Ist eine Unfallmeldung ein Strafantrag?

BGE 6B_719/2018: Gültigkeit des Strafantrages bei fahrl. KV (gutgh. Beschwerde)

Im Oktober 2013 übersah der Beschwerdeführer beim Öffnen der Autotür eine von hinten nahende Velofahrerin, die deshalb stürzte und sich dabei leicht verletzte. Die kantonalen Strafbehörden verurteilten den Beschwerdeführer deshalb wegen fahrlässiger Körperverletzung. Der Beschwerdeführer allerdings stellt sich auf den Standpunkt, dass kein gültiger Strafantrag vorliegt. Die zu klärende Frage: Kann eine Unfallmeldung bei der Polizei zwecks Schadenregulierung implizit ein Strafantrag sein?

Eine Verurteilung nach Art. 125 StGB bedarf einem gültigen Strafantrag nach Art. 30 StGB. Die Geschädigte hat den Unfall bei der Polizei zwar angezeigt, ein Strafantrag wurde allerdings nicht protokolliert (E. 1.1). Die Geschädigte ging erst zur Polizei, nachdem sie vergeblich versucht hat, den Beschwerdeführer zwecks Regulierung ihres Sachschadens zu kontaktieren. Nach Ansicht der Vorinstanz habe sie mit der Anzeige aber auch implizit die Bestrafung des Beschwerdeführers gewollt, auch wenn kein Strafantrag protokolliert wurde. Die gegenteilige Annahme stelle nach der Vorinstanz überspitzter Formalismus dar (E.1.2).

Der Strafantrag kann gemäss Art. 304 StPO schriftlich eingereicht oder mündlich zu Protokoll gegeben werden. Damit wird sichergestellt, dass ein mündlicher Strafantrag ebenfalls in den Akten festgehalten wird, denn es ist Sache der Behörden, das Vorliegen eines rechtsgültigen Strafantrages zu beweisen (E. 1.4).

Das BGer resümiert, dass die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, wenn sie von einem gültigen Strafantrag ausgeht. Den Akten lässt sich nicht entnehmen, dass die Geschädigte je den Willen geäussert habe, einen Strafantrag stellen zu wollen. Aus dem Umstand allein, dass die Geschädigte sich zwecks Schadensregulierung an die Polizei gewendet hat, kann jedenfalls kein gültiger Strafantrag abgeleitet werden. Dies gilt selbst, wenn der zuständige Polizist die Geschädigte nicht auf ihr Antragsrecht hingewiesen und damit gegen allfällige Aufklärungspflichten verstossen hat.

Das BGer heisst die Beschwerde gut.

Länderliste des ASTRA

BGE 1C_135/2019: Darf das ASTRA eigtl. eine Länderliste führen für Ausländer, die keine Kontrollfahrt machen müssen, wenn sie den CH-Ausweis wollen?

Die Beschwerdeführerin wollte ihren serbischen Führerausweis in eine CH-Fahrerlaubnis umtauschen, wofür sie in einer Kontrollfahrt ihre Fahrkompetenz nachweisen musste, weil sie keine Fahrerlaubnis aus einem durch die Länderliste des ASTRA bevorzugten Landes verfügt. Da sie die Kontrollfahrt nicht bestand, wurde ihre Fahrberechtigung in der Schweiz aberkannt. Sie stellt sich nun auf den Standpunkt, dass das ASTRA eine solche Länderliste mangels gesetzlicher Befugnis gar nicht führen darf und dass sie durch die Liste diskriminiert wird.

E. 3 zur Subdelegation von Befugnissen: Aus direktdemokratischen Gründen sind gemäss Art. 164 BV alle wichtigen rechtssetzenden Bestimmungen in Form eines Bundesgesetzes zu erlassen. Wenn der Bundesrat eine ihm zustehende Befugnis an ein Departement weiterdelegiert, liegt eine Subdelegation vor, was gemäss Art. 48 RVOG grds. möglich ist. Das Bundesgericht setzt bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates, sondern beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus anderen Gründen gesetzes- oder verfassungswidrig ist (E. 3.2).

