BGE der Woche

Nichts weltbewegendes, deshalb eher im Telegramstil:

BGE 6B_917/2019: Gefährliches überholen eines LKW

Die Beschwerdeführerin überholte bei starkem Verkehrsaufkommen auf einer dreispurigen Autobahn einen Sattelschlepper. Nach dem Überholen wechselte sie auf die 1. Überholspur und bremste brüsk, um auf die Normalspur bzw. Ausfahrt zu fahren. Der Sattelschlepper musste stark bremsen und Ausweichen um einen Unfall zu vermeiden. Das BGer bestätigt die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung.

BGE 6B_1190/2019: Gefährliches Überholen eines LKW II

Der Beschwerdeführer überholte vor dem Limmattaler Kreuz ebenfalls auf der 2. Überholspur einen LKW, wechselt wieder auf die 1. Überholspur und beabsichtigte dann auf die rechte Fahrspur zu wechseln, wo stockender Verkehr herrschte. Weil er seine Geschwindigkeit drosselte, kollidierte der LKW mit seinem Heck. Das BGer stützt die Verurteilung wegen einfacher Verkehrsregelverletzung. Wir stellen fest: Die Zürcher Strafbehörden sind milder, wie die im Kt. BE.

BGE 6B_1300/2019: Unfall auf Gegenfahrbahn

Wegen einem Sekundenschlaf oder einer Unaufmerksamkeit geriet der Beschwerdeführer in einer Rechtskurve auf die Gegenfahrbahn und die linksseitige Grünfläche. Mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kam es zu einer seitlichen Frontalkollision, wobei der Unfallgegner verletzt wurde. Das BGer stützt die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung.

BGE 1C_470/2019: Unfall beim Überholen

Auf einer Ausserortsstrasse wollte der Beschwerdeführer ein anderes Fahrzeug überholen. Als ihm ein anderes Fahrzeug entgegenkam, wollte er wieder auf die rechte Spur wechseln, wobei er mit dem quasi-überholten Fahrzeug kollidierte. Er wurde wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. Das Strassenverkehrsamt ging danach zu Recht von einer mittelschweren Widerhandlung aus.

BGE 1C_364/2019: Streifkollision mit Mittelleitplanke

Der Beschwerdeführer streifte auf der Autobahn die Mittelleitplanke wegen einer Unaufmerksamkeit und erhält dafür eine Übertretungsbusse von CHF 200.00, einfache Verkehrsregelverletzung. Die MFK SO geht zu Recht von einer mittelschweren Widerhandlung aus.

Ermessen bei der Massnahmedauer

BGE 1C_235/2019:

Dem Beschwerdeführer wurde der FAP erstmals im Juni 2011 erteilt. Nach zwei Widerhandlungen wurde der FAP annulliert, nach erneuter Prüfung erhielt der Beschwerdeführer im September 2014 wieder den FAP für die Kat. B. Im Oktober 2016 überschritt der Beschwerdeführer ausserorts die Geschwindigkeit um 36km/h, woraufhin dem Beschwerdeführer der Ausweis für 13 Monate entzogen wurde. Das Strassenverkehrsamt ging von einer kaskadenrelevanten schweren Widerhandlung aus und insofern von einer Mindestentzugsdauer von 12 Monaten, was sich aber als bundesrechtswidrig erwies (vgl. BGE 1C_595/2017). Die Sache wurde an das Strassenverkehrsamt zurückgewiesen, welches erneut einen Führerscheinentzug von 13 Monaten anordnet im Rahmen der Einzelfallbeurteilung. Der Beschwerdeführer erachtet die Massnahmedauer als unverhältnismässig.

Mit der Rückweisung erteilte das Bundesgericht den kantonalen Behörden, die Massnahmedauer unter Berücksichtigung der Mindestentzugsdauer von drei Monaten nach Art. 16 Abs. 3 SVG auszufällen (E. 2.3). Der Beschwerdeführer erblickt im Führerscheinentzug von 13 Monaten eine unverhältnismässige Massnahme (E 3.1). Der Beschwerdeführer überschritt das Tempolimit um 36km/h in der Nacht, wodurch die Sichtverhältnisse nicht optimal waren. Es liegt eine schwere Widerhandlung vor (E. 3.4.3).

