche Gericht hiess die Klage gut, wobei es ausführte, dass der heisse und brandauslösende Katalysator als Folge des maschinellen Betriebs des Lieferwagens den Brand auslöste und damit die Haftpflichtversicherung aus Betriebsgefahr hafte. Das Kantonsgericht SZ wiederum hiess die gegen dieses Urteil erhobene Berufung gut mit der Begründung, dass der Katalysator sich zwar während dem Betrieb des Lieferwagens erhitzte, die Hitze selber dann aber nicht dem Betrieb des Fahrzeuges dient und damit auch keine dem Betrieb eigene Gefahr ist.

Umstritten ist in diesem Fall der Inhalt der Betriebsgefahr, denn gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG haftet ein Motorfahrzeughalter (bzw. seine Haftpflichtversicherung), wenn durch den Betrieb seines Fahrzeuges ein Mensch getötet wird oder Sachschaden entsteht. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass die Vorinstanz den maschinentechnischen Betriebsbegriff falsch ausgelegt habe, indem sie die durch den Betrieb des Lieferwagens entstandene Hitze am Katalysator nicht der Betriebsgefahr des Lieferwagens zurechnete, denn zumindest bei einem Verbrennungsmotor ist auch Hitze für die Fortbewegung eines Autos nötig.

Die Kausalhaftung von Art. 58 Abs. 1 SVG wird ausgelöst, wenn ein Motorfahrzeug in Betrieb ist. Dabei wird vom maschinentechnischen Betriebsbegriff ausgegangen. Der Halter haftet nur, wenn der Unfall in seiner Gesamtheit betrachtet mit der besonderen Gefahr, die durch den Gebrauch der maschinellen Einrichtungen des Motorfahrzeugs geschaffen wird, zusammenhängt. Ob das Auto dabei fährt oder steht, spielt keine Rolle. Es stellt sich also die Frage, ob ein heisser Katalysator bei einem parkierten Auto unter den maschinentechnischen Betriebsbegriff subsumiert werden kann (E. 3.3).

Die genaue Grenze zwischen dem Betrieb eines Motorfahrzeugs und dessen Nichtbetrieb lässt sich nicht rein aufgrund technischer Kriterien und schon gar nicht abstrakt beantworten, sondern muss jeweils wertend anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Auch wenn der Katalysator durch den Betrieb des Lieferwagens erhitzt wurde und zugleich ursächlich für den Stallbrand war, so erscheint die Brandgefahr als solche nicht als eine Gefahr, die dem Betrieb eines Motorfahrzeuges inhärent ist. Vielmehr hätte jeder in der Scheune abgestellte heisse Gegenstand dieselbe Brandgefahr ausgelöst. Aus Sicht des Bundesgerichts verwirklichte sich vorliegend eine gewöhnliche (Brand)Gefahr, die beim Lagern von heissen Gegenständen an ungeeigneten Orten entsteht. Zufälligerweise war der heisse Gegenstand hier einfach ein Auto bzw. dessen Katalysator (E. 3.4.3). Die Annahme der Halterhaftung hätte aus Sicht des Bundesgerichts vorliegend auch dem Zweck von Art. 58 Abs. 1 SVG widersprochen. Die strenge Halterhaftung wurde eingeführt, weil durch die Inbewegungsetzung eines tonnenschweren Autos sehr spezifische Gefahren entstehen, wie z.B. Schwierigkeiten beim Anhalten und Ausweichen von Hindernissen, mangelnde Stabilität, Lärm oder Vibrationen. Die Halterhaftung wird letztlich durch das öffentliche Interesse begrenzt. Klare (negative) Folgen des Autofahrens wie Unfälle werden von der Halterhaftung umfasst, weil dies auch im öffentliche Interesse liegt. Nicht im öffentlichen Interesse jedoch ist nach Ansicht es Bundesgerichts, dass ein Halter haftet, wenn sein noch heisses Auto ein Brand verursacht (E. 3.4.4). Und letztlich verweist das Bundesgericht darauf, dass man mit der strengen Halterhaftung aus rechtspolitischer Sicht die Folgen der Fortbewegung mit einem Auto abfedern wollte und nicht jene eines stehenden Fahrzeuges. Der Brand hängt daher, in seiner Gesamtheit betrachtet, nicht mit der besonderen Gefahr zusammen, die durch den Gebrauch der maschinellen Einrichtungen des Motorfahrzeugs geschaffen wird (zum Ganzen E. 3.4.5).

Die Halterhaftung wurde vorliegend zu Recht abgelehnt.

Rückzug der Einsprache bei geänderter Sach- und/oder Rechtslage

Urteil 6B_222/2022: „Die Einsprache, die ich bereute.“ (zur amtl. Publikation vorgesehen)

Im Bereich einer Baustelle innerorts überschritt der Beschwerdeführer die Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h um 49 km/h. Er wurde dafür wegen grober Verkehrsregelverletzung mit einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen bestraft. Gegen diesen Strafbefehl erhob der Beschwerdeführer Einsprache, mit welcher er die Genauigkeit der Geschwindigkeitsmessung in Frage stellte. Das von der Staatsanwaltschaft dazu veranlasste Gutachten kam allerdings zum Schluss, dass der Beschwerdeführer 50 km/h oder schneller gefahren ist. Trotz Rückzugs der Einsprache erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen krasser Geschwindigkeitsüberschreitung, also wegen dem Rasertatbestand. Die kantonalen Instanzen verurteilten den Beschwerdeführer wegen Rasens. Der Beschwerdeführer widersetzt sich dieser Verurteilung, da er aus seiner Sicht seine Einsprache zurückgezogen hatte und damit der ursprüngliche Strafbefehl rechtskräftig geworden sei.

Wird gegen einen Strafbefehl Einsprache erhoben, hat die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 355 StPO folgende Möglichkeiten, nachdem sie die weiteren Beweise abgenommen hat:

a. am Strafbefehl festhalten.
b. das Strafverfahren einstellen.
c. einen neuen Strafbefehl erlassen.
d. Anklage erheben.
e. nicht vom Gesetz erfasst wird die Möglichkeit, den Strafbefehl zu ergänzen (zum Ganzen der Beitrag vom 21.10.2019)

Ergibt die Untersuchung bzw. die Abnahme der Beweise nach der Einsprache, dass sich die Sach- oder Rechtslage anders präsentiert und damit auch das Strafmass oder die Sanktionen ändern, ist die Staatsanwaltschaft nicht mehr an den ursprünglichen Strafbefehl gebunden. Das Gebot der „reformatio in peius“ gilt dann nicht mehr. Die Staatsanwaltschaft muss danach einen neuen Strafbefehl erlassen oder Anklage erheben, je nachdem ob das Strafmass nach der neuen Sach- oder Rechtslage noch strafbefehlstauglich ist. Für so neu entdeckte Delikte muss gemäss Art. 309 StPO eine neue Untersuchung eröffnet werden. Sie werden vom ursprünglichen Strafbefehl nicht mehr umfasst, womit auch der Rückzug einer allfälligen Einsprache diese Delikte nicht tangiert (E. 1.1.2 f.).

Daraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft trotz Rückzugs der Einsprache Anklage erheben durfte, da diese aufgrund der neuen Beweise bzw. des Gutachtens nun davon ausgehen musste, dass der Rasertatbestand erfüllt war. Das BGer verweist auch darauf, dass die Einsprache ein Rechtsbehelf und kein Rechtsmittel ist. Nach einer Einsprache kann die betroffene Person diese grds. nicht einfach zurückziehen. Vielmehr ist, wenn Einsprache erhoben wurde, die Verfügungsmacht der beschuldigten Person bis zum Entscheid der Staatsanwaltschaft über den neuen Verfahrensausgang nach Art. 355 Abs. 3 lit. a-d StPO entzogen.

Strafprozessual lief also alles rechtens ab.

Im Sinne einer Eventualbegründung bringt der Beschwerdeführer vor, dass er nicht vorsätzlich gehandelt habe. Dem subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 4 SVG haben wir uns bereits im Beitrag vom 4. November 2022 ausführlich gewidmet. Deshalb machen wirs hier kurz: Wer i.S.v. Art. 90 Abs. 4 SVG rast, erfüllt grds. auch den subjektiven Tatbestand. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wie z.B. einem technischen Defekt am Gaspedal, einer Drohung oder Geiselnahme, kann der subjektive Tatbestand entfallen bzw. ein Rechtfertigungsgrund für das Rasen vorliegen. Das Argument des Beschwerdeführers, dass die Signalisation nicht ausreichend war, verwarf die Vorinstanz zu Recht. Auch die Angabe eines technischen Problems mit dem Turbolader erwies sich als unglaubwürdig.

Somit wird die Beschwerde abgewiesen.

Sperrfrist nach Annullierung des FAP

Urteil 1C_650/2021: Zusätzliche Sperrfrist nach Annullierung möglich? (gutgh. Beschwerde)

Spezialfälle sind die Knacknüsse der Juristen und bieten stets die Möglichkeit für kreative Lösungen, mit welchen die Grenzen des Rechtssystems ausgelotet werden. Dieses Urteil befasst sich mit der Frage, ob bei notorischen Verkehrsregelbrechern, deren Führerausweis auf Probe annulliert wird, eine zusätzliche Sperrfrist zu der ein- bzw. zweijährigen Sperrfrist gemäss Art. 15a Abs. 5 SVG angeordnet werden kann. Die Idee beruht einerseits auf dem Umstand, dass Inhaber des definitiven Führerausweises aufgrund der Kaskade im Wiederholungsfalle mit stets strengeren Massnahmen rechnen müssen. Andererseits kann die Kaskade nach der Annullierung eines Führerausweises auf Probe bei erneuter Delinquenz nicht angewendet werden. Bei einer neuen Warnmassnahme in einer zweiten Probezeit darf aber der Leumund gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG trotz dem „clean break“ einer Annullierung berücksichtigt werden (vgl. dazu Urteil 1C_136/2017 E. 3.5, das hier auch schon gefeatured wurde).

Aber der Reihe nach:

Der Beschwerdeführer ist kein unbeschriebenes Blatt. Er verfügt über ein reichhaltiges Palmares an Widerhandlungen bzw. Sanktionen:

  • Mittelschwere Widerhandlung mit Spezialtraktur – Führerausweisentzug für einen Monat
  • Schwere Widerhandlung mit Motorrad – Führerausweisentzug für drei Monate
  • Schwere Widerhandlung mit Motorrad – Führerausweisentzug für zwölf Monate
  • Schwere Widerhandlung mit Motorrad (Fahren trotz Entzug) – Kaskadensicherungsentzug, Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit, Sperrfrist 24 Monate. Hier war der Beschwerdeführer bereits Inhaber des FAP für die Kat. B.
  • Nach positivem verkehrspsychologischen Gutachten wurde die Fahrerlaubnis wiedererteilt und die Probezeit verlängert.
  • Im Mai 2020 mittelschwere Widerhandlung mit Personenwagen – Annullierung des FAP.
  • Im Juni 2020 Führen eines Motorrades während der Sperrfrist.

Nun wird es aber interessant: Nach Einsprache ordnete die zuständige Behörde eine auf Art. 15a Abs. 5 SVG gestützte „Wartefrist“ von 24 Monaten an. Dazu wurde in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG eine zusätzliche Sperrfrist von 48 Monaten verfügt. Der Beschwerdeführer wehrt sich vor Bundesgericht gegen diese zusätzliche, „leumundbedingte“ Sperrfrist. Im Wesentlichen bringt er vor, dass die Spezialregeln des Führerausweises auf Probe in sich geschlossen sind und es keine gesetzliche Grundlage für die Berücksichtigung seines Leumundes im Sinne von Art. 16 Abs. 3 SVG gibt.

Die Vorinstanz leitet Ihre Begründung aus Urteil 1C_136/2017 E. 3.5 (bzw. BGE 143 II 699 E. 3.5.7) ab. Dort entschied das Bundesgericht, dass Art. 15a SVG nur eine teilweise spezifische Regelung zum Führerausweis auf Probe enthält. Zwar beginnt die Kaskade nach der Annullierung eines FAP von neuem. Die Widerhandlungen vor der Annullierung aber dürfen gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG als getrübter Leumund berücksichtigt werden bei erneuten Verkehrsregelverstössen. Die Vorinstanz stellt sich somit auf den Standpunkt, dass die gesetzliche Sperrfrist von Art. 15a SVG bei unbelehrbaren Neulenkern zu vorteilhaft und kurz ist und dass in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG zugunsten der Verkehrssicherheit Zusatzfristen angeordnet werden müssen. Aus Sicht des Bundesgerichts ist die Berufung der Vorinstanz auf BGE 143 II 699 E. 3.5.7 (und auch BGE 146 II 300) unbehelflich, weil sich diese mit andersgelagerten Fällen befassten. Trotzdem prüft es danach umfassend, ob das Gesetz zusätzliche Sperrfristen zu denen in Art. 15a Abs. 5 SVG erlaubt. Es legt dazu den Artikel und die Verordnungsbestimmungen grammatikalisch aus:

Es ist offensichtlich, dass weder Art. 15a Abs. 5 SVG, noch Art. 35a und Art. 35b VZV dem Wortlaut nach zusätzliche Sperrfristen zur einjährigen bzw. zweijährigen nach Fahren trotz Sperrfrist ermöglichen. Gleiches gilt für die durch die Motion Freysinger geänderte Fassung der Bestimmungen (E. 5.2.1). Auch die weiteren Auslegungselemente weisen nicht darauf hin, dass zusätzliche Sperrfristen angeordnet werden können. Das Bundesgericht bezeichnet die bestehenden Regeln zum Führerausweis auf Probe als strenge Ahndung und Prävention von SVG-Widerhandlungen durch Neulenkerinnen und Neulenker, die damit der Erhöhung der Verkehrssicherheit dienen. Die Regelungen sind aus Sicht des Bundesgericht recht streng und ein in sich weitgehend geschlossenes System. Deshalb betrachtet es das Bundesgericht als nicht nötig, dass Neulenker neben den bereits strengen Folgen einer Annullierung mit einer zusätzlichen Sperrfrist in analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 3 SVG sanktioniert werden müssen (E. 5.2.2).

Eine zusätzliche Sperrfrist anzuordnen, geht also nicht. Nun kommt das grosse ABER:

Die Sperrfrist von Art. 15a Abs. 5 SVG ist eine Mindestsperrfrist. Das Gesetz nennt keine Gründe, nach welchen die Sperrfrist länger angeordnet werden kann. Eine Verlängerung ist in Ausnahmefällen jedenfalls dann geboten, wenn die einjährige Mindestsperrfrist bei ganzheitlicher Betrachtungsweise mit Blick auf die Entzugsdauer, die unter den gegebenen Umständen nach den Regeln für den Entzug des definitiven Führerausweises zu verfügen wäre, auch in Berücksichtigung der mit dem Entzug mit Verfallwirkung einhergehenden weitreichenden Folgen unangemessen und unbillig wäre.

Die Beschwerde wird also gutgeheissen, weil zur Sperrfrist von Art. 15a Abs. 5 SVG keine zusätzliche Sperrfrist verfügt werden kann. Dem Beschwerdeführer wird das aber wenig nützen, denn es ist davon auszugehen, dass die kantonale Behörde eine Sperrfrist nach Art. 15a Abs. 5 SVG anordnen wird, die über die Mindestentzugsdauer von vorliegend zwei Jahre hinausgehen wird.

Verantwortung des Geschäftsführers

Urteil 6B_1066/2022: Tödlicher Unfall beim Kuppeln

Dieses Urteil befasst sich mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Geschäftsführers eines Logistik-Unternehmens, wenn einer seiner Mitarbeiter bei einem Unfall ums Leben kommt. Ausgangslage ist ein tragischer Unfall. Ein Mitarbeiter des Beschwerdegegners kam bei einem Kupplungsmanöver ums Leben, als er einen Anhänger an sein Zugfahrzeug ankuppeln wollte. Anstatt mit dem Zugfahrzeug rückwärts auf den gesicherten Anhänger zuzufahren, liess er entgegen den SUVA-Richtlinien den Anhänger auf das Zugfahrzeug zurollen. Die Deichsel des Anhängers verfehlte die Kupplung des Zugfahrzeuges und der Mitarbeiter wurde zwischen dem Anhänger und dem Zug-LKW eingeklemmt. Dabei zog er sich tödliche Verletzungen zu.

Der Geschäftsführer wurde erstinstanzlich vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Dagegen wehrt sich die Witwe des Verstorbenen. Sie verlangt die Verurteilung des Beschwerdegegners sowie eine Genugtuung.

Gemäss Art. 117 StGB wird bestraft, wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht. Der Tatbestand setzt den Tod einer Person, eine Sorgfaltspflichtverletzung und den Kausalzusammenhang zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Tod voraus. Vorliegend geht es um ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt. Fahrlässig handelt kurz gesagt, wer eine Sorgfaltspflicht verletzt und dabei das erlaubte Risiko überschreitet. Bei einem Unterlassungsdelikt bleibt pflichtwidrig untätig, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist (Art. 11 Abs. 2 StGB). Der eingetretene Erfolg muss für den Täter vorherseh- und damit auch vermeidbar sein (E. 2.1.1).

Die Staatsanwaltschaft warf dem Beschwerdegegner und Geschäftsführer der Transportfirma vor, dass dieser den Verstorbenen nicht genügend instruiert habe. Zudem habe er aus Sicht der Anklage den Verstorbenen beim fatalen Kupplungsmanöver nicht überwacht. Der Verstorbene war zudem erst im Besitze eines Lernfahrausweises für Anhänger, weshalb er noch enger hätte überwacht werden müssen. Auch die Beschwerdeführerin bringt hervor, dass ihr verstorbener Gatte besonders eng durch den Beschwerdegegner hätte überwacht werden müssen, da Ersterer zweimal durch die Führerprüfung der Kat. CE gefallen ist. Aus ihrer Sicht hätte der Verstorbene nur noch LKW ohne Anhänger fahren dürfen.

Der Beschwerdegegner stellt sich dagegen auf den Standpunkt, dass Neulinge in seiner Firma stets durch erfahrene Mitarbeiter eingearbeitet und instruiert werden. Er persönlich hatte dem Verstorbenen das korrekte Kuppeln erklärt und es mit ihm geübt. Sogar am Unfallort übten sie zusammen das Kuppeln. Diese Aussagen wurden von weiteren Mitarbeitern gestützt. Nach der Vorinstanz kann dem Beschwerdegegner auch nicht vorgeworfen werden, dass der Verstorbene alleine unterwegs war. Andernfalls würde das faktisch dazu führen, dass LKW-Fahrer immer von ihren Vorgesetzten oder anderen Personen begleitet werden müssten. Auch wenn LKW-Fahrer nur den Lernfahrausweis für das Mitführen von Anhängern haben, benötigen diese nicht unbedingt eines Spezialbehandlung. Die Zeugen sagten zugunsten des Beschwerdegegners aus, dass dieser bei fehlerhaftem Verhalten stets und sofort eingegriffen habe und seinen Vorsichtspflichten nachgekommen sei. Es sei deshalb auch unerklärlich, wieso der Verstorbene die SUVA-Richtlinien zum Ankuppeln des Anhängers nicht einhielt (E. 2.3).

Der Beschwerdegegner hielt seine Sorgfaltspflichten also ein und wurde zu Recht freigesprochen. Im Umkehrschluss wurde die Zivilforderung der Beschwerdeführerin abgewiesen. Nur im Kostenpunkt reüssiert die Beschwerdeführerin. Zu Unrecht wurden ihr die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt.