Art. 25. Abs. 2 SVG ermächtigt den Bundesrat für ausländische Fahrzeugführer ergänzende Vorschriften zu erlassen, was er in Art. 44 VZV auch gemacht hat. Ausländische Fahrzeugführer müssen für die Erlangung des CH-Ausweises grds. eine Kontrollfahrt bestehen. Art. 150 Abs. 5 lit. e VZV enthält nun die Subdelegation, mit welcher der Bundesrat das ASTRA zum Führen der Länderliste ermächtigt. Es liegt insofern keine Verletzung des Legalitätsprinzips vor (E. 3.3f.).

E. 4 zur Diskriminierung: Ein solche liegt i.c. nicht vor, weil die Länderliste nicht an das Merkmal der Staatszugehörigkeit anknüpft, sondern daran, in welchem Land die ausländische und umzutauschende Fahrerlaubnis ausgestellt wurde. So käme z.B. eine Serbin mit deutscher Fahrerlaubnis ohne Weiteres in den Genuss der Vorteile der Länderliste. Eine Kontrollfahrt wäre dann nicht nötig.

Zustellfiktion im Strafverfahren

BGE 6B_674/2019: Zustellfiktion im Strafverfahren (gutgh. Beschwerde)

Dem Beschwerdeführer wurde wegen Fahrens ohne Kontrollschilder, Haftpflichtversicherung sowie Schildermissbrauchs bestraft. Die Widerhandlungen erfolgten im Dezember 2017. Ebenso wurde ihm eine Zusatzstrafe aus einem früheren Urteil auferlegt. Der Strafbefehl wurde ihm per Einschreiben im November 2018 zugestellt, abgeholt wurde der Urteilvorschlag aber nicht. Gute zwei Monate später erhebt der Beschwerdeführer Einsprache, auf welche die kantonalen Instanzen nicht eingehen. Der Beschwerdeführer reüssiert vor Bundesgericht:

Die Vorinstanz stellt sich auf die Zustellfiktion in Art 85 Abs. 4 StPO (E. 1.2). Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er in den Ferien war im Zeitpunkt der Zustellung, was nicht bestritten ist (E. 1.3). Bei eingeschriebenen Sendungen besteht die widerlegbare Vermutung, dass die Post alles richtig macht. Im Rahmen einer Beweislastumkehr kann die betroffene Person das Gegenteil beweisen. Vorliegend waren aber Zustellfehler nicht behauptet (E. 1.4.1). Die Zustellfiktion gilt nur dann, wenn man mit behördlicher Post rechnen musste. Vom Bürger darf erwartet werden, dass er sich in Kenntnis eines Strafverfahrens um seine Post kümmert, auch wenn er abwesend ist. Der polizeiliche Hinweis auf eine Strafanzeige genügt zur Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses, womit die betroffene Person mit einer Zustellung von behördlichen Schreiben grds. rechnen muss (E 1.4.2).

Diese Obliegenheit dauert aber nicht unbeschränkt! Vertretbar ist eine Dauer von etwa einem Jahr, in welchem mit behördlicher Post gerechnet werden muss, danach fällt diese bürgerliche Aufmerksamkeitspflicht nach Treu und Glauben aber dahin. Eine (Ferien)Abwesenheit von ein paar Wochen kann dem Bürger dann nicht mehr entgegengehalten werden. Vorliegend fand der letzte und einzige Kontakt mit den Strafbehörden vor elf Monaten und anlässlich der Polizeikontrolle statt. Andere Verfahrenshandlungen, z.B. Briefe oder Einvernahmen, gab es nicht. Somit musste der Beschwerdeführer nicht mehr mit einer Zustellung des Strafbefehls rechnen. Die Zustellfiktion greift nicht, die Beschwerde wird gutgeheissen.

Tja, trödeln die Behörden, lacht der Bürger.

Schwere Widerhandlung trotz Übertretungsbusse

BGE 1C_453/2018: Unfall mit ausgefahrenem Kran, Bindungswirkung, schwere Widerhandlung (Rep)

Der Beschwerdeführer lenkte einen Sattelschlepper mit Anhänger. Auf dem Anhänger transportierte er einen Teleskoplader. Anlässlich der Fahrt kollidierte der ausgefahrene Arm des Laders mit einer Fussgängerüberführung, herabfallende Holzteile beschädigten ein Auto, dessen Fahrerin leicht verletzt wurde. Im Strafverfahren wurde er deswegen nach Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG mit Busse bestraft und nicht etwa gemäss Art. 93 Abs. 1 SVG, wo zumindest bei vorsätzlicher Begehung auch eine Geldstrafe möglich wäre und explizit eine Unfallgefahr vorausgesetzt ist. Das Strassenverkehrsamt AG geht von einer schweren Widerhandlung aus und ordnet einen 12-monatigen Kaskadenentzug an, gegen welchen sich der Beschwerdeführer wehrt.