In Bezug auf die Einzelfallbeurteilung ist der automobilistische Leumund zu berücksichtigen. Schon in seiner ersten Probezeit beging der Beschwerdeführer zwei schwere Widerhandlungen. Er musste sich einer verkehrspsychologischen Begutachtung unterziehen. All dies schien sich nach Ansicht des BGers nicht nachhaltig ausgewirkt zu haben. Auch dass er sich während dem Verfahren wohlverhalten hat oder dass er nunmehr in geänderten familiären Verhältnissen lebt, belegt keine dauernde Verhaltensänderung. „Gegebenenfalls wird er später, wenn er wieder in den Besitz des Führerausweises gelangt, zeigen können, dass er sich künftig an die Verkehrsregeln hält“ (E. 3.5). Da der Beschwerdeführer wiederholt in schwerer Weise gegen das SVG verstiess, besteht ein erhebliches öffentliches Interesse, ihn länger von den Strassen fernzuhalten. Die privaten Interessen haben dabei zurückzutreten. Die Massnahmedauer ist insofern verhältnismässig und nicht bundesrechtswidrig (E 3.6).

Im Rahmen der Einzelfallbeurteilung haben die Strassenverkehrsämter also ein grosses Ermessen, auch wenn die Kaskade nach der Annullierung eines FAP nicht mehr zur Anwendung gelangt. Faktisch sind damit gleich lange Führerscheinentzüge möglich.

Halterhaftung bei Ordnungsbussen

BGE 6B_722/2019: Halterhaftung

Mit dem Fahrzeug des Beschwerdeführers wurde auf der Autobahn zu schnell gefahren, wofür ihm eine Ordnungsbusse von CHF 120.00 auferlegt wurde. Das Foto des Messgerätes war schlecht und der Beschwerdeführer konnte nicht sagen, wem er sein Auto gegeben hat. Seine Rechtsbehelfe und –mittel wurden von den kantonalen Instanzen abgewiesen. Der Beschwerdeführer verlangt einen Freispruch.

Meinungen der Parteien:

Der Beschwerdeführer stellt sich – kurz gesagt – auf den Standpunkt, dass wenn sich ein Fahrzeughalter für das ordentliche Strafverfahren entscheidet, ihm auch die entsprechenden Rechte gewährt werden sollten. Das OBG sei dann nicht mehr anwendbar, insofern auch nicht die Halterhaftung. Es habe eine Verurteilung nach Verschulden zu erfolgen. Wenn er aber als Halter verurteilt würde, so stelle dies eine Haftung nach Verantwortlichkeit dar und es fände eine Beweislastumkehr statt. Die Strafbehörden müssen den Verschuldensnachweis gar nicht mehr führen (E. 1.1).

Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass die Halterhaftung auch im ordentlichen Strafverfahren Anwendung findet. So habe der EGMR die Halterhaftung in einem Fall aus den Niederlanden geschützt. Er muss die Busse halt bezahlen (E. 1.2).

Das BGer:

Das Ordnungsbussenverfahren dient dazu, Bagatelldelikte im Strassenverkehr einfach und effizient zu erledigen (zum Ganzen ausführlich E. 1.3.1). Ist die lenkende Person nicht bekannt, haftet der Halter des Fahrzeuges, es sei denn er gibt den Behörden im Rahmen seiner Auskunftspflicht die verantwortliche Person an (E. 1.3.2). Der Geltungsbereich des OBG bezieht sich auch auf ein nachfolgendes ordentliches Verfahren. Dadurch werden auch die Verfahrensgarantien im ordentlichen Verfahren nicht verletzt. Hinzu kommt, dass es für einen Fahrzeughalter nicht übermässig kompliziert ist, zu wissen, wem er sein Fahrzeug anvertraut. Wieso der Beschwerdeführer seiner Auskunftspflicht nicht nachkommen konnte, legt er nicht dar. Die Beschwerde wird abgewiesen.

Let the Race begin! Mit und ohne Blaulicht

BGE 6B_931/2019: Rasen ohne Blaulicht

Der Beschwerdeführer war ausserorts mit 143km/h unterwegs und überschritt das Tempolimit um 63km/h. Dafür wurde er wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. Er verlangt vor BGer wegen grober Verkehrsregelverletzung dranzukommen.