Leichte Widerhandlung wegen Ausserortscharakter?

Urteil 1C_78/2022: Einfach wieder mal das Grundlegende

Manchmal tut es einfach gut, einen Entscheid zu lesen, der sich mit den Grundlagen des Administrativverfahrens auseinandersetzt. Repetition ist ja bekanntlich der Schlüssel dafür, dass man Grundlegendes nicht plötzlich vergisst und zudem kann anhand dieses Urteil die eine oder andere Urteilssammlung oder Kommentarstelle aktualisiert werden. Das Urteil befasst sich mit der Qualifikation der Widerhandlungen nach Art. 16ff. SVG, mit dem Schematismus zu Geschwindigkeitsüberschreitungen und mit der Bindung der Administrativbehörde an das Strafverfahren.

Der Beschwerdeführer überschritt innerorts die Höchstgeschwindigkeit von 50km/h um 33km/h, grds. eine grobe Verkehrsregelverletzung. Von der Staatsanwaltschaft aber wurde er wegen einfacher Verkehrsregelverletzung mit einer Busse von CHF 800.00 bestraft. Die Geschwindigkeitsüberschreitung erfolgte in ländlichem Gebiet, weshalb die Strafbehörde davon ausging, dass die Verkehrsregelverletzung nicht in rücksichtsloser Weise erfolgte und damit der subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt war. Die MFK SO entzog daraufhin den Führerausweis für eine Dauer von vier Monaten wegen einer mittelschweren Widerhandlung. Der Beschwerdeführer möchte allerdings gemäss Art. 16a SVG wegen einer leichten Widerhandlung mit einer Verwarnung sanktioniert werden.

Zunächst ruft das Bundesgericht die Definition der mittelschweren Widerhandlung in Erinnerung. Diese ist ein Auffangtatbestand und liegt vor, wenn weder die privilegierenden Voraussetzungen der leichten Widerhandlung (leichtes Verschulden und geringe Gefahr), noch die qualifizierenden Voraussetzungen der schweren Widerhandlung (schweres Verschulden und ernstliche Gefahr) erfüllt sind (s. E. 4.1.1).

Eine Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um mehr als 25km/h stellt nach dem gefestigten Schematismus grundsätzlich immer eine schwere Widerhandlung dar, wobei konkrete Umstände in der Regel nicht beachtet werden müssen. Nur in Ausnahmesituationen muss die zuständige Behörde vom Schematismus abweichen, z.B. wenn sich die betroffene Person aus nachvollziehbaren Gründen in einem Ausserortsbereich wähnte (E. 4.1.2).

Die Administrativbehörde ist grds. an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden (zum Ganzen E. 4.2.1), in der rechtlichen Würdigung desselben ist sie aber in der Regel frei. Allerdings muss sie dabei die Einheit der Rechtsordnung beachten und widersprüchliche Urteile vermeiden (zum Ganzen E. 4.2.2).

Die kantonalen Behörden erwogen, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 33km/h innerorts objektiv eine schwere Widerhandlung vorliegt. Mit Bezug auf das Strafurteil ging man aber davon aus, dass das Verschulden mittelschwer war, da sich die Widerhandlung in ländlichem Gebiet erfolgte. Ein leichtes Verschulden und eine geringe Gefahr lagen aber nicht vor, da es am Widerhandlungsort doch einige Wohnhäuser und auch Nebenstrassen gibt. Zudem gab der Beschwerdeführer an, die Strecke auswendig zu kennen, weshalb er hätte wissen müssen, dass er sich im Immerortsbereich befand. Damit kann auch sein Verschulden nicht mehr als leicht bezeichnet werden (E. 4.2). Das Bundesgericht stützt natürlich die Argumente der Vorinstanz und weist den Beschwerdeführer explizit darauf hin, dass die Vorinstanz im Sinne der Einheit der Rechtsordnung bereits vom Schematismus abgewichen ist, indem sie die objektiv schwere Widerhandlung als nur mittelschwer qualifizierte.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Charakterlicher Fahreignung Part II

Urteil 1C_763/2021: Manchmal muss man einfach in sich reingehen

Dieses Urteil ist quasi Teil 2 eines Verfahrens, nachdem sich der Beschwerdeführer bereits in Urteil 1C_405/2020 gegen die Anordnung einer verkehrspsychologischen Fahreignungsabklärung (ohne vorsorglichen Entzug) erfolglos gewehrt hat. Dieses Urteil haben wir hier übrigens auch schon gefeatured. Nun wurde die Fahreignung gutachterlich abgeklärt und verneint, weshalb das Strassenverkehrsamt Kt. BE konsequenterweise den Sicherungsentzug der Fahrerlaubnis anordnete. Dagegen wehrt sich der Beschwerdeführer.

In Ihrer Gesamtschau sind diese Urteile ziemlich interessant, weil sich das Bundesgericht viel öfters mit der Fahreignung aus medizinischer Sicht – sei es wegen Drogen, Alkohol oder auch Krankheiten – auseinandersetzen muss. Das vorliegende Urteil befasst sich exemplarisch mit den Voraussetzungen, welche Personen im Strassenverkehr in charakterlicher Hinsicht erfüllen müssen.

Wer als Motorfahrzeugführer am Strassenverkehr teilnehmen möchte, muss auf seine Mitmenschen Rücksicht nehmen (Art. 14 Abs. 2 lit. d SVG). Sind diese charakterlichen Eigenschaften nicht vorhanden, wird die Fahrerlaubnis sicherheitshalber entzogen (Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG). Massgeblich dafür ist, dass eine schlechte Prognose besteht hinsichtlich des Verhaltens der betroffenen Person im Strassenverkehr. Oder anders gesagt, es muss eine Rückfallsgefahr vorliegen. Ist die Prognose schlecht oder liegt gar ein negatives verkehrspsychologisches Gutachten vor, wird die Fahrerlaubnis entzogen. Das dient offensichtlich der Verkehrssicherheit. Da der Sicherungsentzug eine schwerwiegender Eingriff in den Persönlichkeitsbereich ist, muss jeder Einzelfall sorgfältig abgeklärt werden. Fanden diese Abklärungen im Rahmen einer Begutachtung statt, dürfen die Behörden nicht ohne trifftige Gründe vom Gutachten abweichen. Die Grenze der Bindung an Gutachten findet sich im Willkürverbot. Ist ein Gutachten offensichtlich widersprüchlich oder nicht schlüssig, verstösse das Abstellen drauf gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung (zum Ganzen E. 3).