E. 2 zur Bindungswirkung des Strafurteils: Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass er wegen einer Übertretung gebüsst wurde, weshalb er aufgrund der Einheit der Rechtsordnung wegen einer mittelschweren Widerhandlung sanktioniert werden sollte. Im Administraivverfahren ist das Strassenverkehrsamt nicht an das Strafurteil gebunden, widersprüchliche Entscheide gilt es allerdings wegen dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung zu vermeiden (E. 2.1). Da der Beschwerdeführer allerdings nur polizeilich einvernommen wurde, war die Vorinstanz nicht an Tatsachen gebunden, die dem Strafrichter besser bekannt warten. Sie durfte den Sachverhalt rechtlich frei würdigen.

E. 3 zur schweren Widerhandlung: Die schwere Widerhandlung setzt ein schweres Verschulden und eine ernstliche Gefahr voraus. Wegen dem ausgefahrenen Teleskoparm wurde die Höchsthöhe von 4m um 35.5% überschritten. Unbestritten handelt es sich dabei um eine ernstliche Gefahr (E. 3.2). Bestritten ist hingegen ein rücksichtsloses bzw. grobfahrlässiges Verhalten vom Beschwerdeführer. Es könne jedem mal passieren, dass er vergisst, die Ladung zu kontrollieren. Gemäss Art. 57 Abs. 1 VRV sind Ladung und Fahrzeug vor Abfahrt auf den vorschriftsgemässen Zustand zu prüfen. Insb. Inhaber der Fahrberechtigungen der 2. Gruppe handeln grobfahrlässig, wenn sie Ihre Ladung nicht prüfen, zumal aufgrund der ernstlichen Gefahr ohne Gegenindizien grds. auf ein grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen ist. Der Tatbestand ist hier mit jenem der groben Verkehrsregelverletzung deckungsgleich.

Trotz Übertretungsbusse ist also die Annahme einer schweren Widerhandlung korrekt. Der Entscheid zeigt die Freiheit der Strassenverkehrsämter bei der rechtlichen Würdigung gut auf.

Vereitelung und Beschleunigungsgebot

Ein guter Entscheid zur Vereitelung, der die bisherige Rechtsprechung exzellent zusammenfasst. Gutgeheissen wird die Beschwerde teilweise, weil das Strafverfahren zu lange dauerte. Der Beschwerdeführer streifte auf einem Parkplatz ein anderes Auto, unterliess die Meldung an die Geschädigte oder die Polizei und wehrte sich dann gegen die polizeiliche Atemalkoholprobe. Es musste ein Blutprobe gemacht werden.

BGE 6B_441/2019: Vereitelung einer Massnahme, Verfahrensbeschleunigung (Rep; teilw. ggh. Beschwerde)

E. 2 zum Vereiteln: Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass der Tatbestand des Vereitelns nicht erfüllt sei. Wer sich nach einem Unfall pflichtwidrig verhält, erfüllt den Tatbestand der Vereitelung, wenn

  1. die betroffene Person zur Meldung gemäss Art. 51 SVG verpflichtet ist,
  2. die Meldepflicht der Abklärung des Unfalles und auch der Ermittlung des Zustands der betroffenen Person dient,
  3. die Benachrichtigung der Polizei überhaupt möglich war,
  4. und wenn den Umständen nach mit einer Blut- bzw. Atemalkoholprobe zu rechnen war.

Seit der Einführung der Beweissicheren Atemalkoholprobe muss grds. nach jedem Unfall mit einer Alkoholkontrolle gerechnet werden. Subjektiv ist Vorsatz erforderlich, Eventualvorsatz genügt. Art. 55 SVG ermächtigt die Polizei zur Durchführung von Alkoholkontrollen ohne Verdacht oder bei Verkehrsunfällen. In der Praxis ist die Atemalkoholprobe bei Unfällen Standard (E.2.1).