Meinungen der Parteien:

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er ohne Vorsatz gehandelt habe, da es keine konkrete oder unmittelbare abstrakte Gefährdung Dritter gegeben habe. Ein Unfallrisiko mit Schwerverletzten oder Toten habe nicht bestanden. Eigengefährdung sowie Tiere werden von Art. 90 Abs. 3 SVG nicht erfasst. Zudem habe perfekten Raserwetter geherrscht. Gute Sicht, niemand zu sehen, bolzengerade Strecke (E. 1.1).

Die Vorinstanz stellt sich, kurz gesagt, auf den Standpunkt, dass man schon alleine an der vorbeiflitzenden Umgebung erkennen kann, wie schnell man ist und insofern das damit zusammenhängende Unfallrisiko in Kauf nimmt. Zudem kannte der Beschwerdeführer die Strecke und war nach eigener Aussage in Eile, um zu einer Verwaltungsratssitzung zu kommen (E. 1.2).

Das BGer:

Das Tempolimit ist eine wichtige Verkehrsregel für die Verkehrssicherheit. Das nach Art. 90 Abs. 3 SVG geforderte Risiko muss sich auf einen Unfall mit Todesopfern oder Schwerverletzten beziehen und somit ein qualifiziertes Ausmass erreichen. Der Erfolgseintritt muss vergleichsweise nahe liegen; gefordert ist ein „hohes“ Risiko. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine höhere als die in Art. 90 Abs. 2 SVG geforderte „ernstliche“ Gefahr handeln muss. Diese muss analog der Lebensgefährdung nach Art. 129 StGB unmittelbar, nicht jedoch unausweichlich sein. Da bereits die erhöhte abstrakte Gefahr im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung voraussetzt, ist für die Erfüllung von Abs. 3 die besonders naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung zu verlangen (E. 1.3.1). Der subj. Tatbestand erfordert (Eventual)vorsatz, wobei dieser im SVG nicht leichthin angenommen werden darf, weil der Täter meistens selbst zum Opfer zu werden droht. Vorsatz kann nur dann angenommen werden, wenn sich der Täter bewusst gegen das geschützte Rechtsgut entscheidet (E. 1.3.2). Wer eine in Art. 90 Abs. 4 SVG erfasste Geschwindigkeitsüberschreitung begeht, handelt grds. vorsätzlich. Nur in Extremsituationen darf ein Richter von keiner vorsätzlichen Tatbegehung ausgehen, z.B. technischer Defekt am Fahrzeug, Geiselnahme, Notfallfahrt ins Spital. Vorliegend ist kein solcher Grund ersichtlich (E. 1.3.3). Der nichtige Grund der Verwaltungsratssitzung zählt jedenfalls nicht. Die Vorinstanz ging zu Recht von eventualvorsätzlicher Tatbegehung aus (E. 1.4).

BGE 6B_1224/2019: Rasen mit Blaulicht

Im Jahr 2016 trieb in Genf eine möglicherweise bewaffnete Bande ihr Unwesen, Einbrüche und Autodiebstähle gehörten zu ihrem Repertoire. Einer der Verdächtigen war in Frankreich sogar wegen Mordes verurteilt. Im Februar 2017 verliess ein Fahrzeug mit vermummten Personen die Schweiz nach Frankreich, um später wieder in die Schweiz zu fahren. Dabei wollte eine Spezialeinheit der Polizei das Fahrzeug kontrollieren. Dieses entzog sich der Kontrolle, eine Verfolgungsjagd resultierte, die Spezialeinheit forderte Verstärkung an, was der Polizeibeamte und Beschwerdeführer 2 und seine Beifahrerin ebenfalls mitbekamen. Als sie zwei Fahrzeuge sahen, eines mit Blaulicht, folgten sie diesen ebenfalls mit Blaulicht, davon überzeugt, dass eines davon zur Spezialeinheit gehörte. Das war aber gar nicht der Fall. Der Beschwerdeführer 2 wurde in einer Wohnzone mit 126km/h geblitzt.

Die erste Instanz ging von einer qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung aus, die obere Gerichtsinstanz hiess die Berufung gut und verurteilte den Beschwerdeführer wegen grober Verkehrsregelverletzung. Die Staatsanwaltschaft verlangt mit Beschwerde die Verurteilung wegen Rasens, der Polizist verlangt mit Beschwerde einen Freispruch.