Die Anordnung der verkehrspsychologischen Begutachtung basiert auf drei Vorfällen:

1. Bagatellkollision mit einem Rollerfahrer
2. Verkehrsunfall durch Überholen einer Joggerin an unübersichtlicher Stelle
3. Missachtung Fussgängervortritt

Nach all diesen Fällen verhielt sich der Beschwerdeführer gegenüber den Dritten äusserst feindselig und ging diese auch verbal aggressiv an. Dem Rollerfahrer fuhr er z.B. extra in den Roller. Beim Fussgänger fuhr der Beschwerdeführer ruckartig auf diesen zu, sodass dieser zur Seite schreiten musste. Im Rahmen der Begutachtung kam die zuständige Fachperson zum Schluss, dass der Beschwerdeführer überheblich und rechthaberisch sei. Er zeige aggressive Tendenzen und sehe sich als Opfer behördlicher Willkür. Von intrinsischer Motivation zur Verhaltensänderung also keine Spur. Die Fahreignung wurde verneint (E. 4).

Der Beschwerdeführer bemängelt, dass das Gutachten ihm nicht explizit eine schlechte Prognose attestiere, weshalb ihm die Fahrerlaubnis herauszugeben sei. Zunächst führt der Beschwerdeführer aus, dass einer Person der Führerausweis gemäss (Art. 16d Abs. 1 lit. c SVG) entzogen werden muss, wenn sie nicht einmal über ein Minimum an Verantwortungsbewusstsein, Beständigkeit und Selbstbeherrschung verfüge. Dann aber relativiert er plötzlich (zu Unrecht) seine Meinung, wenn er ausführt, dass rücksichtsloses Verhalten nur vorliege bei Schikanestopps, illegalen Rennen und Geschwindigkeitsüberschreitungen im Raserbereich.

Es gelingt dem Beschwerdeführer zusammenfassend nicht aufzuzeigen, dass das Gutachten willkürlich gewesen sei bzw. er bestreitet dies auch gar nicht. Insofern wird seine Beschwerde abgewiesen.

Gesetzesänderungen per 1. April 2023 und mehr

In diesem Beitrag widmen wir unsere Aufmerksamkeit für einmal nicht unseren Bundesrichtern, sondern unserem Gesetzgeber. Bereits anfangs Jahr sind einige Änderungen in Kraft getreten, aber die für die Praxis wirklich knackigen Änderungen sind für den 1. April geplant. Wir behandeln hier:

Änderungen per 1. April:
Raschere Verfahren bei entzogenen Führerausweisen
Mildere Massnahmen für Berufsfahrer

und mehr:
Motion 15.3574 Freysinger oder ein Herz für Junglenker

Weitere Infos:
Medienmitteilung Bund vom 17.11.2021
Medienmitteilung ASTRA vom 22.6.22
Medienmitteilung ASTRA vom 12.12.2022

Raschere Verfahren bei entzogenen Führerausweisen

Die Gesetzesänderung geht auf die Motion 17.4317 zurück und soll dafür sorgen, dass die zuständigen Behörden innert 10 Tagen über die Fahrerlaubnis entscheiden müssen, wenn diese durch die Polizei vorläufig abgenommen wird. Dazu werden die SKV und die VZV angepasst. In Art. 33 Abs. 2 SKV wird es neu heissen:

„Abgenommene Lernfahrausweise und Führerausweise sind der Entzugsbehörde des Wohnsitzkantons innert drei Arbeitstagen zu übermitteln.“

Dies wird in der Praxis keine grosse Änderung mit sich bringen, denn schon heute muss die Polizei vorläufig abgenommene Führerausweise gemäss Art 54 Abs. 5 SVG sofort an die zuständige Behörde übermitteln. Die für die Praxis grössere Änderung wird die Änderung von Art. 30 VZV sein. Dort heisst es u.a. neu in Absatz 2:

„Verfügt die kantonale Behörde bei polizeilich abgenommenen und ihr übermittelten Lernfahr- oder Führerausweisen innert 10 Arbeitstagen seit der polizeilichen Abnahme nicht mindestens den vorsorglichen Entzug, so gibt sie der berechtigten Person den Lernfahr- oder den Führerausweis zurück.“

Heutzutage kann es je nach Kanton einige Wochen dauern, bis die Grundlagen vorliegen, bis man über den vorläufig abgenommenen Ausweis entscheiden kann. Das gilt insb. dann, wenn aufgrund des Verdachts von Fahrunfähigkeit von der Staatsanwaltschaft eine Blutprobe angeordnet wurde und deren Ergebnis für die Beurteilung relevant ist.

Neu ist auch Art. 30a VZV, nach welchem die von einem vorsorglichen Führerausweisentzug betroffene Person alle drei Monate um eine Neubeurteilung ersuchen kann.

Auswirkungen für die Praxis:
Eine erste Auswirkung dürfte sein, dass zumindest in leichten Fällen von Fahren unter Drogeneinfluss (z.B. Cannabis) die Polizei den Führerausweis nicht mehr abnimmt, sondern nur noch ein zeitlich begrenztes Fahrverbot ausspricht. Das kann bei milderen Fällen durchaus verhältnismässig sein, dafür leidet die Verkehrssicherheit dann, wenn eine suchtkranke Person weiterfährt. Die Strassenverkehrsämter stehen sodann vor dem Problem, dass sie innert kürzester Zeit entscheiden müssen, ohne dass schlimmstenfalls die nötigen Unterlagen dazu vorliegen. Das bedeutet, dass möglicherweise mehr vorsorgliche Entzüge angeordnet werden und den Bürgern dadurch auch Verfahrenskosten auferlegt werden. In den seltenen Fällen, wo eine Blutprobe den Verdacht der Fahrunfähigkeit nicht erhärtet, könnte die Verfügung wiedererwägungsweise aufgehoben werden.

Vorsicht Meinung:
Dass Bürger durch die Neuerung schneller darüber im klaren sind, was mit ihrer Fahrerlaubnis passiert, ist grds. positiv zu werten. Für die Behörden wird diese Neuerung vermutlich einen Mehraufwand mit sich bringen. Die Gerichte werden darüber entscheiden müssen, welche Beweise ausreichen, um einen vorsorglichen Führerscheinentzug bzw. die ernsthaften Zweifel zu begründen.

Ebenfalls mehr Arbeit für die zuständigen Behörden wird es geben, weil die betroffene Person alle drei Monate um eine Neubeurteilung ersuchen kann, zumal das Gesuch gemäss den Erläuterungen nicht einmal begründet werden muss. Da über das Gesuch allerdings mittels anfechtbarer Verfügung entschieden werden muss, werden die Gesuche wohl eine Kostenfolge haben, welche die betroffene Person davon abhalten könnte, alle drei Monate ein Gesuch zu stellen.