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er die Kollision verursacht hat. Er behauptet auch nicht, dass er versucht hat, die Polizei zu avisieren. Auch bringt er nicht vor, er habe die Kollision nicht bemerkt. Es entlastet ihn auch nicht, dass er sein Auto nach der Kollision stehen liess und zurück ins Restaurant ging, wo sich auch die Geschädigte aufhielt. Er hätte diese ja einfach ausfindig machen und seinen Pflichten nachkommen können. Nach dem Feierabend und seinen Genussfreuden muss halt einfach mit einer Alkoholkontrolle gerechnet werden, weshalb der Beschwerdeführer im Restaurant nicht hätte weitersauffen dürfen.

E. 3 zum Beschleunigungsgebot: Nach dem in Art. 5 StPO stipulierten Beschleunigungsgebot müssen die Strafbehörden zügig arbeiten. Als krasse Zeitlücke, welche eine Sanktion aufdrängt, gilt etwa eine Untätigkeit von 13 oder 14 Monaten im Stadium der Untersuchung, eine Frist von vier Jahren für den Entscheid über eine Beschwerde gegen eine Anklagehandlung oder eine Frist von zehn oder elfeinhalb Monaten für die Weiterleitung eines Falles an die Beschwerdeinstanz. Wird eine Verletzung des Beschleunigungsgebots festgestellt, ist diesem Umstand angemessen Rechnung zu tragen. Als Sanktionen fallen in Betracht die Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung, die Schuldigsprechung unter gleichzeitigem Strafverzicht oder in extremen Fällen – als ultima ratio – die Einstellung des Verfahrens. Nach ständiger Rechtsprechung ist das Gericht verpflichtet, die Verletzung des Beschleunigungsgebotes im Dispositiv seines Urteils ausdrücklich festzuhalten und gegebenenfalls darzulegen, in welchem Ausmass es diesen Umstand berücksichtigt hat (E. 3.1).

Vorliegend ruhte das Einspracheverfahren grundlos während eineinhalb Jahren. Auch das kantonale Verfahren ist mit vier Jahren zu lange gegangen. Die Vorinstanz verletzt ihr Ermessen, wenn sie dafür eine Strafreduktion von nur 10 Tagessätzen gewährt. Die Beschwerde wird in diesem Punkt gutgeheissen.

Gefährliches Überholen

BGE 6B_462/2019: Gefährliches Überholmanöver

In diesem Fall hat sich die Staatsanwaltschaft erfolgreich mit Beschwerde gegen eine zu milde Bestrafung gewehrt.

Der Beschwerdegegner wollte nach dem Hellwald bei Haslen einen vorfahrenden Renault überholen. Bereits auf der Gegenfahrbahn, kam ihm ein Jeep entgegen, sodass der Beschwerdegegner stark abbremste und wieder hinter den Renault auf seine Fahrspur zurückkehrte. Der Jeep seinerseits wich nach rechts aus und fuhr durch einen Zaun auf eine Wiese. Die STA verurteilte den Beschwerdegegner wegen SVG 90 II, wogegen sich der Beschwerdegegner erfolgreich vor den kantonalen Instanzen wehrte, da die subjektive Komponente der groben Verkehrsregelverletzung nicht erfüllt gewesen sei. Das BGer hingegen heisst die Beschwerde der STA gut:

E. 1.1.1 zur groben Verkehrsregelverletzung:

SVG 90 II setzt objektiv voraus, dass der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit dadurch ernstlich gefährdet wird. Dazu reicht eine erhöht abstrakte Gefährdung. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrsregelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, mind. grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit kommt aber auch in Betracht, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht zieht. Die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung setzt in diesem Fall voraus, dass das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht. Rücksichtslos ist unter anderem ein bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Je schwerer die Verkehrsregelverletzung objektiv wiegt, desto eher wird Rücksichtslosigkeit subjektiv zu bejahen sein, sofern keine besonderen Gegenindizien vorliegen.

E. 1.1.2 zum Überholen:

Überholen auf Strassen mit Gegenverkehr gehört zu den gefährlichsten Fahrmanövern überhaupt. Nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem Zeitpunkt zurücklegt, an dem der Überholende die linke Strassenseite freigegeben haben wird.