Zum subjektiven und objektiven Tatbestand kann auf oben verwiesen werden. Die Vorinstanz nahm beim Polizisten einen Sachverhaltsirrtum an. Zudem habe seine Kollegin ihm geholfen, die Risiken des Schnellfahrens zu minimieren, wodurch man nicht von vorsätzlicher Tatbegehung sprechen könne (E. 2.4). Auf den Sachverhaltsirrtum kommt es laut BGer nicht an, denn dieser ändert nichts am hohen Unfallrisiko. Das BGer folgt der Argumentation der Staatsanwaltschaft. Auch wenn die Beifahrerin des Polizisten ihn auf Gefahren hingewiesen hätte, wäre er von göttlicher Fahrkompetenz gesegnet, wenn er dann bei dem Tempo noch adäquat reagieren könnte. Zudem habe die Beifahrerin auch noch das Radio bedient und schaute gar nicht immer auf die Strasse. Auch ein spezielles Fahrtraining hat der Polizist nicht erhalten. Es gab insofern entgegen der Meinung der Vorinstanz keine aussergewöhnlichen Gründe, welche die gesetzliche Vermutung umstossen könnten, dass der subjektive Tatbestand nicht erfüllt sei (E. 2.5).

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird insofern gutgeheissen.

Verantwortlichkeit des Skilehrers

BGE 6B_1036/2019: Verantwortlichkeit von Skischullehrer, Einstellung wegen fahrlässiger Tötung einer Schülerin

Auf Skipisten herrscht bekanntlich ja auch „Verkehr“, weshalb wir diesen durchaus interessanten Entscheid nicht auslassen.

Auf der letzten Abfahrt einer Skischulgruppe stürzte eine 13-jährige in einen Bach und verletzte sich dabei so heftig, dass sie noch gleichentags starb. Die Staatsanwaltschaft eröffnete gegen den Skilehrer eine Untersuchung, stellte diese aber ein. Dagegen erheben die Eltern der Verstorbenen Beschwerde.

Strafverfahren werden gemäss Art. 319 Abs. 1 StPO eingestellt. Dabei hat sich die STA an den Grundsatz „in dubio pro duriore“ zu richten. Sofern eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint, als ein Freispruch, muss die STA Anklage erheben. Dasselbe gilt, wenn Verurteilung und Freispruch etwa gleich wahrscheinlich sind, insb. bei schweren Delikten. Das BGer überprüft dabei, ob die Vorinstanz von einer „klaren Beweislage“ ausgehen durfte (E. 2.1). Die Fahrlässige Tötung kann auch durch Unterlassen begangen werden. Vorausgesetzt sind eine Sorgfaltspflichtsverletzung sowie eine Garantenstellung (E. 2.2).

Der Skilehrer wies seine Schüler an, stets hinter ihm zu fahren und die Piste nur dann zu verlassen, wenn er das auch tut. Der Skilehrer habe stets geschaut, ob alle da sind. Bei Gruppen fortgeschrittener Schüler sei ein auseinanderdriften um einige 100 Meter normal. Dass die Verstorbene neben die Piste fahren würde, sei für den Skilehrer nicht vermeidbar gewesen. Gemäss einem medizinischen Gutachten des IRM wäre die Skischülerin höchstwahrscheinlich auch gestorben, wenn sie sofort gerettet worden wäre. Sie erlitt eine Zerreissung der Leber. Eine Sorgfaltspflichtverletzung konnte nicht festgestellt werden.

Das Strafverfahren gegen den Skilehrer wird deshalb eingestellt. Das Urteil ist interessant, weil das BGer einen realitätsnahen Entscheid fällt. Wäre dem Skilehrer ein strafrechtliches Verschulden vorgeworfen worden, hätte sich wohl in Zukunft niemand mehr getraut, mit einer Gruppe rebellischen Teenagern auf die Piste zu wagen.

Rechtsüberholen als mittelschwere Widerhandlung

BGE 1C_421/2019: Rechtsüberholen als mittelschwere Widerhandlung, Einheit der Rechtsordnung

Der Beschwerdeführer wurde für ein klassisches Rechtsüberholmanöver wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. In Annahme einer mittelschweren Widerhandlung verfügte die MFK SO einen Kaskadenentzug von vier Monaten. Der Beschwerdeführer verlangt die Annahme einer leichten Widerhandlung und insofern einen einmonatigen Ausweisentzug.