Mildere Massnahmen für Berufsfahrer

Der neue Art. 33 Abs. 5 VZV enthält eine Härtefallregelung für Berufsfahrer und basiert auf der Motion 17.3520. So heisst es dort neu:

„Die kantonale Behörde kann Ausweisinhabern eine Bewilligung für Fahrten während des Lernfahr- oder des Führerausweisentzugs erteilen, sofern diese zu ihrer Berufsausübung notwendig sind. Sie legt die Einzelheiten der bewilligten Fahrten in ihrer Verfügung fest. Voraussetzung ist, dass der Ausweis:

a. wegen einer leichten Widerhandlung nach Artikel 16a SVG entzogen wird;
b. nicht auf unbestimmte Zeit oder für immer entzogen wird; und
c. in den vorangegangenen fünf Jahren nicht mehr als einmal entzogen worden ist.“

Es wird also trotzdem ein Entzug angeordnet, dabei aber berufsbedingte Fahrten bewilligt. Nach den Erläuterungen soll in der Verfügung genau bezeichnet werden, welche Fahrten das sein sollen. Dabei können die Fahrten an ein Fahrzeug, ein Gebiet oder eine Wegstrecke usw. begrenzt werden. Als Beispiel für berufsbedingte Fahrten werden z.B. jene des LKW- oder Taxifahrers genannt. Es wird also darauf abgestellt, ob das Führen von Motorfahrzeugen zur Kernaufgabe der Berufsausübung gehört. Der Begriff muss eng ausgelegt werden.

Auswirkungen für die Praxis:
In der Praxis wird sich herauskristallisieren müssen, wie eng genau der Begriff der berufsbedingten Fahrt ausgelegt werden muss. Der Einfachheit halber sollte man sich dabei wohl an Art. 16 Abs. 3 SVG orientieren, wo die berufliche Massnahmeempfindlichkeit ebenfalls ein Beurteilungskriterium ist. Die Neuerung dürfte ebenfalls dazu führen, dass bei einfachen Verkehrsregelverletzungen vermehrt Verfahren geführt werden, in welchen Berufsfahrer darauf plädieren, dass nur eine leichte Widerhandlung vorläge, wenn die Voraussetzungen vom neuen Art. 35 Abs. 5 VZV sonst erfüllt sind.

Motion 15.3574 Freysinger

Bereits im Juni 2015 reichte Oskar Freysinger seine Motion ein, mit welcher er verlangte, dass eine leichte Widerhandlung nicht mehr zur Annullierung des Führerausweises auf Probe führen kann. Der neue Gesetzestext wird lauten:

„Art. 15a Abs. 3 erster Satz und 4
3 Wird dem Inhaber der Führerausweis auf Probe wegen Begehung einer mittelschweren oder schweren Widerhandlung entzogen, so wird die Probezeit um ein Jahr verlängert. …
4 Der Führerausweis auf Probe verfällt, wenn der Inhaber während der Probezeit eine weitere mittelschwere oder schwere Widerhandlung begeht.“

Die Voraussetzungen für die Verlängerung der Probezeit sowie die Annullierung des Führerausweises auf Probe werden für die betroffenen Personen milder. Unweigerlich wird dies zu weniger Annullierungen führen und das relativ strenge Recht für Neulenker entschärfen.

Auswirkungen für die Praxis:
Zunächst wird es keine widersprüchliche Situationen mehr geben in der Situation, in welcher Neulenker, die eine leichte und mittelschwere Widerhandlung begangen haben, ungleich behandelt werden. Derjenige, welcher zunächst eine leichte Widerhandlung begeht und dann die mittelschwere, behält seine Fahrerlaubnis. Wenn aber die leichte der Widerhandlung der mittelschweren folgt, dürfte meistens die Annullierung die Folge sein, weil die leichte Widerhandlung dann auch zu einem Entzug führt (vgl. zu diesem Dilemma BGE 136 I 345 E. 6.2ff.)

Allgemein wird es aber in der Praxis dazu führen, dass in viel mehr Administrativverfahren, in welchen eine einfache Verkehrsregelverletzung als mittelschwere Widerhandlung qualifiziert wird, die Betroffenen Rechtsbehelfe oder -mittel einsetzen werden, um damit auf eine leichte Widerhandlung zu plädieren. Insbesondere dann, wenn es um die zweite Widerhandlung innerhalb der Probezeit geht.

Vorsicht Meinung:
Wird der Führerausweis auf Probe annulliert, besteht eine gesetzliche Vermutung, dass die betroffene Person charakterlich nicht fahrgeeignet ist. Sie muss ihre Fahreignung abklären lassen. Ob die neue Regelung nun gut ist oder nicht, sei dahingestellt. Sie wird der Verkehrssicherheit sicherlich abträglich sein. Andererseits wird sie auch dazu führen, dass die drakonische Massnahme der Annullierung etwas zurückhaltender angewendet wird. Einige der betroffenen Personen haben ihre Annullierung nach dem geltenden Recht sicherlich „verdient“, z.B. nach zwei schweren Fällen. Bei solchen Personen macht die Abklärung des Charakters Sinn. In anderen Fällen mag die gesetzliche Vermutung allerdings etwas weit hergeholt sein, z.B. wenn eine Person wegen Glatteis in fahrlässiger Weise von der Strasse kommt und eine mittelschwere Widerhandlung begeht und danach als zweite Widerhandlung die Geschwindigkeit innerorts um 16 km/h überschreitet.

Psyche und Fahreigung

Urteil 1C_405/2022: Vorsorglicher Entzug bei psychischen Erkrankungen

Die Beschwerdeführerin leidet an einer bipolaren affektiven Störung, welche von einer manischen Episode mit psychotischen Symptomen zu einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode wechselte. Die IV-Stelle des Kt. AG erstattete deshalb gemäss Art. 66c IVG eine Meldung an das Strassenverkehrsamt des Kt. AG, dass man an der Fahreignung der Beschwerdeführerin zweifelt. Der Führerausweis wurde daraufhin vorsorglich entzogen und eine verkehrsmedizinische Untersuchung angeordnet. Die kantonalen Instanzen wiesen die erhobenen Rechtsmittel ab, wobei das Verwaltungsgericht es dem Bundesgericht überliess, ob der vorsorgliche Entzug noch gerechtfertigt sei. Grund dafür war ein neu eingereichter ärztlicher Bericht.

Der neu eingereichte ärztliche Bericht war allerdings ein unzulässiges echtes Novum, weil er erst nach dem angefochtenen Urteil erging. Damit ist das Beweismittel für das Verfahren nicht massgeblich (E. 2).