E. 1.2ff. zur Subsumption:

Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Beschwerdegegner nicht rücksichtslos handelte, weil er sein Überholmanöver abbrach, als er das entgegenkommende Fahrzeug sah. Die Vorinstanz bejaht das Vorliegen der objektiven, nicht aber der subjektiven Komponente der groben Verkehrsregelverletzung. Dem widerspricht das BGer ziemlich deutlich. Liegt objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung vor, ist diese grds. auch subjektiv erfüllt. Gegenindizien liegen gerade keine vor. Das Verhalten des Beschwerdegegners muss nicht erst dann berücksichtigt werden, als er das entgegenkommende Fahrzeug sah, sondern als er zum Überholen ansetzte, obwohl er wegen einer Kurve gar nicht sehen konnte, ob er das Manöver gefahrlos zu Ende führen konnte. Dies erachtet das BGer (zu Recht) als krass sorgfaltspflichtwidrig und rücksichtslos.

Die Beschwerde der STA wird gutgeheissen.

Strafzumessung bei Geschwindigkeitsüberschreitung

BGE 6B_510/2019: (teilw. Gutgh. Beschwerde)

Der Entscheid ist interessant, weil er sich auch zu den Strafmassempfehlungen der SSK äussert, die wohl durchs Band von allen Juristen verwendet werden.

Der Beschwerdeführer überschritt die Geschwindigkeit auf einer Autostrasse um 40km/h. Die Staatsanwaltschaft bestrafte ihn mit 60 TS, was auch den Empfehlungen der SSK entspricht. Das erstinstanzliche Gericht reduzierte die Geldstrafe auf 20 TS. Die Staatsanwaltschaft verlangte daraufhin mit Berufung die Bestrafung mit 60 TS, das Obergericht Kt. AG bestrafte sogar mit 100 TS.

Zur groben Verkehrsregelverletzung: Der Beschwerdeführer wehrt sich zu Recht nicht gegen die Verurteilung nach Art. 90 Abs. 2 SVG. Nach der gefestigten Rechtsprechung zum Schematismus liegt i.c. eine grobe Verkehrsregelverletzung vor (E. 3.2). Die Unterscheidung zwischen grobfahrlässiger und eventualvorsätzlicher Tatbegehung kann durchaus eine Auswirkung auf das Strafmass haben (E. 3.3). Die Vorinstanz durfte i.c. willkürfrei von einer eventualvorsätzlichen Tatbegehung ausgehen (E. 3.4-6).

Zum Strafmass: Der Beschwereführer ist der Ansicht, dass die Vorinstanz ihr Ermessen überschritt, indem Sie eine Geldstrafe von 100 TS ansetzt. Es liegt im Ermessen des Sachgerichts, in welchem Umfang es die verschiedenen Strafzumessungsfaktoren berücksichtigt. Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur in die Strafzumessung ein, wenn die Vorinstanz den gesetzlichen Strafrahmen über- oder unterschritten hat, wenn sie von rechtlich nicht massgebenden Kriterien ausgegangen ist oder wesentliche Gesichtspunkte ausser Acht gelassen beziehungsweise in Überschreitung oder Missbrauch ihres Ermessens falsch gewichtet hat (E. 4.2). Die SSK empfiehlt bei der vorliegenden Geschwindigkeitsüberschreitung ein Strafmass von 60 TS. Die Empfehlungen haben Richtlinienfunktion und dienen dem Gericht als Orientierungshilfe, ohne es dabei zu binden (E. 4.3). Die Vorinstanz bestraft ohne weitere Begründung mit 100 TS und einer Einsatzstrafe von 120 Tagen. Die Strafe ist doppelt so hoch, wie die Empfehlung gemäss SSK und der Antrag der Staatsanwaltschaft. Dadurch verletzt das Obergericht Bundesrecht bzw. Art. 47 StGB, insb. weil bei Geschwindigkeitsüberschreitungen ein grosses Interesse an einer rechtsgleichen Behandlung besteht (E. 4.4).

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

Einhaltung von Rechtsmittelfristen im Ausland

BGE 6B_315/2019 (gutgh. Beschwerde, amtl. Publ.)