E. 2 zur Qualifikation der Widerhandlung: Die einfache Verkehrsregelverletzung umfasst sowohl die leichte, als auch die mittelschwere Widerhandlung. Eine mittelschwere Widerhandlung liegt vor, wenn nicht die privilegierenden Voraussetzungen der leichten bzw. die qualifizierenden Voraussetzungen der schweren Widerhandlung erfüllt sind. Eine Gefahr im Sinne des Massnahmerechts ist zu bejahen, wenn diese konkret oder erhöht abstrakt ist. Eine erhöhte abstrakte Gefahr besteht, wenn die Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung naheliegt, was anhand des Einzelfalles zu beurteilen ist (E. 2.1).

Das Verbot des Rechtsüberholens gilt nach wie vor als wichtige Vorschrift. Der Verkehrsvorgang birgt in sich per se eine erhöht abstrakte Gefährdung. Ausschwenken und wiedereinbiegen ist für den Überholvorgang nicht vorausgesetzt. Nicht verboten ist Rechtsüberholen im Kolonnenverkehr, sog. Rechtsvorfahren. Nach der Rechtsprechung setzt paralleler Kolonnenverkehr dichten Verkehr auf beiden Fahrspuren, somit ein längeres Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung bewegenden Fahrzeugreihen voraus. Kolonnenverkehr ist anhand der konkreten Verkehrssituation zu bestimmen und zu bejahen, wenn es auf der (linken und/oder mittleren) Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass die auf der Überhol- und der Normalspur gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind (E. 2.2).

E. 3 zum Verhältnis zw. Straf- und Verwaltungsrecht: Das Strassenverkehrsamt wird durch ein Strafurteil nicht gefunden. Nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung darf es aber keine widersprüchlichen Entscheide fällen. In der rechtlichen Würdigung ist die Behörde frei – auch bzgl. Verschulden (E. 3.1). Um es kurz zu machen: Die Vorinstanz ist zu Recht von einer mittelschweren Widerhandlung ausgegangen, weil Rechtsüberholen nach wie vor als relativ gefährlich beurteilt wird.

Da die MFK in der rechtlichen Würdigung eines Sachverhaltes grds. frei ist, hätte diese gut auch von einer schweren Widerhandlung ausgehen können und wäre wohl von den Gerichten geschützt worden. Unter diesen Umständen hätte sich der Beschwerdeführer die Kosten wohl sparen können.

Verweigerung von Drogenvortests nicht strafbar

BGE 6B_614/2019: Vereitelung (teilw. Gutgh. Beschwerde, zur amtl. Publikation vorgesehen)

Der Beschwerdeführer geriet im Kt. AG in Oftringen in eine Polizeikontrolle. Vor Ort verweigerte er sowohl einen Drugwipe-Schnelltest, als auch eine Blutprobe auf dem Polizeiposten, wofür er von den kantonalen Instanzen wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung von Fahrunfähigkeit verurteilt wurde.

E. 1 zu den Parteimeinungen: Der Beschwerdeführer bringt hervor, dass keinerlei Anzeichen für eine Fahrunfähigkeit bestanden und insofern auch kein Anfangsverdacht für die Anordnung der Drogentests. Die kantonalen Instanzen sind der Meinung, dass durchaus Anzeichen für eine Fahrunfähigkeit bestanden, i.e. auffällig langsames Fahren, Nervosität und zunehmendes Aufbrausen, wässrige Augen und zittrige Augenlieder sowie energisches Antworten.

E. 1.4ff. zur Vereitelung: Wer eine Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit vereitelt, wird nach Art. 91a SVG bestraft. Es ist ein Vorsatzdelikt, wobei Eventualvorsatz genügt. Atemalkoholproben sind gemäss Art. 55 Abs. 1 SVG ohne Verdacht zu jeder Zeit möglich. Nach Abs. 2 des vorgenannten Artikels sind weitere Vortests möglich, wenn die betroffene Person noch andere Anzeichen von Fahrunfähigkeit aufweist. Dazu kann die Polizei gemäss Art. 10 Abs. 2 SKV Vortests durchführen. Zur Durchführung von Vortests reichen bereits geringe Anzeichen von Fahrunfähigkeit, wie wässrige Augen oder blasser Teint. Das Ergebnis des Vortests kann dann zu einem hinreichenden Tatverdacht führen gemäss Art. 197 StPO. Die Einwände des Beschwerdeführers gehen also fehl, wenn er sagt, dass für den Vortest kein hinreichender Tatverdacht vorlag, denn dieser ist dafür gar nicht vorausgesetzt (E. 1.5.1).