Die Beschwerdeführerin rügt, dass sich das Strassenverkehrsamt auf die Akten stützte und keine weiteren Abklärungen traf (z.B. Auskunft einholen bei der behandelnden medizinischen Fachperson). Der vorsorgliche Führerausweisentzug gemäss Art. 30 VZV ist eine vorsorgliche Massnahme i.S.v. Art. 98 BGG. Vorsorgliche Massnahmen werden in dringlichen Fällen angeordnet. Sie basieren grundsätzlich auf einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage. Der Entscheid ergeht i.d.R. aufgrund der vorhandenen Akten ohne weitere Beweiserhebungen. Erst im Hauptverfahren wird dann anhand einer umfassenden Prüfung sämtlicher fallrelevanten Gesichtspuntke entschieden, ob ein Sicherungsentzug angeordnet werden muss, namentlich nach Abschluss der verkehrsmedizinischen Untersuchung. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass das Strassenverkehrsamt keine weiteren Abklärungen traf.

Eine Fahreignungsabklärung wird angeordnet, wenn gemäss Art. 15d SVG Zweifel an der Fahreignung bestehen. In den in Art. 15d Abs. 1 lit. a-e SVG genannten Fällen bestehen immer Zweifel an der Fahreignung. Macht eine IV-Stelle gemäss Art. 66c IVG eine Meldung, ist die Anordnung einer Fahreignungsabklärung obligatorisch (E. 5.1). Wird eine Fahreignungsabklärung angeordnet, muss der Führerausweis prinzipiell auch vorsorglich, zugunsten der Verkehrssicherheit, entzogen werden, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 30 VZV strenger sind, als jene von Art. 15d SVG. Nur in begründeten Ausnahmefällen kann von dieser Regel abgewichen werden (E. 5.2).

Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, dass die kantonalen Instanzen die ärztlichen Berichte völlig falsch interpretiert haben und es nie konkrete Anzeichen dafür gab, dass sie eine konkrete Gefahr für die Verkehrssicherheit darstelle. Gemäss den medizinischen Unterlagen wirke sich allerdings die psychische Erkrankung der Beschwerdeführerin negativ auf ihre Fahreignung aus. So sei ihre Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt und es bestehe eine leichte Suizidalität. Zudem gäbe einen umstrittenen Cannabiskonsum. Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass insbesondere die mangelnde Konzentrationsfähigkeit sich sehr wohl negativ auf die Fahreignung auswirken kann. Auch können den von der Beschwerdeführerin eingereichten Unterlagen keine Gründe entnommen werden, welche für eine Ausnahme vom vorsorglichen Entzug sprechen. Dass sich die Beschwerdeführerin in fahrunfähigem Zustand nie ans Steuer setzte und sie noch nie eine Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz begangen hat, ändert an diesem Ergebnis nichts.

Massnahmedauer nach Auslandstat

Urteil 1C_405/2021: Verhältnis von Art. 16 Abs. 3 zu Art. 16cbis SVG

Dieser Entscheid befasst sich mit der interessanten Frage, in welchem Verhältnis die Regeln der lex specialis von Art. 16cbis SVG zu den allgemeinen Regeln von Art. 16 Abs. 3 SVG stehen, wenn es um die Frage der Festlegung der Massnahmedauer geht.

Der Beschwerdeführer überschritt im Oktober 2019 in Deutschland auf der Autobahn die Höchstgeschwindigkeit von 60km/h um netto 41km/h. Er wurde dafür mit einem Bussgeld von EUR 160.00 – wir nehmen das aus Schweizer Sicht staunend zur Kenntnis – und einem Fahrverbot von einem Monat sanktioniert. Das Strassenverkehrsamt des Kt. BE entzog den Führerausweis daraufhin für 12 Monate wegen einer schweren Widerhandlung. Der Beschwerdeführer ist mit einer schweren Widerhandlung vorbelastet.

Bei der Festlegung der Dauer des Führerausweis-Entzugs werden grundsätzlich die Vorschriften für Inlandtaten angewendet, solange sich aus Art. 16cbis SVG nichts anderes ergibt. Art. 16cbis SVG geht nämlich als lex specialis den Regeln von Art. 16 Abs. 3 SVG vor, insbesondere die Regel, wonach die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbots zu beachten sind und die Mindestentzugsdauer unterschritten werden darf. Der Beschwerdeführer stellt sich nun auf den Standpunkt, dass die Mindestentzugsdauer nicht nur wegen den Auswirkungen des ausländischen Fahrverbotes unterschritten werden kann, sondern dass dafür generell die allgemeinen Regeln von Art. 16 Abs. 3 SVG massgeblich sein müssen.

Die Sätze 1 und 2 von Art. 16cbis Abs. 2 SVG bezwecken gemäss den Materialien die Vermeidung einer Doppelbestrafung durch das ausländische Fahrverbot und den inländischen Führerausweis-Entzug. Die Massnahmen sollen in ihrer Gesamtheit schuldangemessen sein, weshalb die Mindestentzugsdauer unterschritten werden kann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass man in gewissen Konstellationen vom ausländischen Fahrverbot gar nicht betroffen wird (z.B. nach Ferien in einem weit entfernten Land), in anderen aber schon (z.B. wenn man täglich berufsbedingt in ein Nachbarland fahren muss). Massgeblich sind die Umstände des Einzelfalles (zum Ganzen E. 3.4.1). Das einzige Kriterium zur Beurteilung, ob die Mindestentzugsdauer unterschritten werden kann, ist also die Betroffenheit durch das ausländische Fahrverbot. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers spielen die weiteren Einzelfallumstände dabei keine Rolle (E. 3.4.2).

Schliesslich bestätigt das Bundesgericht die Vorinstanz darin, dass der Beschwerdeführer durch das ausländische Fahrverbot nicht wirklich betroffen ist, weshalb es keine Reduktion der Massnahmedauer gibt.

Rechtsüberholen: The Saga Continues

Urteil 1C_626/2021: Der Ordnungsbussentatbestand (gutgh. Beschwerde und zur amtlichen Publikation vorgesehen)

Dieses Urteil schliesst unmittelbar an den Entscheid 6B_231/2022 an, welchen wir hier auch schon behandelt haben. Es ist ein wegweisender Entscheid, denn das Bundesgericht präzisiert in dem Urteil, wann ein Rechtsüberholmanöver auf der Autobahn vom neuen Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 erfasst wird und aus administrativrechtlicher Sicht eine SVG-Widerhandlung vorliegt, welche nicht massnahmewürdig ist. Mit diesem ausführlichen und äusserst gut begründeten Urteil schafft das Bundesgericht Klarheit, wie mit Rechtsüberholmanövern künftig umzugehen sein wird.