Die STA Zürich-Limmat stellte ein Strafverfahren wegen Diebstahl gegenüber dem polnischen Beschwerdeführer ein und sendete diesem die Einstellungsverfügung. Wegen den Kostenfolgen erhob dieser Beschwerde beim Obergericht. Dieses war der Meinung, dass die Beschwerde verspätet sei. Der Beschwerdeführer erhielt die Einstellungsverfügung am 18.12.2018. Neun Tage später übergab er seine Beschwerde der polnischen Post. Bei der schweizerischen ging die Beschwerde allerdings erst am 2.1.2019 ein, nach Meinung des Obergerichts verspätet. Das BGer korrigiert:

E. 1. Zur Einhaltung der Frist:

Die Beschwerdefrist beträgt gemäss Art. 396 Abs. 1 StPO 10 Tage. Die Frist gilt als eingehalten, wenn die Eingabe gemäss Art. 91 Abs. 2 StPO bei der Strafbehörde, zu Handen der Schweizerischen Post oder einer konsularischen oder diplomatischen Vertretung übergeben wird. Die Rechtsmittelbelehrung der Einstellungsverfügung enthielt keinen Hinweis darauf, wo die Beschwerde eingereicht werden muss.

Im Sozialversicherungsrecht muss der im Ausland wohnhafte Anspruchsteller ausdrücklich auf Art. 21 Abs. 1 VwVG hingewiesen werden. Fehlt der Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung und würde danach dem Rechtsmittelerhebenden vorgeworfen, er habe eine Frist nicht eingehalten, würde dies gegen den Grundsatz der Fairness und der Waffengleichheit verstossen. Für die StPO spricht sich die Lehre für eine ähnliche Pflicht der ergänzten Rechtsmittelbelehrung aus (E. 1.4.2).

Das Bundesgericht stimmt dem zu. Es seien keine Gründe ersichtlich, wieso diese im Sozialversicherungsrecht entwickelte Rechtsprechung nicht auch im Strafverfahren anwendbar sei. Die Rechtsmittelbelehrung soll es den Parteien ermöglich, ihre Rechtsmittel effektiv zu erheben. Dies ist insb. wegen den Postdiensten im Ausland nicht immer möglich, weshalb die betroffenen Personen ausdrücklich auf Art. 91 Abs. 2 StPO in der Rechtsmittelbelehrung hinzuweisen sind (E. 1.4.3).

Vorliegend fehlte der Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung. Art. 91 Abs. 2 StPO kann dem Beschwerdeführer nicht entgegengehalten werden. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

Bemessung von Strafbefehlsgebühren

BGE 6B_253/2019: Strafbefehlsgebühren

Der Beschwerdeführer überschritt ausserorts die Geschwindigkeit um 32km/h, wofür mit einer bedingten Geldstrafe und einer Verbindungsbusse von CHF 1’100.00 bestraft wurde. Zudem wurden ihm CHF 928.00 an Verfahrenskosten auferlegt, Strafbefehlsgebühr CHF 900.00, Polizeikosten CHF 28.00. Nach Erhebung der Einsprache bzgl. Strafbefehlskosten senkte das Gericht erster Instanz die Gebühren auf CHF 600.00. Der Beschwerdeführer verlangt vor BGer, dass die Kosten auf CHF 300.00 festgesetzt werden.

E. 3 zur Strafbefehlsgebühr:

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass insb. bei Geschwindigkeitsüberschreitungen die Fallbearbeitung nach schematischen Grundsätzen erfolgt, insofern nicht besonders komplex sei und deshalb eine Strafbefehlsgebühr von CHF 300.00 angemessen sei. Zudem moniert er, dass der Kt. AG keine Pauschalgebühren nach Art. 424 Abs. 2 StPO festgelegt hat (E. 3.1). Angefochten ist das aargauische Verfahrenskostendekret. Kantonales Recht überprüft das BGer nur auf Willkür und die verfassungsmässigen Rechte. Zudem haben die kantonalen Behörden einen grossen Spielraum beim Festsetzen von Gebühren (E. 3.2). Die beschuldigte Person muss die Verfahrenskosten tragen, wenn sie verurteilt wird. Die StPO enthält allerdings keine Regeln über die Bemessung von staatlichem Aufwand. Gemäss Verfahrenskostendekret können im Strafbefehlsverfahren Gebühren von CHF 200.00 – 10’000.00 verlangt werden (E. 3.3).