Die Vereitelung kann durch Ausweichen (Flucht), durch Vereiteln (Nachtrunk) oder Widerstand erfolgen. Es ist ein Erfolgsdelikt. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn der Nachweis der Fahrunfähigkeit durch das Verhalten des Täters verunmöglicht wird. Kann die Fahrunfähigkeit später trotzdem bewiesen werden, liegt ein vollendeter Versuch vor. Ob das Verweigern eines Vortests bereits den Tatbestand erfüllen kann, ist in der Lehre umstritten. Gewissen Autoren stellen sich auf den Standpunkt, dass durch das Verhalten des Täters der Nachweis komplett verunmöglicht werden muss (E. 1.6.1). Obwohl nach negativem Vortest nach Art. 10 Abs. 4 SKV auf weitere Massnahmen verzichtet werden kann, sind die Vortests keine Voraussetzung für die Anordnung von strafprozessualen Zwangsmassnahmen. Auch bei negativem Vortest wäre die Anordnung einer Blutprobe möglich. Die Vortests sind in anderen Worten nicht beweiskräftig. Verweigert man einen Vortest, erfüllt man den Tatbestand von Art. 91a SVG nicht, da der Vortest Indikator, nicht aber ein Nachweis für die Fahrunfähigkeit ist (E. 1.6.2).

Die Feststellung von Anzeichen von Fahrunfähigkeit sind abhängig vom Einzelfall. Anzeichen können sein: Verursachen eines Unfalls, berauschter, müder, euphorischer, apathischer oder sonst auffälliger Zustand. Kenntnis von früherem Drogenkonsum reicht aber nicht für einen Vortest.

Der Beschwerdeführer verweigerte sowohl den Vortest, als auch die Blutprobe, wodurch der Nachweis der Fahrunfähigkeit endgültig verunmöglicht wurde. Der Tatbestand ist erfüllt.

E. 2 zur Strafzumessung: Gutgeheissen wird die Beschwerde in Bezug auf die Strafzumessung, weil die Vorinstanz fälschlicherweise von unechter Konkurrenz ausgeht. Die Verweigerung des Drugwipe-Tests erfüllt den objektiven Tatbestand von Art. 91a SVG eben nicht.

Akteneinsicht und Vollmacht

Quick and dirty: Zwei gutgeheissene Beschwerden im Strafprozessrecht.

BGE 1B_396/2019: Akteneinsichtsrecht im Strafverfahren (gutgh. Beschwerde)

Das BGer heisst eine Laienbeschwerde einer Beschwerdeführerin gut, die geltend macht, dass das Obergericht Kt. BE das rechtliche Gehör verletzt hat, indem ihr keine umfassende Akteneinsicht gewährt wurde. Konkret ging um die Möglichkeit auf eine neunzeilige Stellungnahme des Beschwerdegegners zu replizieren (E. 2.2).

Teil des rechtlichen Gehörs nach Art. 29 Abs. 2 BV bildet die Akteneinsicht. Das Recht darauf ergibt sich allein aus der Verfahrensbeteiligung und ist insoweit voraussetzungslos. Es ist mit anderen Worten nicht Sache des Gerichts, antizipierend darüber zu befinden, ob einem Rechtssuchenden die Akteneinsicht etwas nützt. Der Anspruch gilt nicht absolut und wird im Strafprozess durch Art. 101 Abs. 1 StPO eingeschränkt. Die Parteien können die Akten spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten einsehen (E. 2.3).

Die Vorinstanz hat das Akteneinsichtsgesuch zu Unrecht abgewiesen, weshalb die Beschwerde gutgeheissen wird.

BGE 6B_781/2019: Bevollmächtigung der Wahlverteidigung (gutgh. Beschwerde)

Ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen das BetmG und Geldwäscherei wurde gegen die Beschwerdeführerin eingestellt. Gegen diese Verfügung wurde Beschwerde erhoben, die abgewiesen wurde. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens wurden der Beschwerdeführerin auferlegt. Diese stellt sich auf den Standpunkt, dass sie den beschwerdeführenden Anwalt gar nie bevollmächtigt habe und von der Beschwerde gar nichts wusste.