Die Ausganglage ist ziemlich identisch mit jener vom Urteil 6B_213/2022. Der Beschwerdeführer führte im Juli 2020 – also noch im „alten“ Recht – auf der A8 bei Matten ein klassisches Rechtsüberholmanöver durch. Er wurde dafür rechtskräftig wegen einer groben Verkehrsregelverletzung bestraft. Das Strassenverkehrsamt Kt. BE entzog dem Beschwerdefüherer daraufhin die Fahrerlaubnis wegen einer schweren Widerhandlung für zwölf Monate, weil der Beschwerdeführer bereits mit einer schweren Widerhandlung vorbelastet war. Dieser stellt sich nun auf den Standpunkt, dass der in Art. 2 Abs. 2 StGB stipulierte Grundsatz der lex mitior auch im Administrativverfahren anwendbar ist. Da er aus seiner Sicht nach neuem Recht „nur“ einen Ordnungsbussentatbestand erfüllte, sei die Anordnung eines Führerscheinentzuges bundesrechtswidrig, denn bei Widerhandlungen, die nach dem Ordnungsbussengesetz sanktioniert werden, werden keine Massnahmen angeordnet (Art. 16 Abs. 2 SVG e contrario). Das Strassenverkehrsamt Kt. BE stellte sich auf den Standpunkt, dass Rechtsüberholen nach wie vor sehr gefährlich sei und deshalb als schwere Widerhandlungen sanktioniert werden müssen. Zudem sei für die Beurteilung einer Widerhandlung das Recht massgeblich, welches im Zeitpunkt der Widerhandlung herrschte, was die Anwendung des Grundsatzes der „lex mitior“ per se ausschliesse.

Gemäss Art. 102 Abs. 1 SVG finden die allgemeinen Regeln des StGB bei Widerhandlungen im Strassenverkehr Anwendung, soweit das SVG keine eigenen Regeln enthält. Mangels anderer Regelung im SVG, wird der Grundsatz der „lex mitior“ auch im Administrativverfahren angewendet. Der Grundsatz gilt allerdings nicht ungeingeschränkt. Wurde das Gesetz aus Gründen der Zweckmässigkeit geändert, wird der Grundsatz der „lex mitior“ nicht angewendet. Wenn das strafbare Verhalten aber aus ethischen Gesichtspunkten neu evaluiert wurde und deshalb das Gesetz angepasst, dann kann sich die betroffene Person auf das mildere Recht berufen (zum Ganzen ausführlich und lesenswert E. 4).

Im Folgenden setzt sich das Bundesgericht mit seiner bisherigen Rechtsprechung zum Rechtsüberholen auseinander, den Lehrmeinungen dazu sowie den Beweggründen des Gesetzgebers, welche zur Gesetzesänderung vom 1. Januar 2021 führten. Hervorzuheben ist, dass die Beurteilung, ob das neue Recht milder ist, nicht abstrakt, sondern stets anhand des Einzelfalles zu erfolgen hat. Der Beschwerdeführer führte ein „klassisches“ Rechtsüberholmanöver durch – Spurwechsel auf den Normalstreifen, Vorbeifahren, Wiedereinbiegen auf die linke Fahrbahn. Nach der langjährigen und gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts stellten solche Fahrmanöver stets grobe Verkehrsregelverletzungen gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG dar (E. 5.3.1). Diese Rechtsprechung wurde von der Lehre als zu streng kritisiert, da sie nicht mehr der Realität entspräche. Rechtsüberholen gehört zum Alltag und dass eine rechtsüberholte Person erschrickt und zu Fehlreaktionen verleitet wird, ist eher unrealistisch, zumal die rechtsüberholte Person bei einem allfälligen Spurwechsel den Spurenvortritt beachten muss (E. 5.3.2).

Jetzt wirds interessant: Das Bundesgericht setzt sich nun mit dem neuen Ordnungsbussentatbestand Ziff. 314.3 auseinander und liefert die langersehnte Antwort, wann ein Rechtsüberholen von der OBV erfasst wird. Das Bundesgericht widmet sich zunächst den Materialen zur Gesetzesänderung. Es stellt dabei fest, dass nach dem Willen des Gesetzgebers – entgegen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichts – nicht alle Fälle von Rechtsüberholen als grobe Verkehrsregelverletzung bzw. schwere Widerhandlung sanktioniert werden sollen. Ansonsten würde die Einführung des Ordnungsbussentatbestandes auch keinen Sinn ergeben. Der Gesetzgeber spezifizierte aber nicht, welche Fälle des Rechtsüberholens denn genau mit Ordnungsbusse bestraft werden sollen. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass „klassische Rechtsüberholmanöver“, welche eine nur geringe (oder keine) Gefährdung beinhalten, vom Ordnungsbussentatbestand erfasst werden. Sobald aber dem Rechtsüberholmanöver erschwerende Umstände hinzukommen und damit auch eine erhöht abstrakte Gefährdung, kommt der neue Ordnungsbussentatbestand nicht zur Anwendung (E. 5.4.3). Im übrigen hat der Bundesrat seine Kompetenzen aus Art. 15 OBG nicht überschritten. Damit muss das Bundesgericht den neuen Ordnungsbussentatbestand zwingend beachten und seine Rechtsprechung anpassen. Es spricht sich aber für eine enge Auslegung und zurückhaltende Anwendung der OBV aus. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (E. 5.5).

Im Anschluss an seine Ausführungen widmet sich das Bundesgericht nun der Widerhandlung des Beschwerdeführers und eruiert, ob diese unter den Ordnungsbussentatbestand subsumiert werden kann. Der Beschwerdeführer führte ein „klassisches“ Rechtsüberholmanöver durch. Die Strassenverhältnisse waren gut, die überholte Person musste ihre Fahrweise nicht anpassen. Die Sicht war gut und die Verkehrsmenge schwach. Erschwerende Umstände waren keine ersichtlich. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich somit auch von jenem aus dem Urteil 6B_231/2022, wo das Überholmanöver bei einer Autobahnausfahrt durchgeführt wurde, wo vermehrt Spurwechsel vorkommen. Zudem wurden in diesem Fall gleich vier Fahrzeuge überholt. Damit fällt die vorliegend beurteilte Widerhandlung mangels erschwerender Umstände unter den Ordnungsbussentatbestand. Deshalb muss vorliegend das mildere Recht angewendet werden. Aufgrund von Art. 16 Abs. 2 SVG darf keine administrativrechtliche Massnahme angeordnet werden. Der Führerscheinentzug von zwölf Monaten wird aufgehoben.