Strafbefehlskosten sind Kausalabgaben, die dem Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip unterliegen. Erfahrungsgemäss decken die von den Gerichten erhobenen Gebühren den staatlichen Aufwand bei Weitem nicht. Nach dem Äquivalenzprinzip darf eine Gebühr nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis stehen zur objektiven Bedeutung des hoheitlichen Akts, für den sie erhoben wird. Der „finanzielle Wert“ eines Strafverfahrens kann nur grob geschätzt werden. Der Aufwand für ein einzelnes Strafverfahren muss anhand des Gesamtaufwandes der Strafbehörden berechnet werden. So sollen alle Personen gleich behandelt werden, die gleichviel staatlichen Aufwand generieren (E. 3.4).

Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass nur der zeitliche Aufwand für die Gebühren zu beachten ist. Die STA hingegen ist der Meinung, dass auch das Strafmass bei der Gebührenberechnung berücksichtigt werden darf. Tatschwere und Verschulden können als alternative Bemessungsweise für die Kostenauflage herangezogen werden. War der Aufwand für die Behörden hoch, das Verschulden und/oder die Tatschwere klein, ist eine unterproportionale Gebühr angezeigt und vice versa. Eine Gebühr darf aber keinen pönalen Charakter haben (E. 3.5). Die Gebühren orientieren sich also am Arbeitsaufwand einerseits (quantitativer Aspekt) und dem Strafmass bzw. der Bedeutung des Verfahrens (qualitativer Aspekt; E. 3.6). Grds. ist das Strafmass also als korrektives Kriterium heranzuziehen, bei schematisch beurteilter Massendelinquenz, i.e. Geschwindigkeitsüberschreitungen, wird das Strafmass gar zum Leitkriterium. Eine schematische Erhebung von Schreibgebühren ist insofern nicht bundesrechtswidrig (E. 3.7).

Im Kt. AG werden die Kosten der Verfahren empirisch ausgewertet, woraus wiederum die Durchschnittskosten für bestimmte typische Verfahren errechnet werden. Da die effektiven Verfahrenskosten grds. nicht errechnet werden, macht die Erhebung der Gebühren aufgrund des Strafmasses Sinn. Freilich wird bei Geschwindigkeits-überschreitungen nicht der gesamte Gebührenrahmen bis CHF 10’000.00 ausgenutzt. Gemäss kantonaler Weisung liegt die Obergrenze bei CHF 1’700.00. Die vorliegend strittigen Verfahrenskosten erscheinen nach dem BGer bei einer Strafe von 20 Tagessätzen als vergleichsweise hoch. Da allerdings eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist die Strafbefehlsgebühr nicht missbräuchlich (E. 3.8). Zum tatsächlichen behördlichen Aufwand äussert sich das BGer nur kurz, weil sich die Gebühren i.c. ja am Strafmass zu orientieren haben (E. 3.9).

Mofas und Saufen

BGE 6B_451/2019:

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen im Februar und Juni 2018 diverse Widerhandlungen mit einem Mofa gemacht zu haben: Führen eines Motorfahrzeug mit qualifizierter BAK (1.2mg/L; SVG 91 Abs. 2), obwohl seine Fahrerlaubnis entzogen war (SVG 95 Abs. 1). Zudem war das Fahrzeug nicht eingelöst und ohne Haftpflichtversicherung (SVG 96 Abs. 1 und 2) und es wurden missbräuchlich Schilder eines anderen Fahrzeuges verwendet und am Mofa angebracht (SVG 97 Abs. 1). Das Strafregister des Beschwerdeführers enthält zwischen 2011 und Juli 2018 vierzehn Einträge bzgl. SVG-Widerhandlungen. Fünfzehn Administrativmassnahmen wurden in dieser Zeit ausgesprochen.

Vor der ersten Instanz wurde der Beschwerdeführer grösstenteils freigesprochen, die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde gutgeheissen. Der Beschwerdeführer verlangt vor BGer die Aufhebung des Berufungsentscheides und Gutheissung des erstinstanzlichen Urteils. Vorliegend ist streitig, ob Mofafahrer nach Fahren mit qualifizierter BAK gemäss SVG 91 Abs. 1 oder Abs. 2 zu bestrafen sind bzw. ob Mofas zu den motorlosen Fahrzeugen zu zählen sind.