Das Tätigwerden einer (Wahl)Verteidigung setzt gemäss Art. 129 Abs. 2 StPO eine schriftliche Vollmacht oder eine protokolierte Erklärung der beschuldigten Person voraus. Das Vorhandensein der Vollmacht ist Prozessvoraussetzung und von Amtes wegen zu prüfen (E. 3.1). Den Akten lässt sich i.c. allerdings keine Vollmacht entnehmen. Das Obergericht SH stellt sich auf den Standpunkt, dass eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht vorgelegen habe, was das BGer allerdings verneint. Das Obergericht ist insofern zu Unrecht auf die Beschwerde eingetreten und hätte vorerst die Vertretungsbefugnis abklären müssen (E. 3.3).

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Atemalkoholprobe bei der Strassenverkehrskontrolle

In diesem durchaus interessanten Entscheid geht es um die Modalitäten der Atemalkoholprobe. Beim Beschwerdegegner wurde bei einer Polizeikontrolle eine Atemalkoholprobe durchgeführt. Dieser ergab Werte von 2,09 und 2,03 Promille. Danach wurde im Einverständnis des Beschwerdegegners eine Blutprobe angeordnet, die noch höhere Werte ergab. Die Blutprobe war aber nicht verwertbar. Aus diesem Grund wurde der Beschwerdegegner vom Obergericht vom FiaZ freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft führt erfolgreich Beschwerde.

BGE 6B_1007/2018:

E. 1.1-3 zu den Parteimeinungen: Die Blutprobe ist unverwertbar. Strittig ist, ob das auch für die Atemalkoholprobe gilt. Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass die Polizei den Belehrungspflichten in Art. 13 SKV nicht nachgekommen ist, damit eine Gültigkeitsvorschrift verletzt wurde und die Atemalkoholprobe unverwertbar sei (E. 1.1). Die Oberstaatsanwaltschaft hingegen rügt, dass die Vorinstanz Art. 13 SKV falsch auslegt und fälschlicherweise als Gültigkeits-, und nicht als Ordnungsvorschrift qualifiziert (E. 1.2). Der Beschwerdegegner schliesst sich der Vorinstanz an. Er ist der Ansicht, dass Betroffene umfassend über Art. 13 Abs. 1 lit. a-c SKV belehrt werden müssen vor Abnahme der Atemalkoholprobe. Er betrachtet u.a. das nemo-tenetur-Prinzip als verletzt (E. 1.3).

E. 1.4 zur Meinung des BGers: Art. 55 Abs. 1 SVG stipuliert die Möglichkeit, Fahrzeugführer ohne Verdacht einer Atemalkoholprobe zu unterziehen. Die Einzelheiten der Kontrolle sind in Art. 10ff. SKV geregelt, Art. 13 SKV enthält die Pflichten der Polizei (E. 1.4.1). Das BGer schliesst sich im folgenden der Beschwerdeführerin an. Grundsätzlich müssen sich Fahrzeuglenker den Massnahmen zur Feststellung von Fahrunfähigkeit und damit auch Atemalkoholproben unterziehen. Erst wenn eine Person die Verweigerungsabsicht äussert, muss die Polizei auf die Folgen von Art. 13 Abs. 1 lit. a SKV hinweisen. Diesfalls kann der Fahrzeuglenker seine Haltung überdenken und sich evtl. doch noch für die weniger einschneidende (und weitaus billigere) Atemalkoholprobe entscheiden. Es ist nicht nötig, dass die polizeiliche Belehrung schon vor Beginn der Atemalkoholprobe überhaupt erfolgt (E. 1.4.2). Beweismittel wie Atemluft-, Blut- und Urinproben werden sodann nicht vom Verbot des Selbstbelastungszwanges erfasst (E. 1.4.3). Die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft wird gutgeheissen, weil der Vorentscheid keine Details darüber enthält, ob die Polizisten die Belehrungspflicht wahrgenommen haben.

Automatische Fahrzeugfahndung

BGE 6B_908/2018: Rechtswidrige Überwachungsanlage (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wird Fahren ohne Berechtigung vorgeworfen. Die Widerhandlungen wurde von einer Anlage zur „Automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung“, kurz AFV, festgehalten. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass es für die AFV keine gesetzliche Grundlage gibt, weshalb der Eingriff in sein Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung nach Art. 13 Abs. 2 BV nicht gerechtfertigt ist. Die durch die AFV erhobenen Beweise seien damit nach Art. 141 StPO nicht verwertbar. Das BGer heisst die Beschwerde gut.

Die AFV erfasst mittels Kamera die Kontrollschilder der vorbeifahrenden Fahrzeuge und gleicht diese mit anderen Datenbanken, z.B. Fahndungslisten, ab. Dadurch wird eine massenhafte und praktisch unbegrenzte Erhebung von Daten ermöglicht. Darüber freut sich natürlich die Polizei, der zunehmend gläserne Bürger eher nicht (E. 2.1). Die Vorinstanz war der Ansicht, dass die AFV durch das Polizeigesetz Kt. TG erlaubt ist und deren Daten deshalb als Beweise verwertbar (E 2.2).

Die Aufnahmen der AFV tangieren die Grundrechte auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV) und das Recht auf Privatsphäre (Art. 13 BV). Insb. das Letztere schützt die Bürger vor Missbrauch ihrer Daten, egal ob die Datenbearbeitung durch den Staat oder Private bearbeitet werden. Der Schutz erstreckt sich auch auf Daten, die im öffentlichen Bereich erhoben werden, also auf der Strasse (E. 3.1.1). Grundrechte können nach Art. 36 BV eingeschränkt werden. Das Legalitätsprinzip verlangt an einschränkende Normen zugunsten der Rechtssicherheit eine angemessene Bestimmtheit. Insb. im Polizeirecht entsteht dadurch ein Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Bürger nach klaren Normen und jenen der Polizei, die in der sich stets wandelnden Gesellschaft möglichst effektiv handeln können muss (E. 3.1.2).

Die AFV erfasst das Kontrollschild und damit die Identität des Halters, den Standort, die Fahrtrichtung und den Zeitpunkt der Fahrt sowie allfällige Beifahrer. Dies stelle noch keinen schweren Eingriff in die Grundrechte dar. Dass die massenhaft erhobenen Daten aber mit verschiedenen Datenbanken innert Sekundenbruchteilen abgeglichen werden, erhöht die Eingriffsintensität erheblich und geht damit über die bisherige polizeiliche Gefahrenabwehr hinaus. Mit den Daten können ohne weiteres Bewegungsprofile erstellt werden, wobei man durchaus von einem Überwachungsstaat sprechen kann. Im Kt. TG wurden von der AFV in den ersten Monaten 829’444 Kontrollschilder erfasst, wobei 3’262 Treffer resultierten. Nach Bereinigung ergaben sich unter dem Strich dann 166 Polizeiaktionen. Es liegt ein schwerer Eingriff in die Grundrechte vor (E. 3.2). Im folgenden kommt das BGer zum Schluss, dass das kantonale Polizeigesetz keine genügende gesetzliche Grundlage für den schweren Grundrechtseingriff bietet (E. 3.3.2).

Es stellt sich damit die Frage, ob die Aufnahmen der AFV trotzdem als Beweise verwendet werden dürfen. Die Aufnahmen erfolgen ohne Anfangsverdacht in der präventiven Kontrolltätigkeit der Polizei. Stellt die Polizei im Rahmen der präventiven Tätigkeit strafbare Handlungen fest, so beginnt sie zu ermitteln und sichert namentlich Spuren und Beweise (vgl. Art. 306 StPO). Die Aufnahmen der AFV gelten als sachliche Beweismittel (vgl. Art. 192 StPO). Auch wenn die Beweise in der präventiven und nicht in der repressiven Polizeitätigkeit erhoben wurden, finden die Regeln über die Beweisverwertung Anwendung, da die Strafbehörden sonst in der präventiven Tätigkeit ohne Einschränkung Beweise erheben könnten (E. 4.1).

Die Verwendung von rechtswidrig erlangten Beweisen ist gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO nur in schweren Fällen, also Verbrechen, möglich (E. 4.2). Die Aufzeichnungen der AFV waren mangels genügender gesetzlicher Grundlage illegal. Fahren ohne Berechtigung ist ein Vergehen und damit keine schwere Straftat. Die Aufnahmen wurden rechtswidrig als Beweise verwertet.

Das BGer heisst die Beschwerde gut. Eine korrekte gesetzliche Grundlage wird der Kt. TG wohl bald nachliefern. Auch wenn dann das ganze legal abläuft, wird der Kt. TG den faden Beigeschmack des „Überwachungskantons“ nicht los.