E. 1 zur Qualifikation des Mofa und FiaZ:

Nach Art. 31 Abs. 2 SVG darf man nicht Autofahren, wenn man wegen Alkohol oder sonstigen Genussmittel fahrunfähig ist. Bei der Bestrafung wird unterschieden, ob man mit qualifizierter BAK ein motorloses Fahrzeug führt, oder eben ein motorisiertes. Erstere Widerhandlung wird als Übertretung, letztere als Vergehen geahndet (E. 1.2). Das BGer muss also herausfinden, ob das Mofa ein motorloses Fahrzeug ist oder nicht.

Art. 7 Abs. 1 SVG stipuliert, dass Motorfahrzeuge Fahrzeuge sind, die einen eigenen Antrieb haben und sich auf dem Boden unabhängig von Schienen fortbewegen. Art. 18 VTS wiederum enthält eine Legaldefinition der „Motorfahrräder“. Die Mofas dürfen höchstens 30km/h fahren, haben höchstens eine Leistung von 1kW und einen Verbrennungsmotor von höchstens 50cm3. Die Zulassungsmodalitäten für Mofas sind in Art. 90 VZV geregelt. Gemäss Art. 42 Abs. 4 VRV gelten für Mofas die gleichen Vorschriften wie für Radfahrer (E. 1.3.1). In der älteren Rechtsprechung aus den 1960er wurde das Mofa zu den motorlosen Fahrzeugen gezählt. Allerdings hat das BGer das Mofafahren mit qualifizierter BAK aus administrativrechtlicher Sicht in BGE 1C_766/2013 als schwere und nicht mittelschwere Widerhandlung qualifiziert (E. 1.3.2). Die Lehre wiederum zählt das Mofa eher zu den motorisierten Fahrzeugen (E. 1.3.3). Unter Berücksichtigung der neueren Gesetzgebung eruiert das BGer, dass das Mofa nicht generell zu den Fahrrädern gezählt werden kann, auch wenn für die Mofafahrer grds. die Regeln für Velofahrer gelten (E. 1.3.4). Daraus folgt, dass die Mofas nicht zu den motorlosen Fahrzeugen gezählt werden können. Die Verurteilung des Mofafahrers nach Art. 91 Abs. 2 SVG ist korrekt.

E. 2 zum Fahren trotz Entzug der Fahrberechtigung:

Aufgrund den gleichen Überlegungen ist auch die Verurteilung gemäss Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG (Vergehen) und nicht Art. 95 Abs. 4 lit. a SVG (Übertretung) korrekt, zumal man für das Mofafahren eine Fahrberechtigung der Kat. M benötigt (E. 2).

E. 3 zum Fahren ohne Haftpflichtversicherung und missbräuchliche Verwendung von Kontrollschildern:

Bzgl. Fahren ohne Zulassung und Haftpflichtversicherung sowie dem missbräuchlichen Verwenden von Schildern stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass dies gemäss Art. 145 VZV als Busse strafbar ist, die Vorinstanz hingegen erachtet die Tatbestände von Art. 96 Abs. 1 lit. a und 2 SVG sowie Art. 97 Abs. 1 lit. a SVG als erfüllt. Das BGer differenziert:

Bzgl. Fahren ohne Nummernschilder und ohne Haftpflichtversicherung geht Art. 145 VZV als lex specialis Art. 96 SVG vor. Das BGer heisst deshalb die Beschwerde in diesem Punkt gut, der Beschwerdeführer wurde zu Unrecht mit einem Vergehen bestraft. Korrekt wäre eine Busse nach Art. 145 Abs. 3 und 4 VZV (E. 3.3.1).

Die missbräuchliche Verwendung von Nummernschildern wiederum wird von der lex specialis in Art. 145 VZV nicht erfasst. Wer also am Mofa Nummernschilder anbringt, die nicht zu diesem Fahrzeug gehören, wird zu Recht nach Art. 97 Abs. 1 lit. a SVG bestraft (E. 3.3.2).

Im Fazit kann gesagt werden, dass Mofafahrer heute gleich streng behandelt werden wie die Autofahrer, dass also auch hier rechtspolitisch eine Verschärfung stattfindet. Nur beim Fahren ohne Zulassung und ohne Haftpflichtversicherung gibt es eine mildere lex specialis in Art. 145 VZV.